| # taz.de -- 30 Jahre Völkermord in Ruanda: Die Mörder unter uns | |
| > Eine Million Opfer, zwei Millionen Beschuldigte – der Genozid an den | |
| > Tutsi ist noch nicht voll aufgearbeitet. Auch in Deutschland leben noch | |
| > Täter. | |
| Bild: Kolonialbau, in dem bis 2018 Völkermörder saßen: Kigali Central Prison | |
| Kigali taz | Wenn Jean Bosco Siboyintore auf die lange Liste vor sich auf | |
| dem Schreibtisch guckt, legt sich seine Stirn in Falten. Über 1.000 | |
| ruandische Namen stehen dort: Namen von flüchtigen mutmaßlichen Tätern des | |
| Völkermordes an den Tutsi in Ruanda 1994. Sie sind nach mutmaßlichen | |
| Aufenthaltsländern sortiert, darunter Frankreich, Belgien, USA, Kanada, | |
| sogar Australien – und Deutschland. | |
| „Wir suchen immer noch nach über 1.000 Tätern – weltweit“, erklärt | |
| Siboyintore. Der Chefermittler der Genozid-Sucheinheit in Ruandas | |
| Staatsanwaltschaft blickt aus dem großen Fenster seines Büros in einem | |
| neuen schicken Glasgebäude im Regierungsviertel von Kigali. Ruandas | |
| Hauptstadt mit den unzähligen neuen Glastürmen, Restaurants und Hotels | |
| zählt heute zu einer der modernsten Metropolen Afrikas. | |
| Dennoch [1][kämpft das Land auch 30 Jahre nach dem Völkermord an über einer | |
| Million Menschen noch immer mit seiner dunklen Vergangenheit]. Viele Täter | |
| mussten sich nie gerichtlich verantworten. „Glücklicherweise“, so der | |
| Staatsanwalt, „verjähren schwere Verbrechen wie Völkermord nicht.“ | |
| Seit 2007 wälzt Siboyintore seine Listen. Damals war die Spezialabteilung | |
| für internationale Ermittlungen gerade gegründet worden. Mit seinen drei | |
| Kollegen saß Siboyintore in einem kleinen Büro über prallvollen | |
| Aktenordnern und handgeschriebenen Zeugenaussagen. Der Stress war ihm | |
| deutlich anzusehen. Seine Liste flüchtiger Täter war viel länger, und nur | |
| wenige Staaten weltweit wollten zu jener Zeit mit Ruandas Staatsanwälten | |
| kooperieren. | |
| Erst als Ruanda 2007 die Todesstrafe abschaffte, nahm die internationale | |
| Zusammenarbeit Fahrt auf. Es gab jede Menge zu tun, denn es ist eine der | |
| größten juristischen Aufarbeitungen überhaupt. Ruandas Juristen sprechen | |
| von insgesamt mehr als zwei Millionen Verfahren, eine Zahl, die kein | |
| Justizsystem der Welt einfach abarbeiten konnte. Und in Ruanda war nach dem | |
| Bürgerkrieg ab 1990 und dem Völkermord 1994 das System komplett | |
| zusammengebrochen. | |
| Ganz pragmatisch teilte Ruandas Justiz die zahlreichen Täter daraufhin in | |
| drei Kategorien auf. Die einfachen Mitläufer und diejenigen, die auf Befehl | |
| gehandelt hatten, wurden in die unterste Kategorie einsortiert und kamen | |
| vor einfache Dorfgerichte, die sogenannten [2][Gacaca-Tribunale]. Gacaca | |
| (grüne Wiese) heißen in Ruanda traditionell die Dorfversammlungen. Sie | |
| wurden als Dorfgerichte für die Aufarbeitung des Völkermordes reaktiviert, | |
| mit Laienrichtern. International wurde dies von Menschenrechtsgruppen als | |
| rechtsstaatlich mangelhaft kritisiert, aber die Alternativen waren nur | |
| Straffreiheit oder Haft ohne Prozess. | |
| 12.000 Laiengerichte dieser Art verhandelten von 2007 bis 2012 über zwei | |
| Millionen Beschuldigte. Mehr als eine Million wurden verurteilt, meist | |
| wegen „Beihilfe“ zum Völkermord. Da die Gefängnisse jener Zeit komplett | |
| überfüllt waren, bekamen die Täter die Chance, vor der versammelten | |
| Gemeinde ihre Taten offen zu gestehen, die Massengräber zu zeigen und die | |
| Angehörigen ihrer Opfer um Vergebung zu bitten. So erhielten sie | |
| Strafnachlass, leisteten Sozialstunden. | |
| Die Gacaca-Dorftribunale wurden 2012 geschlossen. Es begannen daraufhin | |
| wieder Verfahren vor den regulären Gerichten. Diese waren vor allem | |
| beschäftigt mit mutmaßlichen Tätern der zweiten Kategorie: Amtsträger auf | |
| mittlerer Führungsebene, die 1994 Befehle ausgeführt hatten, die sie von | |
| oben erhalten hatten. Die Staatsanwaltschaft erhielt eine „riesige | |
| Datenbank an Tätern, die von den Gacaca-Gerichten in Abwesenheit verurteilt | |
| worden waren“, erinnert sich Siboyintore: insgesamt 71.658 Namen. „Wir | |
| arbeiten daran, herauszufinden, wie viele davon sich in Ruanda selbst | |
| verstecken, verstorben oder tatsächlich noch flüchtig sind“, sagt | |
| Siboyintore. | |
| Mittlerweile sitzt der Staatsanwalt in einem modernen Büro, hat Dutzende | |
| Ermittler unter sich – und, ganz wichtig: Die handgeschriebenen | |
| Gacaca-Akten werden nach und nach digitalisiert. Das macht das gezielte | |
| Suchen nach Namen, Tatorten und Zeugen einfacher. Insgesamt sind es 49 | |
| Millionen Dokumente, die in mühsamer Handarbeit eingescannt und mit | |
| Schlagworten versehen werden, damit Ermittler in anderen Ländern diese | |
| digital abrufen können. | |
| Eine aufwendige Arbeit, aber es lohnt sich. Immer wieder kommen | |
| Völkermordvorwürfe jetzt in Ruanda zur Anklage. Und seit der Gründung | |
| seiner Abteilung hat Siboyintore mitgeholfen, 1.149 Anklagen in 33 Ländern | |
| weltweit zu erheben. 30 Angeklagte wurden nach Ruanda ausgeliefert, um sie | |
| in ihrer Heimat vor Gericht zu stellen, vor allem aus den Niederlanden, USA | |
| und Schweden. 29 weitere mutmaßliche Täter kamen in anderen Ländern vor | |
| Gericht. | |
| ## Die Zeit läuft den Ermittlern davon | |
| „All die sogenannten großen Fische, die den Völkermord mitgeplant haben, | |
| sind mittlerweile hinter Gittern“, zeigt sich der Staatsanwalt zufrieden. | |
| Das ist die Kategorie 1: hochrangige Politiker von 1994, Kommandanten der | |
| damaligen Armee, Zeitungs- und Radiodirektoren, die als Planer und | |
| Hauptverantwortliche gelten, weil sie zum Völkermord aufgerufen hatten. Das | |
| 1995 in der tansanischen Stadt Arusha gegründete UN-Sondertribunal für | |
| Ruanda (ICTR) verurteilte in 20 Jahren 61 hochrangige Verantwortliche des | |
| Völkermordes. 14 Angeklagte wurden freigesprochen. | |
| 2015 wurde das ICTR geschlossen und die noch ausstehenden Fälle entweder an | |
| die ruandische Justiz oder an einen „Übergangsmechanismus“ übertragen, | |
| dessen Büros im niederländischen Den Haag angesiedelt sind. Der jüngste | |
| Ruanda-Fall, der dort verhandelt wurde, ist der von Félicien Kabuga, einer | |
| der reichsten Geschäftsmänner Ruandas vor 1994 und ein enger Vertrauter des | |
| damaligen Hutu-Präsidenten Juvénal Habyarimana. Er war Mitgründer des | |
| Hetzradios „Mille Collines“, das zum Massenmord an den Tutsi aufrief, und | |
| stellte laut Anklage den Hutu-Milizen, die maßgeblich das Töten besorgten, | |
| Geld und Fahrzeuge zur Verfügung. | |
| Lange Zeit stand Kabuga ganz oben auf Siboyintores Liste. Aber erst 2020 | |
| wurde er nahe Paris geschnappt. Frankreichs Behörden überstellten ihn nach | |
| Den Haag. Das dortige Übergangsgericht erklärte den mittlerweile | |
| 90-Jährigen im Juni 2023 allerdings für verhandlungsunfähig. Immerhin: Er | |
| sitzt nach wie vor in Den Haag ein, denn kein Land will ihn aufnehmen. „Wir | |
| waren so erleichtert“, sagt Siboyintore. „Wir hatten schon Angst, er stirbt | |
| irgendwo aufgrund seines hohen Alters, ohne sich vor Gericht verantworten | |
| zu müssen.“ | |
| Doch Kabugas Fall habe gezeigt, dass ihnen die Zeit davonlaufe. Immer | |
| wieder werden Gesuchte inzwischen in anderen Ländern für tot erklärt und | |
| die Akten geschlossen. Nicht nur die Täter, auch Zeugen werden alt, ihr | |
| Gedächtnis lässt nach. „Und einige Länder haben immer noch eine lange Liste | |
| und viele Hausaufgaben zu tun“, so der Staatsanwalt. | |
| Immerhin ist vor allem in die Zusammenarbeit mit Frankreich Bewegung | |
| gekommen, das 1994 noch die Völkermordregierung unterstützt und seine Rolle | |
| lange geleugnet hatte. Im Februar war Frankreichs oberster Staatsanwalt in | |
| Ruanda und sagte Siboyintores Einheit eine engere Kooperation zu. 47 Fälle | |
| in Frankreich stehen auf Siboyintores Liste, erst 7 wurden verurteilt, aber | |
| nun will Frankreich die verbleibenden mutmaßlichen Täter selbst anklagen. | |
| ## Auch in Deutschland leben noch Täter | |
| Die meisten Gesuchten verstecken sich nach wie vor in Ruandas | |
| Nachbarländern, ist sich der Staatsanwalt sicher: [3][In der Demokratischen | |
| Republik Kongo] vermutet er 408 mutmaßliche Völkermordtäter, in Uganda 278, | |
| in Malawi 63, in Tansania 52, in Kenia 35. Dazu 40 in Belgien und 23 in den | |
| USA. Und 5 in Deutschland. | |
| Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe hat ihre Hausaufgaben gemacht. Von den | |
| fünf Personen auf Siboyintores Liste wurden zwei verhaftet. Der ehemalige | |
| ruandische Bürgermeister Onesphore Rwabukombe, der seine Bürger zur | |
| Teilnahme an einem Massaker an Hunderten in eine Kirche geflüchteten Tutsi | |
| aufgefordert hatte, wurde 2015 vom Oberlandesgericht Frankfurt zu | |
| lebenslanger Haft verurteilt. Der ehemalige Hochschullehrer Jean | |
| Twagiramungu, der 1994 seine Studenten zum Eintritt in die Mordmilizen | |
| aufgefordert hatte, wurde im August 2017 aus Deutschland nach Ruanda | |
| ausgeliefert und im Februar 2023 zu 25 Jahren Haft verurteilt. | |
| „Dafür sind wir den Deutschen bis heute dankbar“, sagt Siboyintore und | |
| zeigt auf seine Liste unter dem Schlagwort „Deutschland“. Dort stehen noch | |
| immer drei ruandische Namen. Einer ist durchgestrichen: Er soll verstorben | |
| sein, doch eine Sterbeurkunde haben Ruandas Staatsanwälte nie gesehen. | |
| Bleiben noch zwei. Die deutschen Behörden versichern der taz: Ermittlungen | |
| laufen. | |
| 6 Apr 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Simone Schlindwein | |
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