# taz.de -- Nach Anschlag bei Moskau: Die Spur zum „Islamischen Staat“ | |
> Der Kreml spricht weiter von ukrainischer Verstrickung, obwohl sich der | |
> IS direkt nach dem Anschlag bekannt hat. Was sagen | |
> Dschihadismus-Expert:innen? | |
Bild: Blumen als Zeichen der Trauer vor der Crocus City Hall nach dem Anschlag … | |
Auch drei Wochen nach [1][dem Anschlag auf die Crocus City Hall] nahe | |
Moskau sind die Hintergründe unklar. Zwar übernahm [2][die Zentrale des | |
Islamischen Staats (IS) direkt am 22. März], dem Tag des Anschlags, die | |
Verantwortung dafür. Aber auch ein zweites Statement ihrer Medienabteilung | |
Amaq am Folgetag war so wenig detailliert, dass viele Expert*innen an | |
deren Urheberschaft zweifelten. | |
Zwischen 2017 und 2019 hatte die IS-Zentrale das von ihr kontrollierte | |
Territorium in Syrien und Irak verloren und agiert seither aus dem | |
Untergrund. Der dänische Dschihadismus-Experte Tore Hamming vermutet sie | |
[3][irgendwo im Grenzgebiet des kurdisch kontrollierten Nordostsyriens und | |
der Südosttürkei]. Für den Anschlag des 22. März richtet sich der Verdacht | |
auf eine der sogenannten Provinzen der Gruppe, die in ihren jeweiligen | |
Regionen relativ autonom agieren. | |
Für Russland war im IS bis dahin eine separate Kaukasus-Provinz | |
„zuständig“, dieses Mal geht es nun um die vor allem in Afghanistan und | |
Pakistan aktive [4][IS-Khorasan-Provinz (ISKP)]. Khorasan ist eine | |
Bezeichnung für die iranischsprachigen Gebiete Zentralasiens. | |
Drei Tage nach dem Anschlag verbreitete der ISKP über seinen eigenen | |
Medienflügel al-Azaim ein 30-seitiges Onlinepamphlet. Auch das enthält | |
keine Details zum Moskauer Anschlag. Dieser werde darin zwar ausführlich | |
„gefeiert“, sagt der in Schweden arbeitende [5][afghanische IS-Experte | |
Abdul Sayed] der taz, vermeide aber ein direktes Bekenntnis. | |
## Schreiben kommt Bekenntnis nahe | |
Das bedeute jedoch nicht, dass die Gruppe nicht daran beteiligt gewesen | |
sei, so Sayed. Im Pamphlet wird der Anschlag als Rache für den Tod von | |
IS-Kämpfern durch russische Angriffe in Syrien bezeichnet. Russland | |
unterstützt dort das mit Iran verbündete Regime von Baschar al-Assad. Irans | |
und Syriens Regime werden von Schiiten dominiert, die der IS als abtrünnige | |
Muslime betrachtet. | |
Das Schreiben geißelt auch die in Afghanistan herrschenden Taliban wegen | |
ihrer engen Beziehungen zu Russland und verhöhnt sie, dass sie ihre | |
Verpflichtung gegenüber den USA nicht erfüllen, von ihrem Land ausgehende | |
Terrorangriffe im Ausland zu verhindern. Das kommt einem Bekenntnis zum | |
Moskauer Anschlag schon sehr nahe. Auch die [6][US-Geheimdienste sehen den | |
ISKP hinter der Tat]. | |
Bei den vier angeblichen Tätern, die von russischen Behörden mit Spuren | |
schwerer Misshandlungen vor Gericht präsentiert wurden, und anderen | |
verhafteten Helfershelfern, handelt es sich um Bürger Tadschikistans, die | |
Gastarbeiter in Russland waren. Niemand in der Expert*innenszene | |
zweifelt bisher daran, dass die vier mit den Tätern identisch sind. | |
Zudem gab der IS inzwischen zu, dass die tatsächlichen Attentäter gefasst | |
wurden, „nachdem sie in einem Wald umzingelt worden waren“. Das deckt sich | |
mit russischen Angaben. Ein tadschikischer Kontakt, der sich von | |
Terroristen per Bodycam verbreitetes Videomaterial vom Anschlag ansah, | |
bestätigte der taz, dass sie darin im Dialekt der Landeshauptstadt | |
Duschanbe sprechen. | |
## Restzweifel bleiben | |
Dennoch bleiben Restzweifel. Der in Washington arbeitende | |
Zentralasien-Experte Bakhti Nishanov postete im Kurznachrichtendienst X | |
eine [7][Mitteilung des tadschikischen Außenministeriums] vom Tag nach dem | |
Anschlag, der zufolge sich zwei der von Russland Beschuldigten seit | |
November in Tadschikistan aufhielten. | |
Seither bleibt Duschanbe diesbezüglich allerdings still. Die Behörden des | |
hochgradig von Russland abhängigen Landes kooperieren mit Moskau. Laut | |
einer offiziellen russischen Nachrichtenagentur nahmen sie Ende März | |
[8][neun weitere Verdächtige fest,] die mit dem Moskauer Anschlag in | |
Verbindung stehen sollen. | |
[9][51 Prozent von Tadschikistans Bruttosozialprodukt] stammen aus | |
Geldüberweisungen von Arbeitsmigranten, geschätzt leben mindestens 1,5 | |
Millionen Tadschik:innen in Russland. Viele haben inzwischen die | |
russische Staatsangehörigkeit angenommen, aber sie sind dort oft | |
Diskriminierung ausgesetzt. Einige könnten deshalb anfällig für | |
dschihadistische Online-Anwerbung sein. | |
Die tadschikischen Anschlagsverdächtigen führen auch zur ISKP-Spur. Der | |
2015 gegründeten Gruppe schlossen sich zunächst vor allem in Guantánamo | |
radikalisierte afghanische Taliban-Kommandeure an. Nachdem sie freikamen, | |
lehnten sie die Verhandlungen ihrer Führung mit den USA ab. Fast alle | |
wurden mittlerweile durch Nato-Luftschläge getötet. Übrig blieb der ISKP im | |
pakistannahen Osten Afghanistans. | |
Dort kam es zu einem Zustrom von pakistanischen Taliban und Mitgliedern | |
anderer antischiitischer Terrorgruppen. Viele davon gelten als vom | |
pakistanischen Geheimdienst unterwandert, wenn auch nicht kontrolliert. Der | |
ISKP schlägt auch in Pakistan zu. Bei einem der größten Anschläge dort in | |
jüngerer Zeit wurden im Juli 2023 im Distrikt Badschaur 44 Menschen getötet | |
und mehr als 100 verletzt. | |
Seit 2020 wird die Gruppe vom heute 29-jährigen afghanischen Tadschiken | |
Sanaullah Ghafari geführt. Er soll sich in Pakistans Provinz Belutschistan | |
aufhalten. Dort operieren mehrere Separatisten- und Terrorgruppen, unter | |
anderen das iranische Dschaisch ul-Adl (Heer der Gerechtigkeit). Iran macht | |
[10][es für zwei Anschläge um den Jahreswechsel verantwortlich]. Ob | |
Dschaisch ul-Adl und ISKP kooperieren, ist jedoch unklar. | |
## Taliban haben ISKP geschwächt | |
In Afghanistan gehen die Taliban seit ihrer Machtübernahme im August 2021 | |
rabiat gegen den ISKP und das salafistische Milieu, aus dem er sich | |
rekrutiert, vor und haben die Terrorgruppe erheblich geschwächt. Deshalb | |
vermuten viele Expert*innen, der ISKP weiche auf Anschläge im Ausland aus | |
und rekrutiere dafür gezielt Zentralasiaten. Zuletzt verbreitete er | |
verstärkt dschihadistisches Onlinematerial auf Tadschikisch. | |
Schon in Syrien, so Zentralasien-Experte Edward Lemon vom | |
Forschungsnetzwerk Oxus Society, stellten Tadschiken im IS die drittgrößte | |
Gruppe, gemessen an der Bevölkerungszahl der Herkunftsländer. | |
Dass der IS mit Hilfe radikalisierter Einheimischer Anschläge im Ausland | |
durchführt, zeigten die Terroranschläge im Jahr 2015 auf die Konzerthalle | |
Bataclan und am Stade de France in Paris. Auch in Deutschland scheinen vom | |
IS beeinflusste Tadschiken an Anschlagsvorbereitungen beteiligt gewesen zu | |
sein.Entsprechende Verhaftungen gab es im Juli dieses Jahres und im | |
Dezember, wegen des Verdachts auf Attentatspläne auf den Kölner Dom. | |
Nach der Zerschlagung des IS-Territorialstaats in Syrien und Irak ist | |
dessen Zentrale nun daran interessiert, als Drahtzieher für Anschläge wie | |
jenen in Moskau und so weiterhin als potenter dschihadistischer Akteur | |
wahrgenommen zu werden. | |
Dafür schuf er 2015 das „Generaldirektorat für die Provinzen“, das | |
neuerdings weltweit für die gesamte Planung und Durchführung von | |
„Auslandsoperationen“ und die Geldbeschaffung für regionale IS-Ableger und | |
Einzelkämpfer verantwortlich sei, so der Dschihadismus-Experte Hamming. Das | |
könnte die Zurückhaltung der ISKP-Medien erklären, sich direkt zum Moskauer | |
Anschlag zu bekennen. | |
## ISKP bekannte sich zu zwei Anschlägen im Januar | |
Die Dschihadismus-Expertin der BBC, Mina al-Lami, wies darauf hin, dass der | |
ISKP sich auch nicht zu zwei Anschlägen im Januar bekannt habe: auf die | |
Trauerfeier für einen General der Revolutionsgarden im iranischen Kerman | |
mit 95 Toten und auf eine Kirche in Istanbul, wo ein Mann erschossen wurde. | |
Laut des IS-Experten Abdul Sayed werden die Anschläge von Moskau und Kerman | |
auch in einer IS-Erklärung aus Anlass des bevorstehenden 10. Jahrestags der | |
Proklamation des Kalifats im Juni nicht dem ISKP zugeschrieben. | |
Trotzdem, so Ashley Jackson, Co-Direktorin der Forschungsgruppe Centre on | |
Armed Groups mit langjähriger Afghanistan-Erfahrung, müsse man weiterhin | |
zwischen ISKP-Aktionen im Ausland und in der Herkunftsregion | |
differenzieren. Anschläge im Ausland würden nicht von den Mitgliedern in | |
Afghanistan geplant und ausgeführt – die seien „mit den Taliban | |
beschäftigt“. Das belegt auch ein Anschlag in Kandahar, der einen Tag vor | |
dem Anschlag in Moskau stattfand, und bei dem ein IS-Selbstmordattentäter | |
21 Menschen tötete und mehr als 50 verletzte. | |
„Wir werden im Ausland vermehrt zentralasiatische Dschihadisten sehen, so | |
Jackson. „Wir haben solide Analysen über ISKP in Afghanistan und Pakistan“, | |
fügt sie hinzu. Aber was, fragt Jackson, „wissen wir wirklich über ihren | |
Fußabdruck hinaus“ – und darüber, wie ISKP und die Zentralasiaten | |
interagieren? | |
13 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Terror-in-Konzerthalle/!5997538 | |
[2] /Anschlag-in-Moskau/!5999925 | |
[3] https://ctc.westpoint.edu/the-general-directorate-of-provinces-managing-the… | |
[4] /Anschlag-in-Moskau/!5999925 | |
[5] /Afghanistan-unter-den-Taliban/!5917490 | |
[6] https://apnews.com/article/russia-moscow-krasnogorsk-gunmen-concert-hall-fi… | |
[7] https://twitter.com/b_nishanov/status/1771496756221530247 | |
[8] https://www.dw.com/en/tajikistan-detains-9-over-moscow-concert-hall-attack/… | |
[9] https://novastan.org/en/tajikistan/moscow-attacks-highlight-tajikistans-rad… | |
[10] /Neue-diplomatische-Krise/!5986425 | |
## AUTOREN | |
Thomas Ruttig | |
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