Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Magdeburgs Europapokalsieg vor 50 Jahren: Fußballer aus Feuereifer
> Der 1. FC Magdeburg feierte seinen größten Triumph vor 50 Jahren. Damals
> lag in der DDR eine Leichtigkeit in der Luft, die sich schnell wieder
> verlor.
Bild: Ehrenrunde in Bademänteln nach dem Sieg über AC Milan: Jürgen Sparwa…
„Da in der Ecke hat der Pokal im Schaufenster gestanden“, sagt Nadja
Gröschner und deutet dabei über die Straße. Sie ist heute die
„Stadtführerin Henny G.“ im strengen blauen Kostüm und mit Käppi. „Und
immer war eine Traube vor dem Centrum-Warenhaus.“ Zustimmendes Nicken.
Später aber wird sich unter den dreißig Fans des 1. FC Magdeburg, kurz
„FCM“, keiner finden, der 1974 dabei war, als [1][der Europapokal der
Pokalsieger] hier einzog.
Heute Abend verschmelzen unter der Anleitung von Nadja Gröschner Erinnerung
und Gegenwart zur Fama, ihre Zutaten: der erste Europapokal, den ein
DDR-Club gewann, ein Dutzend Helden, Sozialismus und Anekdoten. Und
natürlich Optimismus, oder, wie Erich Honecker gesagt hätte, „Feuereifer“.
Es geht 1974 aufwärts. Nicht die Krösusse vom AC Mailand unter Trainer
Giovanni Trapattoni nehmen den Pott mit. Es sind die Spieler aus der DDR,
die den zweitwichtigsten Pokal, den Europas Klubfußball zu vergeben hat,
nach Magdeburg bringen. Nur der Pokal der Landesmeister liegt noch einen
Tick höher.
Die Trophäe ist heute auch dabei. Eine Kopie des VEB Metallbau, sagt
Gröschner. Jeder müsse sie beim „Passionsweg Blau-Weiß“, so der Name der
Tour im Zeichen der Clubfarben, tragen wie Kapitän Manfred Zapf, Jürgen
Sparwasser und „Paule“ Seguin. Das Neue Deutschland vom 9. Mai 1974 feiert
den Sieg auf Seite 1 und übermittelt Glückwünsche von Erich Honecker. Thema
des Tages ist aber der „Dank den gefallenen sowjetischen Helden“ zum 29.
[2][Jahrestag des Sieges]. Vielleicht verzichtete man deswegen auf ein Bild
vom Triumph in Rotterdam. In dem Jubel sieht man die Spieler in weißen
Mänteln, in den Gesichtern eine Leichtigkeit, wie sie nur junge,
unbeschädigte Menschen haben. Die Bademäntel bekamen sie, damit die
Adidas-Streifen an den Trikots nicht zu erkennen wären.
Quatsch! Die sehen einfach cool aus. So cool, dass Udo Jürgens beschließt,
sich fortan ebenfalls im weißen Frottee von seinen Fans zu verabschieden,
fabuliert Nadja Gröschner. Wer jetzt bleibt, weiß, dass er keine historisch
verbriefte Exkursion aus Anlass des 50-Jahr-Jubiläums des Europapokalsieges
vom Stadtarchiv gebucht hat, sondern eine Koproduktion des Theaters
Magdeburg und des Literaturhauses Magdeburg.
## Sozialismus mit neuem Sound
Jürgen Sparwasser sieht im Mantel aus wie ein junger Gott. Einer, der wenig
später vollends den Olymp besteigt, als er am 22. Juni im Hamburger
Volksparkstadion in der WM-Endrunde das Tor für die DDR schießt und die
West-Auswahl demütigt. Franz Beckenbauer erzählt später, dass es diese
Niederlage war, die seine Elf im Trainingslager von Malente gegen Trainer
Helmut Schön rebellieren lässt. Nun erst formt sich das Team, das das
Endspiel erreicht und die Niederländer 2: 1 schlägt.
Bei diesem WM-Titel leistete die DDR auch ihren Beitrag. Es läuft in den
frühen Siebzigern rund für den SED-Staat. Die Fußballer gehören zur ersten
Nachkriegsgeneration. Sie soll den „Sozialismus in den Farben der DDR“ und
mit neuem Sound aufbauen. Mit „Yeah! Yeah! Yeah! und dem ganzen Dreck“
konnte Walter Ulbricht nichts anfangen. Der neue SED-Chef Honecker dreht
die Verstärker auf. Bei den Weltfestspielen 1973 rockt „Renft“, kurz zuvor
noch kujoniert, vor Hunderttausenden auf dem Alexanderplatz und die
„Klosterbrüder“ aus Magdeburg spielen, als wäre „Jethro Tull“ gelande…
„Axel Tyll, Motor Mitte Magdeburg, Martin Hoffmann, Aktivist Gommern …“
Gröschner zieht den Handwagen und eine Box rezitiert die Namen der Helden
mitsamt ihrer Heimatvereine, die bezeugen, dass alle aus dem Bezirk
Magdeburg kommen, beim SKET, dem Schwermaschinenbaukombinat Ernst Thälmann,
arbeiten und deswegen Amateure sind, Fußballnarren nicht des Mammons wegen,
sondern aus „Feuereifer“.
Für die SED höchst praktisch. Ihre Funktionäre stecken die Uefa-Siegprämie,
mehr als 200.000 Schweizer Franken, ein und begleichen die Rechnung für das
Trainingslager der DDR-Nationalmannschaft in Schweden. In Rotterdam
bekommen die Magdeburger nur ein Taschengeld von 85 Gulden, zu Hause dann
5.000 DDR-Mark, eine Woche Bulgarien und einen Besteckkasten.
FCM-Fans in drei Generationen
Nadja Gröschner lenkt über die Elbe. Die kleine Schar mit ihren FCM-Mützen
und den blau-weißen Schals wird von Passanten gegrüßt. Und nicht nur dem
historischen FCM gilt ihre Passion, auch dem aktuellen. Die meisten haben
Dauerkarten. Doch der FCM, seit 2022 mit Hansa Rostock die Minifraktion der
ehemaligen DDR-Clubs in der zweiten Liga, schwächelt.
Bernd Liedmann ist Anfang achtzig, der älteste im Trupp und gut zu Fuß.
Außerdem lassen ihn seine Ehefrau, seine beiden Töchter, der Schwiegersohn
und die Enkelin nicht aus den Augen. Drei Generationen, und Enkelin Mandy
Gädeke ist mit 35 Jahren noch nicht die Jüngste. Gädeke, im Vertrieb
tätig, sieht ihre Stadt heute mit anderen Augen, sagt sie. Wie sie sich
verändert hat. „Veränderung gibt es immer“, wirft ihr Großvater ein.
Liedmann, ein Maurer, muss es wissen. Die sozialistische Stadt, nach der
Zerstörung 1945 errichtet, wird umgekrempelt. Das Ernst-Grube-Stadion,
benannt nach einem KPD-Politiker, ist weg. Inzwischen erhebt sich dort die
MDCC-Arena, benannt nach einer Firma, die keiner kennt.
Doch der Genius Loci ist geblieben, Heinz Krügel. [3][Dem größten
FCM-Trainer haben sie 2014 ein Denkmal gesetzt] und nun steht ein bronzener
Krügel und jongliert mit dem Pokal vor dem MDCC-Bau, den FCM-Fans kurz nur
HKS nennen, Heinz-Krügel-Stadion. Krügel soll sich um die Spieler gekümmert
haben wie um die eigenen Kinder. Trotzdem hat er sie gesiezt. In einer
Welt, wo alle Genossen per Du waren, war das Distinktion.
## Bayern-Profis essen lieber im Bus
Krügel, Jahrgang 1921, hätte den 1. FCM noch lange trainiert. Es kommt
anders. Im November 1974 spielt der FC Bayern gegen den FCM, Pokal der
Landesmeister, Achtelfinale. Magdeburg verliert. In der Stadt herrscht
Ausnahmezustand. „BRD-Touristen“ hocken in Kneipen, gehen ins
Centrum-Warenhaus. Und die Bayern-Profis ziehen sich vor dem Spiel in ihren
Bus zurück, um zu essen, was sie aus dem Westen mitgebracht haben.
SED-Zeitungen schimpfen über die Missachtung der Gastfreundschaft. „Da warn
se unten durch!“ sagt einer der blau-weißen Pilger so beleidigt, als ob’s
gestern gewesen wäre. Über anderes schweigt die Presse: Die Stasi hatte die
Bayern-Kabine verwanzt und bot Krügel die Halbzeitansprache [4][von Trainer
Udo Lattek] an. Krügel lehnte ab.
Heinz Krügel wird 1976 abgesetzt, angeblich wegen Erfolglosigkeit, dabei
war der Club 1975 zum dritten Mal DDR-Meister geworden. „Über Nizza lacht
die Sonne, über uns die ganze Welt“, soll Krügel mal gesagt haben. Das
allein hätte gereicht, Stasi-Chef Erich Mielke zur Weißglut zu bringen.
Krügel selbst erzählt später, dass ihm „Versöhnlertum“ vorgeworfen wurd…
Er wird als Trainer auf Lebenszeit gesperrt und zum Objektleiter des
Vereins Motor Mitte Magdeburg degradiert, eine Art Hausmeister. Es ist eine
Verbannung.
Der Wind hat sich gedreht. [5][Im November 1976 wird Wolf Biermann
ausgebürgert.] Es folgt ein Exodus von Künstlern. Wer bleibt, wird
gemaßregelt oder landet hinter Gittern. Auch der Sound verstummt. „Renft“
wird verboten, die „Klosterbrüder“ – der Sozialismus braucht keine
Klosterbrüder! – müssen einen neuen Namen finden, nennen sich „Magdeburg�…
und bringen 1980 ihre erste Platte raus. Ein Jahr später stellen alle
Bandmitglieder, einmalig in der DDR, Ausreiseanträge. Es folgen
Berufsverbot und Knast.
Nach einem Spiel der FCM-Altherren in Saarbrücken bleibt Jürgen Sparwasser
im Januar 1988 mit seiner Frau, die auf Familienbesuch im Westen ist, in
der Bundesrepublik. Sparwasser erzählt später, dass er sich anfangs nur mit
tiefer Hutkrempe und hohem Kragen vor die Tür traute. Die DDR ist bei
„Verrätern“ nicht zimperlich. Lutz Eigendorf von Erich Mielkes Berliner
Lieblingsclub Dynamo, der 1979 in den Westen flüchtete, kam 1983 bei einem
Autounfall ums Leben. Die Todesumstände wurden nie restlos geklärt.
## Freiwilliger in der Waffen-SS
Die Leichtigkeit des Jahres 1974 ist erloschen. Kein Club hat je wieder
einen Europapokal gewonnen, kein DDR-Team eine WM-Endrunde erreicht.
Nadja Gröschner sitzt in der Gartensparte „Unterbär“. Hierher hat sie den
Haufen gelotst. Der Weg ins Stadion wäre bei dem Regen zur echten Passion
geworden. Im Spartenheim gibt’s Bier und Bratwurst. Der alte Maurer Bernd
Liedmann sitzt mit drei Generationen, sechs Familienmitglieder, zufrieden
am Tisch und seine Frau legt ihm vorsichtig die Hand aufs Knie, gerade so
als hätten sie ihr Leben noch vor sich und der FCM soeben den Pokal
gewonnen.
Die Zeitreise ist vorbei. Die „Stadtführerin Henny G.“ verwandelt sich
wieder in die Chefin des Magdeburger Kulturzentrums Feuerwache. Nadja
Gröschner bietet seit Jahren besondere Exkursionen an. Sie, ihre Schwester
Annett und die Autorin Anne Hahn haben diese Reminiszenz an das Jahr 1974
erdacht.
Autorin Annett Gröschner veröffentlichte schon 1999 ein FCM-Buch mit
reichlich Fotos und Quellen. „Sieben Tränen muss ein Clubfan weinen“ ist
für FCM-Interessierte Pflichtlektüre und Fundgrube in einem. Gröschner hat
dafür auch Heinz Krügel gesprochen, der 2008 gestorben ist.
2021 erhält sein Lebenslauf posthum ein weiteres Kapitel. Es stellt sich
heraus, dass Krügel 1940 als Freiwilliger in die Waffen-SS eintrat und bis
1945 in verschiedenen Ländern im Einsatz war. Krügel hielt diesen Teil
seines Lebens verborgen. Der Stasi war das seit 1960 bekannt. Der 1. FC
Magdeburg beauftragt eine Arbeitsgruppe. Sie findet keine Anhaltspunkte für
eine Beteiligung an Kriegsverbrechen und empfiehlt, diesen Teil in die
Gesamtbiografie am Krügel-Denkmal aufzunehmen.
7 May 2024
## LINKS
[1] /Archiv-Suche/!1289824&s=kr%C3%BCgel+magdeburg&SuchRahmen=Print/
[2] /70-Jahre-nach-dem-Tag-der-Befreiung/!5008872
[3] https://www.magdeburg.de/index.php?ModID=7&FID=557.3430.1&object=tx…
[4] /Bundesliga-Legende-gestorben/!5021461
[5] /Ausstellungen-ueber-dissidente-DDR-Kunst/!5319560
## AUTOREN
Thomas Gerlach
## TAGS
Magdeburg
Europa
Fußball
2. Bundesliga
FC Hansa Rostock
Fußball
Kolumne Kulturbeutel
Fußball
Fußball
## ARTIKEL ZUM THEMA
Zweite Bundesliga: Gelingen und Misslingen
Der 1. FC Magdeburg spielt eine starke Saison in der 2. Liga, verliert aber
zu Hause 3:4 gegen Nürnberg. Scheitert der FCM am Heimnachteil?
Krise beim FC Hansa Rostock: Kogge im Sturm
Beim Drittligisten Hansa Rostock geht’s drunter und drüber: Ein Ultra
übernimmt die Führung des Aufsichtsrates, und einen neuen Trainer gibt's
auch.
Ex-DDR-Fußballer über Spiel gegen BRD: „Wir hatten großen Respekt“
Bei der Weltmeisterschaft vor 50 Jahren schlugen die DDR-Fußballer im
Hamburger Volksparkstadion die BRD mit 1:0. Harald Irmscher war dabei.
Deutsch-deutsche Fußball-Geschichte: Stasi, Stasi über alles!
1974 kickt die BRD gegen die DDR. Auch das MfS spielt mit. Doch so wild wie
in einer frischen Graphic Novel beschrieben war die Spitzelei nicht.
Rot-Weiß Erfurt ist insolvent: Die Schwäche des Ostfußballs
Die Fußballvereine im Osten haben den Willen, aber nicht die
Wirtschaftskraft. Die Pleite von Rot-Weiß Erfurt ist dafür symptomatisch.
Fankultur beim 1. FC Magdeburg: Hüpfburg an der Elbe
Zehn Jahre gibt es das neue Magdeburger Stadion. Jetzt müssen die Fans ein
liebgewonnenes Ritual unterlassen – aus bautechnischen Gründen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.