| # taz.de -- Krise sozialer Infrastruktur: Es wird wieder gestreikt | |
| > Die Gewerkschaften schöpfen neues Selbstvertrauen und bekommen Zulauf. | |
| > Dabei geht es im Arbeitskampf längst um mehr als nur um höhere Löhne | |
| Bild: BVG-Arbeiter:innen erstreiken erfolgreich bessere Arbeitsbedingungen vor … | |
| Arbeitskampf ist wieder in. Selbst als Redakteur für Arbeit ist es dieser | |
| Tage gar nicht leicht, den Überblick zu behalten, in welchen Branchen in | |
| der Stadt überall gestreikt wird. Gerade haben die Beschäftigten der BVG | |
| erfolgreich bessere Arbeitsbedingungen erstritten, da beginnen die | |
| Ärzt:innen an der Charité ihren Ausstand. | |
| Andere Arbeitskämpfe dauern wiederum so lange, dass man sie | |
| zwischenzeitlich aus den Augen verliert. So legten die Beschäftigten bei | |
| Ikea und Metro am Freitag im mittlerweile schon über ein Jahr anhaltenden | |
| Tarifstreit im Einzel- und Großhandel die Arbeit nieder. | |
| Die Daten bestätigen den Eindruck: Die Zahl der durch Streiks ausgefallenen | |
| Arbeitstage hat sich im vergangenen Jahr verfünffacht. Zugleich verzeichnen | |
| viele Gewerkschaften nach jahrzehntelangem Mitgliederschwund zahlreiche | |
| Neueintritte. Das weckt Hoffnung. | |
| Die große Frage ist: worauf? Ist die Streikwelle nur eine Reaktion auf die | |
| Inflation der letzten Jahre und letztendlich nur eine Fortführung des | |
| Klassenkompromisses? Möglich. Aber gleichzeitig steckt im neu gefundenen | |
| Selbstbewusstsein von Arbeiter:innen und Gewerkschaften das Potenzial, | |
| die Zukunft entscheidend mitzugestalten. | |
| ## Klassenkompromiss oder politisches Potenzial? | |
| Fangen wir mit einer etwas pessimistischen Sichtweise an: Die jüngsten | |
| Tarifabschlüsse mit Lohnsteigerungen von 10, 15 oder gar 37 Prozent – bei | |
| den Spielbanken in Brandenburg – klingen beeindruckend, doch sie schmelzen | |
| dahin, wenn man sie mit der Steigerung der Verbraucherpreise verrechnet. | |
| Tatsächlich sind die Reallöhne 2023 unterm Strich um 0,2 Prozent gesunken. | |
| Ein gewerkschaftlicher Siegeszug sieht anders aus. | |
| Was die Zahlen nicht zeigen: Beschäftigte kämpfen nicht nur erfolgreich für | |
| höhere Löhne, sondern immer häufiger auch für bessere Arbeitsbedingungen. | |
| Mehr Urlaub, längere Wendezeiten an der Endhaltestelle oder weniger | |
| unbezahlte Pausen – all das konnten die BVG-Arbeiter:innen in den | |
| Verhandlungen über den Manteltarifvertrag herausschlagen. | |
| Dass es nicht nur um mehr Lohn geht, beweist eindrucksvoll auch das | |
| Beispiel der Berliner Krankenhausbewegung, die bereits 2021 einen | |
| Entlastungstarifvertrag (TV-E) an der Charité und bei Vivantes erstritt. | |
| Damit wurde die Personalschlüssel auf den Stationen deutlich verbessert, | |
| bei Unterbelegung stehen den Krankenpfleger:innen Freischichten zu. | |
| Diesem Vorbild folgten die Beschäftigten des Jüdischen Krankenhauses in | |
| Wedding, die im Januar einen solchen Entlastungstarifvertrag erkämpften. | |
| Erst Mitte April forderte Verdi das Land Berlin auf, über einen TV-E im | |
| Kitabereich zu verhandeln, um so die Betreuungssituation deutlich zu | |
| verbessern. | |
| Und hier wird es politisch. Schaut man sich die Branchen an, die am | |
| lautesten kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen fordern, | |
| wird schnell klar: Die Ursachen liegen nicht darin, dass die jüngeren | |
| Generationen nicht mehr so viel arbeiten wollen oder nicht mehr belastbar | |
| sind. | |
| ## Sozialbereich in der Dauerkrise | |
| Vielmehr ist die Forderung nach Entlastung eine Reaktion auf die umfassende | |
| Krise der sozialen Infrastruktur, die sich auch in Berlin immer deutlicher | |
| abzeichnet. [1][„Keine Erziehung, nur noch Aufbewahrung“ ist mittlerweile | |
| sowohl Zustandsbeschreibung des Arbeitsalltags als auch Kampfspruch der | |
| Kita-Beschäftigten]. In der Pflege sieht es nicht besser aus. | |
| Erst vor zwei Wochen [2][rief eine überforderte Pflegerin die Polizei], | |
| weil einfach keine Ablöse für die Nachtschicht erschien. Die Angestellte | |
| war die einzige Fachkraft und hatte schon eine Doppelschicht hinter sich. | |
| Ob Bildung, Sozialarbeit oder im erweiterten Sinne auch der Transportsektor | |
| und der Einzelhandel – überall dreht sich dieselbe Teufelsspirale: | |
| Fachkräftemangel, steigende Belastung, Burn-out und in vielen Fällen Flucht | |
| aus dem Job. | |
| Fragt man nach den Ursachen, gibt die Politik gern dem demografischen | |
| Wandel die Schuld. Die Geburtenrate geht zurück, die Gesellschaft wird | |
| immer älter, es kommen weniger Arbeitskräfte nach, als in Rente gehen. Doch | |
| wie so oft ist das Problem hausgemacht. Denn der Bevölkerungswandel war | |
| schon vor 25 Jahren absehbar, als die Generation, die jetzt den | |
| Arbeitsmarkt betritt, geboren wurde. | |
| Es gäbe heute keine Krise der sozialen Infrastruktur, wenn damals | |
| vorausschauend gehandelt worden wäre. Das bedeutet vor allem: umfassende | |
| Investitionen in Pflege, Bildung und öffentlichen Nahverkehr, attraktive | |
| Arbeitsbedingungen, gute Gehälter und dazu eine Personaldecke, die die | |
| kommende Welle von Renteneintritten abfangen kann. | |
| ## Care-Berufe deutlich aufwerten | |
| Wenig überraschend ist das genaue Gegenteil passiert. Als Berlin infolge | |
| des Bankenskandals um die Jahrtausendwende unter Rot-Rot sparte, „bis es | |
| quietscht“, traf es den Sozialbereich als erstes. Statt neu einzustellen, | |
| wurde entlassen, statt die Löhne zu erhöhen, wurden sie gedrückt. | |
| Die Folgen sind gravierend. Nach Jahren der Untätigkeit ist der Weg aus der | |
| Krise schwer, langwierig und teuer. Arbeitskräfte fehlen mittlerweile in | |
| allen Branchen, die Konkurrenz ist groß. Allein 10 Prozent mehr Lohn oder | |
| einer Stunde Arbeit weniger pro Woche lösen keine Bewerbungsflut bei BVG | |
| oder der Charité aus. | |
| Der Fachkräftemangel zwingt die Gesellschaft sich mit der Frage zu | |
| beschäftigen: Welche Branchen können wir uns leisten zu vernachlässigen? | |
| Welche müssen wir erhalten? Die Antwort sollte spätestens seit der | |
| Corona-Pandemie klar sein. Notwendig ist eine deutliche Aufwertung aller | |
| „systemrelevanten“ Berufe. 30 Stunden die Woche und 3.000 Euro netto im | |
| Monat wären ein Anfang. Warum sollte auch ein „Primary Content Strategy | |
| Scout“ eines Tech-Start-ups, das nach einem Jahr sowieso pleite geht, | |
| besser bezahlt werden als eine Krankenpflegerin? | |
| ## Rückfall in alte Fehler | |
| Doch für eine solche Aufwertung fehlt, heute wie schon vor 20 Jahren, das | |
| Geld. Denn erneut [3][bahnt sich eine Haushaltskrise in Berlin an], und | |
| wieder wird wohl vor allem im Sozialbereich gespart. Statt jetzt massiv zu | |
| investieren, droht die Politik alte Fehler zu wiederholen. | |
| Vor diesem Hintergrund haben die jüngsten Arbeitskämpfe in Krankenhäusern, | |
| in Kitas und im öffentlichen Nahverkehr das Potenzial, mit der neoliberalen | |
| Sparpolitik der letzten drei Jahrzehnte zu brechen. Denn die notwendigen | |
| Investitionen lassen sich mit der Schuldenbremse nicht realisieren. Mehr | |
| noch, es benötigt eine viel stärkere Umverteilung von oben nach unten. Die | |
| Hoffnung bleibt, dass eine selbstbewusste Gewerkschafts- und | |
| Arbeiter:innenbewegung diesen Paradigmenwechsel einfordert. | |
| 30 Apr 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jonas Wahmkow | |
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