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# taz.de -- Israelischer Psychologe über Krieg: „Die Soldatenmatrix ist hart…
> Robi Friedman beschäftigt sich schon lange mit der Frage, wie Krieg eine
> Gesellschaft verändert. Jetzt kann er es in seiner Heimat Israel
> tagtäglich erleben.
Bild: Der israelische Psychologe Robi Friedman in seinem Wohnzimmer in Haifa
wochentaz: Herr Friedman, der 7. Oktober, an dem Terroristen der Hamas ein
Massaker mit über tausend Toten in Israel verübten und zahlreiche Geiseln
nahmen, ist ein halbes Jahr her. Wie geht es Ihnen inzwischen?
Robi Friedman: Das hängt davon ab, wie es meiner Familie geht, meiner
jüngsten Tochter und meinen drei Enkeln. Wenn sie einen guten Tag haben,
habe ich auch einen guten Tag. Wenn sie einen schlechten Tag haben, geht es
auch mir und meiner Frau schlecht. Im Großen und Ganzen versuche ich zu
akzeptieren, dass es jetzt so ist. Dass mein Schwiegersohn nie wieder zur
Tür hereinkommen wird.
Er hat sich am 7. Oktober freiwillig als Soldat zum Einsatz gemeldet und
wurde in einem Kibbuz erschossen.
Ich habe lange gebraucht um zu verarbeiten, was wirklich passiert ist. Als
mein Schwiegersohn von den schweren Angriffen auf diese Kibbuzim, auf diese
Dörfer erfahren hat, muss das einen wahnsinnigen Druck auf ihn ausgeübt
haben: einzugreifen, den Menschen dort zu helfen. Am Morgen war er noch zu
Hause, und zwei oder drei Stunden später hat er total vergessen, dass er
eine Familie hat. Das zu akzeptieren ist schwer. Aber in so einer Situation
kämpft man selbstlos. Ich würde sagen, die eigenen Leute bedingungslos zu
verteidigen ist ein Instinkt.
Hadern Sie mit seiner Entscheidung?
Er ist umgekommen, und ich sehe seine Familie. Da gibt es zwei
Perspektiven, die im Konflikt miteinander stehen. Aber nein, ich hadere
nicht. Man denkt, man hat eine Wahl. Wenn dann etwas passiert wie am 7.
Oktober, dann ist die Wahl plötzlich weg. Man muss kämpfen. Ich habe mit
meiner Frau darüber gesprochen. Ich hätte das auch gemacht. Und jeder, der
in so einem Gefecht ist und lebend rauskommt, der weiß: Er hat Glück
gehabt. So etwas passiert auch dem besten Soldaten.
Ihre Enkelkinder sind sechs, neun und bald elf Jahre alt. Wie geht es ihnen
und Ihrer Tochter?
Eine Mutter muss einen Weg finden, um den Kindern das Gefühl zu geben, dass
alles einigermaßen läuft. Meine Tochter verarbeitet die Dinge kreativ. Auf
Facebook führt sie ein Tagebuch, sie zeichnet Comics und schreibt Lieder.
Interessant war, was mein Enkel gesagt hat, in der ersten Stunde, nachdem
er vom Tod seines Vaters erfahren hatte. Ich war mit ihm ein bisschen
spazieren, und er sagte: Großvater, mein Vater ist jetzt tot, und ich weiß
nicht mehr, wer ich bin. Das ist wie ein Wegweiser. Die Hinterbliebenen
wissen nicht mehr, wohin. Alles fällt auseinander. Sie müssen sich erst
wieder orientieren. Inzwischen hat sich das stabilisiert.
Ihr Enkel hat wieder ein wenig Halt gefunden?
Ja, alle drei Enkel, glaube ich. Er hat Halt gefunden und verliert ihn dann
plötzlich wieder. Emotional geht es immer noch weit rauf und runter. Aber
man sieht, es ist ein Prozess.
Sie sind Psychologe und ein international anerkannter Gruppenanalytiker.
Nach dem 7. Oktober war das Entsetzen, der Schmerz, die Wut in Israel
riesig. Was beobachten Sie, wo steht die israelische Gesellschaft heute?
Am Anfang hat die Existenzangst alles dominiert. Dass die Hamas-Kämpfer die
Grenzmauer überwinden konnten an Dutzenden Orten, war ein Schock. Was sie
den Menschen angetan haben, dass sie sich dabei gefilmt haben, das hat
einen wahnsinnigen Terror verbreitet. Auch meine arabischen Patienten
hatten große Angst, sie sind in den Augen der Hamas ja die Ungläubigen.
Alle Leute haben gedacht: Jetzt bin ich unsicher in meinem eigenen Land.
Viele, Linke wie Rechte, [1][wollten eine Waffe haben].
Und heute?
Im Norden Israels ist die Angst immer noch groß, man weiß nicht, was die
Hisbollah plant. Andernorts fühlen sich viele wieder etwas sicherer. Die
größte Veränderung gibt es im Umgang mit dem Krieg. Am Anfang meinte man,
man müsse mit einer Stimme sprechen, mit einer Stimme denken. Man hörte
überall den Slogan: Wir werden zusammen gewinnen, ob links oder rechts
spielte keine Rolle.
Die Gesellschaft rückte zusammen.
Diese Einheit ist immer erstaunlich in Kriegen. Bei den Nazis damals war
der Spruch: Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Man sieht es auch im
russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Ich vermittle öfters in
Konflikten und arbeite auch mit Russen. Selbst wenn sie Familie in der
Ukraine haben, sind viele für Putin, weil sie meinen, sie müssten mit einer
Stimme sprechen. In Israel ist das schon wieder etwas anders. Die
Diskussion, ob die Befreiung der Geiseln Priorität haben sollte, spaltet
die Gesellschaft. Die Demonstrationen für die Geiseln gehen immer öfter
über [2][in Proteste gegen die Regierung].
Sie haben schon vor längerer Zeit eine Theorie entwickelt, wie ein Krieg
die Gesellschaft verändert, die „Soldatenmatrix“. Was verbirgt sich
dahinter?
Eine Matrix ist eigentlich eine Kultur. Der Begriff beschreibt die Kultur
der Beziehungen, die Kultur der Kommunikation und ihren Sinn. Die
Geschichte, die Erinnerungen sind auch Teil der Matrix. Sie prägt die
Gespräche, aber auch die Berichterstattung in den Medien und das Internet.
Wenn es Krieg gibt, dann verändert sich die Matrix. Wie auf Knopfdruck
werden alle zu Soldaten, die gesamte Bevölkerung wird eingezogen. Natürlich
müssen nicht alle kämpfen, aber jeder hat eine Rolle in diesem Krieg.
Deshalb habe ich mein Konzept „Soldatenmatrix“ genannt.
Was tun die, die nicht kämpfen?
In Israel haben Leute den Soldaten Essen gebracht, andere helfen in den
Kliniken oder unterstützen Flüchtlinge aus den Kibbuzim oder aus dem
Norden, die in Hotels wohnen. Es haben so viele Hilfe angeboten. Allein in
meinem Arbeitsbereich haben sich 2.500 Psychologen, Sozialarbeiter und
Psychiater freiwillig gemeldet, um mit Menschen zu reden, die terrorisiert
wurden, um Posttraumata zu verhindern.
Sie meinen: Alle stellen sich in den Dienst der Sache?
Ja. Der Krieg verändert das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Man
stellt sich selbst zurück. Es ist erst mal nicht wichtig, wie viel Geld ich
verdiene, wie es meiner Familie geht, sondern was ich tun kann für die
Gemeinschaft. Es gibt eine große Solidarität.
Und dazu gehört auch, dass alle mit einer Stimme sprechen?
Erst mal ja. Die Linksliberalen in Israel haben ein Jahr lang [3][viel
gegen die Regierung demonstriert]. Meine Frau und ich, wir sind jeden
Samstagnachmittag bis in die Nacht bei den Demonstrationen gewesen. So
etwas hatte ich noch nicht erlebt. Mit dem 7. Oktober war das vergessen.
Menschen von beiden Seiten haben zusammen gekämpft. Die Kampfgruppe ist für
Soldaten das Wichtigste. Nach dem Tod meines Schwiegersohnes haben wir viel
Zuspruch von allen Seiten bekommen.
Sie meinen, auch von Menschen, die politisch anders denken?
Ja. In der jüdischen Tradition bleibt die Familie nach dem Begräbnis sieben
Tage zu Hause und alle kommen vorbei: Verwandte, Freunde, Nachbarn. Sie
bringen Essen, man sitzt zusammen. Es waren Menschen bei uns, die hatte ich
jahrelang nicht gesehen. Die Spaltung war auf einmal weg.
Ihr Schwiegersohn hat sein Leben gegeben für die Menschen in den Kibbuzen.
Wird er dafür verehrt?
Meinem Schwiegersohn war Ruhm zuwider. Er und die anderen dort in den
Dörfern haben gegen die Existenzangst gekämpft. Aber später kam der Ruhm
doch. In der Soldatenmatrix trauert man, indem man jemanden idealisiert,
man macht ihn zum Helden. Als wir ihn begraben haben, sind Tausende
gekommen. Enorm viele haben so von ihm gesprochen.
Wie war das für Ihre Familie?
Meine Tochter konnte das am Anfang überhaupt nicht annehmen. Sie hat ihn ja
nicht als Soldat geliebt, sondern als Mensch. Mein Schwiegersohn war ein
typischer Anti-Autoritärer, er hatte das Militär nicht gerne. Er wusste,
wir können ohne nicht existieren, aber er wollte kein Held sein. Und dann
kommen Leute und behaupten das, weil es ihnen hilft, den Tod zu
akzeptieren. Man sollte ihnen diesen Trost nicht nehmen. Heute sagt meine
Tochter: Auf eine Art war er ja ein Held, auch wenn er es nicht wollte.
Wenn in einem Krieg alle zusammenrücken, gibt das sicher viel Kraft. So
eine Einheit kann aber auch mit einem Zwang zum Konformismus einhergehen,
oder?
Ja, es bedeutet Uniformität. Diese Einheit, die es nach dem 7. Oktober gab,
war zum Teil illusionär. Mit dem Überfall der Hamas haben wir [4][das
wenige Vertrauen in die Regierung verloren, das wir noch hatten]. Auch die
Armee hat nicht funktioniert. Wir brauchen aber Vertrauen, um das Trauma zu
überwinden. Die politische Spaltung wird jetzt wieder sichtbar.
Israelis, die gegen den Krieg sind, haben es in der öffentlichen Debatte
schwer.
Das ändert sich. Ich höre im Radio Mütter, die sagen: Meine Tochter gehört
nicht der Armee, die gehört mir. Wenn man so etwas während eines Krieges
sagen kann, dann hat man relativ viele Freiheiten. Aber ja, wir sind im
Krieg. Jedes Mal, wenn ich das Radio einschalte, habe ich Herzklopfen. Wie
viele Soldaten sind gestorben, [5][was ist mit den Geiseln]? Solange sie in
einer so großen Gefahr schweben, ist es schwer, von der Uniformität
wegzukommen. Ich glaube, ein langer Waffenstillstand könnte das ändern.
Sind Sie für einen Waffenstillstand?
Wenn ein Waffenstillstand die Geiseln retten würde, wäre ich dafür. Ich
wäre auch dafür, wenn er eine Chance bieten würde, dass die Hamas den
Gazastreifen verlässt, dass die Menschen dort von der Diktatur befreit
werden und es eine palästinensische Regierung gibt, die den Staat Israel
akzeptiert. Dass die Hamas bleibt, ist die schlechteste Option. Sie will
uns zerstören. Ich möchte, dass meine Kinder und Enkel in Frieden leben
können, dass sie nicht umkommen. Dass man Frieden schließen kann mit
Menschen, die denken, dass Israelis oder Juden nicht existieren dürfen, das
bezweifle ich.
Die starke Solidarität mit den eigenen Leuten ist eine Seite des Krieges,
eine andere ist der Verlust von Empathie für den Feind.
Auch das gehört zur Soldatenmatrix. Nur so kann man töten. Man verliert die
Empathie, man verliert die Schuldgefühle. Man schämt sich nicht mehr für
das, was man dem Feind antut. Am Schluss ist der Andere kein Mensch mehr.
In Deutschland konnte man die Entwicklung sehen, von den Nürnberger
Rassegesetzen 1935 bis zur Wannseekonferenz. Juden, Sinti und Roma, Polen,
sie wurden entmenschlicht. Heute beschleunigen Fake News so einen Prozess.
Selbst Menschen, die sonst eher kritisch wirken, glauben gerne, auf der
anderen Seite stünden nur Faschisten. Je größer die Identifikation mit der
Soldatenmatrix, desto bereitwilliger glauben Menschen so etwas. Fake News
helfen, den Feind zu verachten, zu hassen. So eine Dehumanisierung macht
allerdings auch etwas mit einem selbst.
Was meinen Sie?
Wenn man das Leben nicht schätzt, fällt das früher oder später auch auf
einen selbst zurück. Die Hamas hat den Tod von über tausend Menschen
gefeiert, ohne jede Empathie. Es wurden Frauen vergewaltigt und gefilmt. Es
wurden Kinder zerstückelt und gefilmt. Das hat einen Einfluss auf die, die
das machen.
Welchen?
Auch das Leben der eigenen Kämpfer ist für die Hamas unwichtig. Wenn jemand
stirbt, ist das nicht schlimm, er wird zum Märtyrer, er bekommt Ruhm. Das
Versprechen von Ruhm ist – neben der Existenzangst – ein wichtiger Antrieb
der Soldatenmatrix.
Wenn die Dehumanisierung auf einen selbst abfärbt, gilt das auch für
Israel? Die Armee hat Zehntausende im Gazastreifen getötet.
Anders als bei der Hamas ist bei uns jeder Tod eines Soldaten etwas sehr
Schlimmes. Es stimmt, dass bei den Bombardements gerade zu Beginn die
Hemmungen gering waren, es sind sehr viele in Gaza umgekommen. Man hat das
im israelischen Fernsehen dann nicht mehr gezeigt. Man hat die Zahl der
Toten nicht mehr genannt. Die Leute in Israel wollen nicht mit dem Schmerz
der Bevölkerung in Gaza in Kontakt kommen, sie wollen nicht mitleiden. Das
wird ins Unbewusste verdrängt, es macht sich anders bemerkbar.
Wie denn?
Ich rede mit meinen Patienten auch über ihre Träume. Ich habe selbst viel
geträumt in den letzten Monaten. Ich weiß, diese Dinge sind da, aber ich
will davon nichts wissen.
Darf ich fragen, was Sie geträumt haben?
Ich habe zum Beispiel geträumt, dass ich als Soldat 200.000 Kindern in Gaza
helfen sollte, vom Norden in den Süden zu flüchten. Es war schwierig, die
Hamas hat auf uns geschossen. Die Kinder waren in Gefahr, und sie hatten
alle das Gesicht meines Enkels. Ich möchte diesen Traum nicht träumen, aber
etwas in mir träumt ihn. Die Empathie, sie ist da, genau wie die fehlende
Schuld, die fehlende Scham.
Sie waren früher selbst Offizier. Befassen Sie sich auch deshalb so
intensiv mit dem Thema Krieg?
Wahrscheinlich. Ich war drei Jahre bei der Armee, nach einem Jahr fing der
Sechs-Tage-Krieg an. Ich habe viel über Aggressionen nachgedacht. Die sind
ja nicht einfach angeboren, man lernt sie. Man lernt auch, Soldat zu sein.
Wobei ein guter Soldat nicht aggressiv ist, im Gegenteil, man muss die
Aggressionen zügeln können. Bei uns reden die Vertreter der Armee zurzeit
auch viel bedachter als unsere Politiker.
Der israelische Verteidigungsminister Joaw Galant hat vom Kampf gegen
„menschliche Tiere“ gesprochen.
Er steht voll unter dem Einfluss der Soldatenmatrix. Für mich zeigen solche
Aussagen, dass dieser Mann nicht professionell ist. Er hat das kurz nach
dem 7. Oktober gesagt, und er hat sicherlich für einen Teil der
Gesellschaft gesprochen. Die Hamas und die Palästinenser wurden gehasst,
man hat alle in einen Topf geworfen. Es gibt Umfragen, dass eine Mehrheit
in Gaza die Hamas unterstützt. Aber das sind ja doch unschuldige Leute, die
sich mit dem nationalen Bedürfnis identifizieren, so etwas passiert sehr
leicht. Als Minister sollte Galant die Rachegefühle nicht auch noch
anstacheln.
Sie selbst versuchen, sich von der Soldatenmatrix freizumachen?
Natürlich. Ich habe das Konzept entwickelt, damit wir verstehen, wo wir
sind. Es ist ein Versuch zu reflektieren, was im Krieg mit uns passiert.
Sobald wir das reflektieren, haben wir eher eine Wahl, wie stark wir uns
mit der Matrix identifizieren wollen. Das heißt nicht, dass wir uns ganz
davon freimachen können. Selbstlos kämpfen müssen wir trotzdem, wenn es
drauf ankommt.
Wenn das Mitgefühl fehlt und es einen Zwang zur Konformität gibt, ist das
bedenklich. Andererseits ist es sicherlich richtig, in einer Bedrohungslage
zusammenzurücken. Ist die Soldatenmatrix nun gut oder schlecht?
Das lässt sich so nicht beantworten. Es gibt sie. Sie sichert das
Überleben, und sie wirkt seit Tausenden von Jahren überall auf der Welt.
Immer dann, wenn Menschen sich existenziell bedroht fühlen, auch nach
Naturkatastrophen oder in der Pandemie. Man kann allerdings sagen: Mit
einer liberalen offenen Gesellschaft verträgt sich die Soldatenmatrix
nicht.
Weil es dafür eine offene Debatte braucht?
Die liberale Gesellschaft funktioniert nur ohne Angst. Als Liberaler möchte
man nicht wissen, dass man eigentlich paranoid sein muss. Man muss aber
Angst haben, wenn im Nachbarland eine Diktatur herrscht wie die Hamas.
Oder, aus deutscher Perspektive, Putin in Russland. Das ist ein Paradox in
unserem zivilen Leben. Am besten ist es, wenn man eine Armee hat, die sich
darum kümmert. Ein Teil der Regierung muss sich auch damit befassen, damit
alle anderen ruhig schlafen können. Wir Liberalen, wir wollen schlafen.
Schlafen klingt so unwissend, naiv. Pazifist*innen würden sagen: Eine
friedliche Welt ist kein Traum, sondern eine politische Option, auf die man
hinarbeiten muss.
Auch Freunde von mir sind Pazifisten und es ist gut, dass es in einer
liberalen Gesellschaft diese Stimmen gibt. Aber ich würde sagen, das ist
mehr ein guter Glaube als die Realität. Wenn du den Frieden gerne hast,
musst du wachsam sein und dich stärken.
Hätten Sie das vor dem 7. Oktober auch gesagt?
Ja, das habe ich auch vorher so gesagt. Ich habe am 7. Oktober etwas
Anderes gelernt. Wenn jemand mit mir nicht reden will, dann hat das eine
größere Bedeutung, als ich dachte. Die Hamas will nicht nur nicht reden,
sie will mich umbringen. Sie würde alle Israelis umbringen, wenn sie es
könnte. Das ist mir erst durch den 7. Oktober richtig klar geworden,
leider.
Sie haben oft in Konflikten vermittelt, auch zwischen Palästinensern und
Israelis. Was glauben Sie, wie es in Israel weitergeht?
Soldatenmatrizen bewirken immer einen Rechtsruck. Viele junge Israelis, die
im Kampf waren, sind voller Hass gegenüber Arabern. Ich habe Angst, dass
dieser Hass politische Folgen hat. Die meisten Araber in Israel haben das
Massaker vom 7. Oktober scharf verurteilt. Ich hoffe, dass sie einen Platz
in der Regierung bekommen, dass auch sie eine Stimme haben.
Und was den Krieg betrifft?
Es muss jemanden geben, der beiden Seiten sagt: Krieg ist keine Lösung.
Beide Seiten müssen sich am Ende bewegen, sie müssen sich verständigen.
Glauben Sie, dass eine Verständigung auch langfristig tragen könnte?
Soldatenmatrizen sind hartnäckig. Wenn man sich einmal klar mit etwas
identifiziert hat, auch wenn es etwas Schlimmes ist, dann versucht man das
zu erhalten. De-identifizieren ist sehr schwierig und kann Generationen
dauern. Aber es ist möglich. Ich habe gemeinsam mit Partnern „Voices after
Auschwitz“ organisiert: Kinder und Enkel von Nazis haben dabei mit Kindern
und Enkeln von Holocaustüberlebenden gesprochen, sechs Mal drei Tage lang.
Sie haben in einer Art miteinander geredet, die kritisch und selbstkritisch
war, fast liebevoll, mit einer großen Nähe. Einen schlimmeren Feind als die
Nazi-Gesellschaft hatten wir noch nie. Das gibt mir Hoffnung.
7 Apr 2024
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