# taz.de -- „Oktober in Europa“ der Antilopen Gang: Der Antisemitismus der … | |
> Die Band Antilopen Gang macht mit ihrem neuen Track vor, was gerade sehr | |
> verbreitet ist: Deutsche Schuld wird auf andere abgeladen. | |
Bild: Die Band Antilopen Gang | |
Die Band Antilopen Gang hat mit [1][„Oktober in Europa“] einen neuen Song | |
veröffentlicht – mit dem eigentlich löblichen Vorhaben, Antisemitismus zu | |
kritisieren und der Hamas-Opfer zu gedenken. | |
Leider wirkt es aber auch hier so, als würde die Band in ein sich | |
wiederholendes Muster verfallen: Viele, die sich zum Nahostkonflikt | |
positionieren, scheinen damit vorrangig eine politische Agenda zu | |
verfolgen. | |
So gibt es unter Palästina-Solidarischen oft auch solche, denen der | |
Konflikt ein Vorwand ist, um den eigenen Antisemitismus auszuleben; und | |
umgekehrt gibt es unter Israel-Solidarischen oft auch solche, denen der | |
Konflikt ein Vorwand ist, um den eigenen antiarabischen oder | |
antimuslimischen Rassismus auszuleben. | |
Als gäbe es nicht progressive Kräfte und schützenswerte Leben auf beiden | |
Seiten – wobei allein die Idee von „zwei“ Seiten schon verkehrt und | |
nationalistisch ist. | |
Der akute Mangel an Verstand und das Desinteresse am Menschlichen, mit | |
denen diese diskursiven Fronten weiter ausgebaut werden, ist Rechthaberei | |
auf dem Rücken von Menschenleben. Oder, [2][mit den Worten von Ilija | |
Trojanow vor wenigen Wochen in dieser Zeitung:] „Wer die Verbrechen der | |
Hamas gutheißt oder die Grauen der israelischen Angriffswellen ohne Wenn | |
und Aber rechtfertigt, hat an seiner Seele Schaden genommen.“ | |
Diesem Seelenschaden gesellt sich insbesondere in Deutschland (auch in Form | |
dieses Lieds) noch ein weiterer Aspekt hinzu. Es scheint eine Sehnsucht im | |
kollektiven Unterbewusstsein der Deutschen zu geben, sich der deutschen | |
Schuld – auf welche Art auch immer – zu entledigen. So lässt sich auch die | |
Antilopen Gang zu dubiosen Zeilen hinreißen, darunter insbesondere | |
folgende: „Zivilisten in Gaza sind Schutzschild der Hamas / Schutzschild | |
der Nachfahr'n der Juden-Vergaser“. | |
Abgesehen von der Holocaust-Verharmlosung, die dem innewohnt, sowie der | |
Reduzierung Zehntausender Toter auf die Funktion eines Schutzschildes: Die | |
„Nachfahr'n der Juden Vergaser“ – sorry für den Spoiler – sind in erst… | |
Linie Deutsche. Wer dazugehört, sollte klarstellen, dass darin ein „Wir“ | |
steckt und nicht „die anderen“. Die Täter-Abstammung jemand anderem | |
anhängen zu wollen, die deutsche Schuld und Täterschaft also abzuwälzen, | |
kann nicht im Sinne des Kampfs gegen Antisemitismus sein. | |
Wenig rühmlich und in dieselbe Richtung äußerte sich auch der | |
Antisemitismus-Beauftragte von Baden-Württemberg, Michael Blume. Als im | |
Dezember die Monopol-Chefredakteurin Elke Buhr [3][in einer DLF-Debatte] | |
von „Menschen mit Nazi-Hintergrund“ sprach und korrekterweise klarstellte: | |
„Also wir, die wir hier sprechen“, unterbrach Blume sie empört: „Ekelhaf… | |
Ekelhafter Spruch. Lasse ich mir nicht sagen. Deutsche mit | |
Nazi-Hintergrund, was soll denn das bitte heißen?“. Augen auf bei der | |
Berufswahl. Als Antisemitismus-Beauftragter hätte man sich zu dieser Frage | |
mitunter am meisten Gedanken machen sollen. | |
Beide Beispiele verdeutlichen eine katastrophale Dimension der | |
Selbstgerechtigkeit und der Geschichtsverklärung: Antisemitismus, das sind | |
die anderen. | |
Die Steigerung dessen: Der Holocaust, das waren die anderen. | |
Diese Tendenz tritt zutage, [4][wenn Deutsche die Verbrechen der Hamas mit | |
dem Holocaust gleichsetzen]. Darin steckt auch eine Sprachlosigkeit über | |
das Grauen, man greift zu äußersten Mitteln, um es zu beschreiben – darin | |
offenbart sich aber auch ein Bedürfnis, von eigenen Verbrechen abzulenken. | |
Womöglich ist das eine neue Stufe dessen, was Max Czollek als | |
[5][Versöhnungstheater] beschrieben hat: Alles ist gut, wir waren's nicht. | |
Doch die deutsche Schuld ist nicht zu tilgen. Der Kampf gegen Antisemitimus | |
ergibt sich als Notwendigkeit aus dieser Schuld, aber er wird sie niemals | |
beseitigen. | |
Nun werden Antilopen Gang oder Michael Blume womöglich erklären, das sei | |
alles ganz anders gemeint. Fair enough. Vielleicht können sie | |
Missverständnisse ausräumen. Sie müssten aber mindestens zugeben, dass ihre | |
Worte eine Zweideutigkeit zugelassen haben, dass sie damit einen Nerv | |
getroffen haben, wie die begeisterten Reaktionen von Regierungsvertretern | |
bis Springer-Presse zeigen. | |
Wünschenswert wäre vor allem, auch bei anderen Äußerungen mehr Milde zu | |
zeigen, mehr in die Debatte zu gehen, nachzufragen: Wie war das gemeint? | |
Denn aktuell ist es absurderweise so, dass antisemitische | |
Geschichtsklitterung aus dem Munde von Deutschen meist keine Konsequenzen | |
hat, solange sie sich dabei der israelischen Regierung gegenüber treu | |
zeigen. Dagegen führt Kritik an der israelischen Regierung, oft auch von | |
nichtdeutschen Juden und Jüdinnen, wie zuletzt der Philosophin Nancy | |
Fraser, zur Aberkennung von Preisen und Posten. Das ist eine unhaltbare | |
Schieflage. | |
8 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=-QbQWtYe194 | |
[2] /Nahost-Debatten-in-Deutschland/!5994810 | |
[3] https://www.deutschlandfunk.de/bedroht-die-antisemitismus-definition-die-me… | |
[4] /Holocaust-Vergleiche/!5963348 | |
[5] https://www.ndr.de/kultur/buch/Versoehnungstheater-Wie-ehrlich-ist-die-deut… | |
## AUTOREN | |
Lea Fauth | |
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