# taz.de -- Bewaffnung von Zivilisten in Israel: Bürger mit Gewehren | |
> Seit dem 7. Oktober gründen sich in Israel immer mehr jüdische Milizen. | |
> Für einige bringt das ein Gefühl von Sicherheit, für viele andere Angst. | |
Bild: Chaim Messika (Mitte), hier mit Mitgliedern des Notfallkommandos in Jerus… | |
GILO/ BETLEHEM taz | Mosche rückt sein Maschinengewehr zurecht und zeigt | |
mit dem Finger einmal im Kreis auf die umliegenden Hügel. „Wir sind | |
umzingelt von Feinden“, sagt der Rechtsanwalt und Anführer des zivilen | |
Notfallkommandos von Gilo bei Jerusalem. Auf seiner Mütze steht „Polizei“, | |
er trägt eine olivgrüne kugelsichere Weste. Auf seinen Befehl stürmt ein | |
Dutzend schwer bewaffneter junger Männer die Eingangshalle der Synagoge | |
der Siedlung. Die Freiwilligen haben sich nach dem Überfall der Hamas im | |
Oktober zusammengetan und trainieren für den Fall eines Terrorangriffs. | |
Nach den Massakern der Hamas im Süden des Landes mit mehr als 1.100 toten | |
Israelis und rund 250 in den Gazastreifen verschleppten Geiseln blieben die | |
befürchteten Zusammenstöße zwischen arabischen und jüdischen Israelis aus. | |
Trotzdem ist für viele in Israel das Gefühl von Sicherheit dahin. Ende | |
vergangenen Jahres gab jeder zweite jüdische Israeli bei einer Umfrage des | |
Instituts für Nationale Sicherheitsstudien an, Angst vor Angriffen | |
arabischer Mitbürger zu haben. | |
Mehr als 900 Bürgermilizen, auf Hebräisch „Kitat Konenut“, gründeten | |
jüdische Israelis seitdem im ganzen Land. Wie hier in Gilo, das | |
gleichzeitig ein Stadtteil von Jerusalem ist und eine völkerrechtlich | |
illegale Siedlung im israelisch besetzten Westjordanland. Aber auch | |
[1][im weltoffenen Tel Aviv], in [2][Aschkelon] und Hunderten weiteren | |
Orten des Landes gibt es seither solche schwer bewaffneten | |
Notfallkommandos. | |
Mosche, ein muskulöser Mann mit Vollbart und Schläfenlocken, möchte seinen | |
Nachnamen für sich behalten. Er war mal Sozialarbeiter, heute vertritt er | |
als Anwalt Minderjährige, die nicht mehr bei ihren Familien leben können – | |
wenn er gerade keine Kampfausrüstung trägt. Bis 2003 diente er in einer | |
Spezialeinheit der Armee, vor allem im Gazastreifen. | |
## Bewaffnete Bürgerwehren | |
Am 7. Oktober waren es in mehreren Ortschaften [3][die Wachteams der | |
Kibbuzsiedlungen], die die Angreifer der Hamas aufhalten konnten, bis | |
Soldaten eintrafen. Während seine Männer Raum für Raum der Synagoge | |
durchkämmen, sagt Mosche: „Es reicht nicht mehr, dass wir eine Armee haben. | |
Alle Bürger müssen jetzt dort, wo sie leben, eine Armee sein.“ Gemeint sind | |
jüdische Bürger. Die rund 20 Prozent arabische Israelis sind von den | |
Bewaffnungen im Schnellverfahren schon deshalb ausgeschlossen, weil sie | |
anders als ihre jüdischen Mitbürger in der Regel keinen Wehrdienst | |
geleistet haben. | |
Die etwa 15 Männer der Schutztruppe, zur Hälfte religiöse Juden, zur Hälfte | |
säkulare, haben sich in der Eingangshalle des Gebäudes gesammelt. Viele | |
tragen zusätzlich zum Sturmgewehr noch eine Handfeuerwaffe oder ein Messer | |
am Gürtel. Stufe für Stufe steigen sie in Grüppchen in die engen Gänge des | |
Bunkers unter der Synagoge hinab. Gedämpft dringen ihre Rufe nach oben: | |
„Raum links, sauber.“ „Zwei nach rechts.“ | |
Ursprünglich kommen die bewaffneten Bürgerwehren aus den Tagen vor Israels | |
Staatsgründung, als viele jüdische Gemeinden zur Verteidigung gegen ihre | |
arabischen Nachbarn bewaffnete Gruppen aufstellten. Nach 1948 verloren sie | |
an Bedeutung. Die Einheiten sollen im Falle eines Angriffs als Reserve für | |
die Polizei eingesetzt werden. Die Tausenden Freiwilligen werden dafür in | |
Abstimmung mit den lokalen Polizeidirektionen koordiniert, trainiert und | |
ausgerüstet. Vor dem Gazakrieg gab es weniger als einhundert von ihnen, vor | |
allem in besonders gefährdeten Dörfern und Städten, etwa an der Grenze zum | |
Gazastreifen sowie im Westjordanland. | |
Am 19. Oktober weitete der Minister für Nationale Sicherheit, [4][Itamar | |
Ben-Gvir], selbst ein Siedler und Rechtsextremer, die Liste gefährdeter | |
Ortschaften deutlich aus. Dazu ließ der Scharfmacher, der als junger Mann | |
Parolen wie „Tod den Arabern“ rief, sich medienwirksam beim Verteilen | |
Dutzender Maschinengewehre fotografieren. Die Voraussetzung für Mitglieder | |
ist vor allem, den Wehrdienst in der Armee abgeschlossen zu haben. Das | |
trifft wegen der allgemeinen Wehrpflicht auf fast alle jüdischen Israelis | |
zu. | |
## Sorge um vulnerable Gruppen | |
Der Anwältin Anne Suciu von der israelischen Bürgerrechtsbewegung ACRI | |
bereitet das Sorgen. „Von einem Moment auf den anderen haben | |
Hunderttausende Menschen potenziell Zugang zu schweren Waffen bekommen.“ | |
Zusammen mit der massiv gestiegenen Zahl an privaten Pistolen liege darin | |
eine Gefahr für besonders vulnerable Gruppen: Frauen, psychisch instabile | |
Menschen, Minderheiten. | |
Dass die bewaffneten Hilfspolizisten auch Patrouillen unternehmen können, | |
sei vor allem für die 20 Prozent [5][israelische Araber] eine Gefahr. „Die | |
Gesellschaft sieht Palästinenser zunehmend als Bedrohung.“ Die Hemmschwelle | |
für Schüsse sinke. Gleichzeitig haben arabische Ortschaften in der Regel | |
nicht die Möglichkeit, Sicherheitsteams aufzustellen. „Du kannst in | |
derselben Region jüdische Dörfer finden, die eine Kitat Konenut aufstellen, | |
und direkt daneben Orte, die das nicht können“, sagt Anwältin Suciu. | |
Geht es nach Mosche in Gilo, soll das auch so bleiben: „Ich habe am 7. | |
Oktober als Erstes die Türe abgeschlossen, als ich hörte, dass Araber in | |
jüdische Dörfer eingedrungen sind“, sagt er. Seitdem haben mehr als 300.000 | |
Israelis Waffenlizenzen beantragt, vor dem Krieg waren es 150.000 Besitzer | |
privater Waffen. Rund 80.000 Anträge wurden bereits im Eilverfahren | |
genehmigt. Der zuständige Minister Ben-Gvir hatte die Regelungen dafür so | |
weit erleichtert, dass israelische Journalisten zwischenzeitlich mit einem | |
Telefonanruf eine Waffenlizenz erhielten. Auch hier schließen die Vorgaben | |
nichtjüdische Bewerber weitgehend aus. | |
Vom Vorplatz der Synagoge in Gilo fällt der Blick auf die benachbarten | |
Ortschaften zwischen den olivgrün bewachsenen Hügeln um Jerusalem: Nördlich | |
von Gilo liegen die arabischen Ortsteile Scharafat und Beit Safafa, im | |
Süden beginnen wenige Hundert Meter entfernt hinter der meterhohen | |
israelischen Sperranlage die palästinensischen Städte Bait Dschala und | |
Bethlehem im Westjordanland. | |
## Auf der anderen Seite der Betonmauer | |
„Wenn du von hier runterschaust, siehst du Kirchen und Moscheen, aber das | |
ist nicht das ganze Bild“, sagt Mosche. Stattdessen würden sie in Bethlehem | |
Bilder von „Terroristen“ aufhängen und Hakenkreuze an die Wände malen. Das | |
habe er selbst bei Google Street View gesehen. Selbst dort gewesen sei er | |
noch nie. In Europa und den USA würden das viele nicht verstehen. „Zwischen | |
Teheran und Washington liegen 10.000 Kilometer, aber von hier bis zu | |
unseren Feinden ist es einen Kilometer.“ | |
Auf der anderen Seite der acht Meter hohen Betonmauer in Bethlehem schenkt | |
Suhail Khalilieh schwarzen Kaffee ein. Vom Büro des 54-Jährigen fällt der | |
Blick auf die Siedlung Har Choma, deren Gebäude wie eine Festung auf dem | |
Hügel neben Gilo stehen. „Viele Palästinenser in den besetzten Gebieten | |
haben Angst“, sagt der politische Analyst, der seit 20 Jahren für das | |
palästinensische Institut für angewandte Forschung (ARIJ) die Entwicklung | |
israelischer Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten | |
beobachtet. | |
Seit Kriegsbeginn wurden mehr als 400 Palästinenser von israelischen | |
Sicherheitskräften oder Siedlern getötet, die meisten bei Razzien, eigenen | |
Anschlägen oder Zusammenstößen. Seit 2016 zählt der Experte 6.000 | |
gewaltsame Übergriffe durch Siedler, ein Drittel davon alleine seit Januar | |
2023. Sie reichen von [6][Angriffen auf Hirten] über Brandstiftung bis zu | |
bewaffnetem Eindringen in palästinensische Ortschaften. Vor dem 7. Oktober | |
habe die Armee noch mitunter mäßigend eingegriffen, nun handelten die | |
Soldaten meist nur noch, wenn Israelis bedroht würden. | |
Waffen in den Händen von jüdischen Zivilisten sind im Westjordanland laut | |
Khalilieh dabei nichts Neues. Zugenommen habe die Bewaffnung massiv, seit | |
vor rund 15 Jahren in mehreren Siedlungen Trainingszentren eröffnet wurden, | |
in der Regel geleitet von früheren Militärs. Zunächst seien die | |
Schießbahnen vor allem für die Sicherheitsteams der Siedlungen gewesen. | |
Über die Jahre seien sie für Besucher und schließlich für gewöhnliche | |
Touristen geöffnet worden. | |
## Beim Kampfsport und Schießtraining | |
Mit „Commando Tourism“ wirbt das Antiterrortrainingszentrum Caliber 3 in | |
der Siedlung Gusch Etzion südlich von Bethlehem. Unter den Angeboten finden | |
sich auf der Website ein „Teenager-Sommerlager“ für Jungen zwischen 15 und | |
17 Jahren. Auf dem Programm stehen Kampfsport, Schießtraining sowie | |
jüdische Geschichte. Die Fotos und Videos zeigen Minderjährige in | |
paramilitärischen Uniformen mit Luftdruckgewehren. | |
Wer sich der Anlage auf einer Hügelkuppe nähert, hört schon aus der | |
Entfernung das scharfe Peitschen der Schüsse. Hinter einem mit Stacheldraht | |
gesicherten Tor herrscht reger Betrieb. Männer und Frauen mit | |
Maschinengewehren und in Tarnkleidung laufen zwischen den Schießbahnen hin | |
und her. Unter einem Pavillon liegt ausreichend Schutzausrüstung, um einen | |
ganzen Zug Soldaten auszustatten. | |
Vor einem der Bürocontainer wartet eine Gruppe junger Frauen in der Uniform | |
der israelischen Grenzpolizei, dazwischen laufen Männer in olivgrüner | |
Kleidung. Bei vielen Gästen wird nicht auf den ersten Blick klar, ob sie | |
Soldaten oder private Besucher sind. Zu den Kunden gehört laut Angaben der | |
Betreiber auch die israelische Armee und die Polizei. Der dazugehörige | |
Laden bietet von Uniformen über Messer bis zu Waffen und Munition ein | |
breites Angebot. Alle Trainings und Verkäufe fänden „im Rahmen der | |
israelischen Waffengesetze statt“, heißt es im Büro. | |
Auch in Gilo betont man die Kooperation mit den Sicherheitsbehörden: „Wir | |
sind ein demokratisches Land und wollen keine unkontrollierten Milizen“, | |
sagt Chaim Messika, der als Freiwilliger die Zusammenarbeit zwischen der | |
Polizei und rund zwei Dutzend Sicherheitsteams in Jerusalem koordiniert. | |
Doch solange die Bedrohung durch militante Palästinenser nicht beseitigt | |
sei, gebe es zur Bewaffnung der Bevölkerung keine Alternative, sagt der | |
stämmige Mann: „Wir sind Juden, keine Christen. Wir werden nicht die zweite | |
Wange hinhalten.“ | |
Im Büro von ARIJ in Bethlehem zögert Khalilieh auf die Frage, ob er sich | |
zum Schutz eine eigene arabische Bürgermiliz wünschen würde. „In Bethlehem | |
hat niemand Waffen“, sagt er. „Wir sehen sehr gut, wie die israelische | |
Armee in Orten wie [7][Nablus, Dschenin] oder Tulkarem gegen bewaffnete | |
Gruppen vorgeht.“ Dort finden immer wieder Razzien statt, häufig sterben | |
Palästinenser, Militante ebenso wie Unbeteiligte. „Das will hier niemand, | |
die meisten wollen gleiche Rechte und dass ihre Kinder zur Schule gehen | |
können“, sagt er. „Doch die Menschen werden nicht endlos zusehen, wie | |
Freunde und Familienangehörige getötet werden.“ Er hofft auf Hilfe von | |
außen. Eine Friedenstruppe, die glaubhaft für die Sicherheit der | |
Palästinenser sorgen könnte, würden die Menschen hier annehmen, glaubt | |
Khalilieh. | |
31 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Felix Wellisch | |
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