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# taz.de -- Film „Irdische Verse“ über Iran-Diktatur: David ist kein Name
> Neun Episoden hat der Spielfilm „Irdische Verse“. Darin porträtieren Ali
> Asgari und Alireza Khatami die erstickende iranische Diktatur.
Bild: Ein junger Vater (Bahram Ark) in „Irdische Verse“. Sein Sohn soll Dav…
Egal, ob es um den Babynamen geht, den Schulweg oder um einen Filmstoff:
Der iranische Staat und all seine Organe haben mitzureden. Nicht nur ein
Wörtchen, sondern viele. Zum Beispiel gegenüber dem frischgebackenen Vater,
der bei der Meldestelle vorspricht: „David“ dürfe er seinen Sohn nicht
nennen. Keinesfalls, erklärt die Stimme des Beamten, das sei kein
iranischer Name. „Aber er gefällt uns“, verteidigt der Vater seine Wahl.
Das unsichtbar bleibende Gegenüber, aus dessen regungsloser Perspektive man
das Gespräch erlebt, bleibt hart.
Auch Kleidungsvorschriften macht die Regierung, bekanntlich vor allem
Frauen und Mädchen: In Micky-Maus-Sweatshirt und Jeans tanzt Schulkind
Selena vor einem Kaufhausspiegel eine 4-to-the-floor-Choreo zum Rhythmus
aus ihren bunt blinkenden Kopfhörern. Außerhalb des Sichtfelds lässt sich
die Mutter von einer Verkäuferin die Schleiervorschriften für den
Schuleintritt erklären – immer mehr Schleier muss das rothaarige Mädchen
übereinander ziehen.
Irgendwann scheint das Blinken der Kopfhörer nicht mehr durch, und das
Mädchen kann sich in den Kleidungsschichten kaum mehr bewegen. „Du siehst
hübsch aus“, sagt ihre Mutter beim Versuch, sie aufzuheitern. Doch die
unangenehme, vestimentäre Vorahnung macht sich dem Publikum und Selena
gleichermaßen deutlich bemerkbar.
## Die Bittstellerin spricht Richtung Kamera
Der Vignettenfilm der iranischen Regisseure Ali Asgari und Alireza Khatami,
dessen neun Interrogations-Situationen größtenteils in den Hochhausbüros
von Teherans Stadtkern spielen, übt so subtil wie deutlich Kritik an den de
facto diktatorischen Strukturen des Landes. Die autoritäre Formalität der
Gespräche – in einer festen Einstellung spricht der oder die
„Bittsteller:in“ Richtung Kamera und wird von inquisitiven, unverschämten
und schlichtweg absurden Fragen geleitet und irritiert – hat einerseits
etwas Poetisches und spiegelt die „Verse“ im Titel. Andererseits erinnert
der Film an die kafkaesken Szenerien eines Roy Andersson.
[1][Asgari, dessen glänzend inszeniertes Drama „Until Tomorrow“ im Jahr
2022 bereits die Ungerechtigkeiten und Zwänge des iranischen Staats
thematisierte], und der fast gleichaltrige, ebenfalls politisch arbeitende
Regisseur Khatami, der in Kanada lebt, bedienen sich mit „Irdische Verse“
auch bei der klassischen iranischen Filmschule und erzählen ihre
Gleichnisse meisterlich auf verschiedenen Ebenen.
Wenn etwa ein erwachsener Arbeitsuchender von der unbekannten Stimme des
potenziellen Arbeitgebers aufgefordert wird, erst einmal seine
Koranfestigkeit samt Rituelle-Waschungs-Reihenfolge zu demonstrieren,
schiebt sich vor dem Fenster immer wieder ein Kran einer der vielen
Baustellen Teherans ins streng kadrierte Bild: Draußen, so scheint es, will
man Neuanfang und Modernität suggerieren, während drinnen jemand
gemaßregelt wird wie ein Schuljunge aus dem letzten Jahrhundert. So stimmen
die „Irdischen Verse“ ein trauriges, neunstrophiges Lamento über ein Land
an, in dem es kein Miteinander mehr zu geben scheint.
## Die erstickende Übergriffigkeit des Staates
Frauen haben eine doppelte Bürde zu tragen, das macht die Auswahl der
Geschichten deutlich: Eine Schülerin muss sich vor einer Direktorin
behaupten, weil sie eventuell von einem Mann (!) zur Schule gefahren wurde;
eine Autofahrerin hat angeblich kein Kopftuch getragen, ihr droht der
Jobverlust – erst recht, weil die Frau mit den minikurz geschorenen Haaren
die (in diesem Diskurs viel zu selten gestellte) Frage wagt, wieso sie den
Kopf denn überhaupt bedecken muss, wenn doch kaum Haar zu sehen ist?
Als unbehaglich und gefährlich inszenieren die Regisseure eine Interaktion
zwischen Mann und Frau: Eine Bewerberin auf eine Stelle in der Betonbranche
(daher vielleicht der Kran) muss das Gespräch abbrechen, weil der
Arbeitgeber übergriffig wird. Selbstredend war’s das mit dem Job. Die von
ihm hinterhergerufene misogyne Beleidigung gibt’s obendrauf.
Besonders eindringlich wirkt die Allegorie in einer Episode, in der ein
Mann seinen Führerschein abholen will und aufgefordert wird, seine
Tätowierungen zu zeigen. Denn er trägt nicht etwa verfassungsfeindliche
oder menschenverachtende Symbole auf dem Körper, sondern hat sich ein
eskapistisches Gedicht seines Lieblingspoeten Dschalāl ad-Dīn Muhammad
Rūmī, genannt Rumi, einem der wichtigsten persischsprachigen Dichter des
Mittelalters, stechen lassen. Das sei aber keines von Rumis guten
Gedichten, kommentiert der Beamte. Wieso er denn kein anderes gewählt habe?
Die erstickende Übergriffigkeit des Staates macht also auch vor Kunst und
Kultur aus der Vergangenheit keinesfalls halt. Nicht mal ein Sufi-Mystiker
aus dem 13. Jahrhundert kommt ungeschoren davon. Der tätowierte Rumi-Fan
streckt beim Präsentieren seiner Körperkunst auf den Unterarmen wie
unbewusst seine Faust in die Luft. Aber das wird ihm nicht viel nützen,
wenn er seinen Lappen haben will: Der Mensch auf der anderen Seite sitzt
schlichtweg immer am längeren Hebel.
9 Apr 2024
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## AUTOREN
Jenni Zylka
## TAGS
Iranisches Kino
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