# taz.de -- Kultur und Migration: „Es geht um Menschlichkeit“ | |
> „La Nomad House“ gastiert in Potsdam. Das Theaterprojekt sei ein | |
> Statement gegen die EU-Migrationspolitik, sagt Harald Glöde von | |
> „borderline-europe“. | |
Bild: Zeltsiedlung des reisenden Kulturprojekts „La Nomad House“ | |
taz: Herr Glöde, im Neuen Lustgarten in Potsdam gastiert bis zum 11. Mai | |
„La Nomad House“. Was ist das? | |
Harald Glöde: Das Projekt bezeichnet sich als transnationales, reisendes | |
Kulturzentrum. In einer Zeltsiedlung wird ein Theaterstück aufgeführt, eine | |
Neuinterpretation des „Sommernachtstraums“. Es gibt außerdem eine | |
Ausstellung, eine Konferenz und einen „Markt der Möglichkeiten“. | |
Wer macht „Nomad House“? | |
Der Impuls ging aus von einem Theaterensemble aus Brüssel: Der „Compagnie | |
des nouveaux disparus“, also „Companie der neuen Verschwundenen“. Die | |
Gruppe hat von jeher das Thema Migration und die Verschwundenen im | |
Mittelmeer und in der Sahara bearbeitet, der künstlerische Leiter kommt aus | |
Marokko. In dem Namen klingt ja auch das nomadische Leben mit, in dem | |
Bewegungsfreiheit eine Selbstverständlichkeit ist. | |
Was machen Sie mit „borderline-europe“ bei einem Theaterprojekt? | |
Wir haben zusammen mit einer Fotojournalistin, die das Projekt in den | |
vergangenen neun Monaten begleitet hat, eine Ausstellung organisiert. Die | |
Fotografin hat die Theaterproben in den beteiligten Städten festgehalten, | |
aber auch jeweils vor Ort die Situation der Geflüchteten dokumentiert. | |
Diese Ausstellung begleitet „La Nomad House“ die ganze Sommertour durch | |
Europa. | |
Sie haben das Stück in Brüssel bei der Uraufführung gesehen. Wie war das? | |
Das Ganze verströmt sehr viel Energie, es gibt Artistik, Musik, das ist ein | |
Spektakel! Inhaltlich geht es natürlich um Migration, um Solidarität und | |
Menschlichkeit. Das Stück ist auf Französisch, was es für mich nicht | |
einfach zu verstehen machte – aber in Potsdam gibt es Übertitel. | |
Was passiert auf „der Konferenz“ im Nomad House? | |
Die Konferenzen werden in den jeweiligen Ländern sehr unterschiedlich sein. | |
Für Potsdam haben wir uns das Thema GEAS … | |
… das „Gemeinsame Europäische Asylsystem“ … | |
… im Kontext der EU-Wahl ausgesucht. Es ist ja zu befürchten, dass das | |
Migrationsthema bei dieser Wahl wieder eine sehr populistische, Angst | |
machende Rolle spielen wird. Gleichzeitig hat es kürzlich diese | |
Verabschiedung von GEAS im EU-Parlament gegeben, die ja auch zum Ziel | |
hatte, etwas „Vorzeigbares“ für die Wahlen zu haben. | |
Für die „besorgten“, rechten Bürger? | |
Genau. Ich glaube aber, die wenigsten Menschen wissen, was GEAS wirklich | |
bedeutet und welche Konsequenzen es haben wird. Darüber wollen wir | |
informieren und den zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen GEAS von Pro | |
Asyl und anderen, den es ja massiv gegeben hat, nochmal zum Thema machen. | |
Europa hatte mal das Mantra vom „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des | |
Rechts“ – aber darauf bezieht sich heute kaum noch jemand. Daran wollen wir | |
erinnern: wie die Verlogenheit der europäischen Politik von außen, von den | |
Betroffenen wahrgenommen wird. | |
Was erwarten Sie von der Europawahl? | |
Wir haben das Dilemma, dass die meisten Parteien dem rechten Rand | |
hinterherhecheln und man eigentlich nicht recht weiß, wen man wählen kann. | |
Ein Theaterprojekt ist nur ein ganz kleiner Versuch, sich dem | |
entgegenzustemmen. Andererseits gab es erst kürzlich ein Beispiel dafür, | |
dass Kunst durchaus etwas verändern kann. | |
Nämlich? | |
Der Film „The Green Border“ über die belarussisch-polnische Grenze und den | |
verborgenen Krieg gegen Flüchtlinge hatte wohl einigen Einfluss auf die | |
letzte Wahl in Polen. Die Regisseurin Agnieszka Holland hat auf einer Gala | |
gesagt, der Film, der drei, vier Monate vor den Wahlen ins Kino kam, sei | |
der meist gesehene seit Jahren in Polen gewesen. Es gab sehr viele | |
Reaktionen. Sie wurde als „Vaterlandsverräterin“ beschimpft, musste | |
Polizeischutz bekommen. Der Film hat offensichtlich in Polen einiges | |
ausgelöst. | |
Wie erklären Sie sich das? | |
Eigentlich ist es ein Dokumentarfilm. Er beschreibt authentisch die | |
Situation an der Grenze, wie übel den Flüchtlingen mitgespielt wird. Dass | |
es aber auch Menschen gibt, die ihren humanitären Background nicht ganz | |
verloren haben. Der Film wirkt auch stark durch die Bilder. Das hat wohl | |
viele zum Nachdenken gebracht. | |
Kommen wir zu Ihrer Gruppe borderline-europe. Was machen Sie? | |
Wir haben uns 2007 in Berlin gegründet. Eine Kollegin zog 2009 nach | |
Palermo, seitdem haben wir auch dort ein Büro und einen Verein. Die | |
Kollegin hat mit italienischen Aktivist*innen ein Monitoring der | |
Situation der Geflüchteten auf Sizilien und in Richtung Lampedusa und | |
Nordafrika begonnen. | |
Auf dem Meer? | |
An Land. Als 2015 die zivile Seenotrettung begann, war es für sie | |
ausgesprochen hilfreich, dass es uns gab, weil wir vor Ort verankert waren | |
und die Strukturen kannten. Und wir kooperieren seither. | |
Was ist Ihr Part dabei, Sie haben ja keine Rettungsschiffe? | |
Wir machen viel Öffentlichkeitsarbeit, haben Kontakte, etwa zu | |
Jurist*innen in Italien, Griechenland. Wir waren in gewisser Weise auch | |
Geburtshelfer für die Seawatch, denn wir haben anfangs für Harald Höppner, | |
den Initiator, Spenden eingesammelt – und so zum Anfang dieser großartigen | |
Organisation beigetragen. Wir arbeiten viel mit Aktivist*innen aus der | |
Geflüchtetenszene zusammen, helfen, Anträge zu stellen, solche Dinge. 2016 | |
haben wir zum Beispiel ein soziales Projekt zur Unterstützung von | |
Geflüchteten auf Lesbos begonnen, das gibt es immer noch. | |
Ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit ist die Beobachtung und Dokumentation von | |
sogenannten Schleuser-Prozessen. | |
Ja, wir nennen das „Kriminalisierung von Solidarität“. Gerade gibt es ja | |
zum Beispiel die Berufungsverhandlung im Fall Homayoun Sabetara, einem | |
iranischen Flüchtling, der gezwungen wurde, das Fluchtauto zu fahren. Er | |
wollte zu seinen Töchtern nach Deutschland und ist in Griechenland zu 18 | |
Jahren Haft verurteilt worden. Seine Tochter hier in Berlin hat [1][eine | |
Kampagne für seine Freilassung organisiert]. Homayoun ist kein Einzelfall. | |
In Griechenland sitzen Hunderte Flüchtlinge wegen „Schleusens“ in Haft, in | |
Europa Tausende. | |
Das sind Flüchtlinge, keine Geschäftsleute oder andere Kriminelle, denn es | |
nur um das Geld geht? | |
In der Regel sind es Flüchtlinge und sie bekommen mehrjährige Haftstrafen, | |
bis zu 100 Jahre! Oft sind die „Schleuser“ arme Menschen etwa aus der | |
Türkei, denen man ein paar hundert Euro verspricht, wenn sie das Boot | |
fahren. Die haben keine Ahnung und werden bei diesen gefährlichen | |
Überfahrten praktisch verheizt. Dazu kommt: Weil die | |
Familienzusammenführung nach Deutschland nicht funktioniert oder in die | |
Länge gezogen wird, bleibt Menschen nicht anderes übrig, als sich der | |
Schlepper-Schleuser zu bedienen. | |
Es gibt aber auch kriminelle Schleuser, oder? | |
Keine Frage, es gibt ja den Bedarf. Das ist wie mit der Prohibition, sie | |
hat auch dafür gesorgt, dass die Mafia entsteht. Wo es ein Bedürfnis gibt, | |
ob Alkohol oder dass man abhauen muss, wird es Leute geben, die damit Geld | |
verdienen. | |
Was ist Ihre Vorstellung von guter EU-Migrationspolitik? | |
Das mit den Wahlen ist schwer. Man kommt nicht umhin, die Systemfrage zu | |
stellen. Wir Europäer leben seit Jahrhunderten auf Kosten des Globalen | |
Südens. Und wir zementieren mit der Abschottungspolitik, in die jährlich | |
Milliarden Euro fließen, weiterhin das Wohlstandsgefälle, das die Migration | |
auslöst. Das muss sich ändern. Auch die Kollaboration der EU mit | |
Diktatoren, wie etwa Abdel Fattah al-Sisi in Ägypten, um die Abschottung zu | |
vervollkommnen, muss aufhören! | |
5 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.freehomayoun.org/ | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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