| # taz.de -- Israelisches Krankenhaus an der Front: Retten, trauern, warten | |
| > Die Ärzte im Barzilai-Krankenhaus in Aschkelon behandeln die Opfer der | |
| > Hamas-Massaker. Und sie warten auf Verwundete der Bodenoffensive. | |
| Bild: In den Tagen nach dem Angriff der Hamas werden im Süden Israels Opfer de… | |
| Aschkelon taz | Ilena Markmann will keine Nachrichten mehr sehen. „Das | |
| Warten ist schwer auszuhalten“, sagt die Chirurgin in der Notaufnahme des | |
| Barzilai-Krankenhauses in [1][Aschkelon, rund 10 Kilometer vom Gazastreifen | |
| entfernt.] Hier im Krankenhaus haben sie die Verwundeten des | |
| Hamas-Massakers behandelt. Wenige Autominuten südlich stehen Zehntausende | |
| israelische Soldaten für einen Einmarsch in den Küstenstreifen bereit. | |
| Hier im Krankenhaus werden dann die Verwundeten ankommen. Darauf will die | |
| 35-Jährige vorbereitet sein. „Wir gehen immer wieder den Ablauf durch, was | |
| bei welchen Verletzungen zu tun ist“, sagt sie. | |
| Diesmal soll es besser laufen als am Samstagmorgen vor rund zwei Wochen. | |
| Sie habe gerade nach der Nachtschicht an einen Kollegen übergeben, als | |
| plötzlich die Sirenen heulten und ein Krankenwagen nach dem anderen | |
| Verletzte brachte: Kopfschüsse, klaffende Wunden, Kugeln in Lunge, Leber, | |
| Milz, abgerissene Gliedmaßen. Ein „Meer aus Verletzten“, erinnert sich die | |
| Chirurgin. „Alle waren extrem unter Stress“, sagt Ilena Markmann, der die | |
| Müdigkeit anzusehen ist. Und noch immer beschäftige sie, ob sie für die | |
| Verwundeten richtig entschieden habe. „Wir alle haben traumatische Szenen | |
| erlebt.“ | |
| An Durchatmen oder Verarbeiten ist jedoch kaum zu denken: Noch immer | |
| fliegen Raketen aus Gaza auf israelische Städte, heulen die Sirenen, | |
| bombardiert die israelische Luftwaffe Ziele in dem Küstenstreifen. 360.000 | |
| Reservisten hat die israelische Armee mobilisiert und scheint entschlossen | |
| zu sein, die Verstecke der Hamas in Gaza mit einer Bodenoffensive | |
| auszuheben. [2][Mehr als 200 Israelis befinden sich als Geiseln in der | |
| Gewalt der radikalislamistischen Gruppe] und ihrer Verbündeten. Die Folge | |
| könnte eine [3][Eskalation des Konfliktes mit der Hisbollah im Libanon] | |
| oder sogar darüber hinaus sein. | |
| ## Die Hamas-Kämpfer gesehen | |
| „Ich bin unter Schock“, sagt Markmann. „Ich verstehe noch nicht, in was w… | |
| da geraten sind.“ Ob es Psychologen für sie im Krankenhaus gibt? „Viele, | |
| aber keine Zeit“, sagt sie und lächelt müde. „Ich weiß, jetzt ist nicht … | |
| Moment, darüber nachzudenken.“ | |
| Neben ihr in der Eingangshalle der Notaufnahme steht ihr Kollege, der | |
| Assistenzarzt Assaf Osan. Er schläft wie viele im Krankenhaus, seit er vor | |
| zwei Wochen bewaffnete Hamas-Kämpfer aus dem Fenster seiner Wohnung im | |
| nahen Sderot sah und Schüsse hörte. Zwei Tage lang versteckte er sich mit | |
| seiner Familie zu Hause. | |
| Jetzt wohnen seine Frau und seine drei Kinder im Norden Haifas. Fast zwei | |
| Wochen sind seit dem Angriff vergangen, doch die Bilder aus der Notaufnahme | |
| verfolgen ihn. „Ich war zwölf Jahre lang Sanitäter, bevor ich Arzt wurde. | |
| Ich habe viele Terroranschläge gesehen“, sagt er. „Aber diese Brutalität | |
| noch nie.“ | |
| Im Barzilai-Krankenhaus ist der nahe Krieg überall sichtbar: Zweimal haben | |
| Raketen den Komplex direkt getroffen und eine Abteilung komplett, eine | |
| andere zum Teil zerstört. Ein Geschoss zerstörte das | |
| Kinderrehabilitationszentrum, das zu diesem Zeitpunkt bereits geräumt war. | |
| Im Innenhof liegen Schutt und Spielsachen, die Wände sind von Kratern und | |
| Löchern gezeichnet. Zwei Menschen überlebten im Schutzraum des Hauses. Die | |
| zweite Rakete traf einen Innenhof des Hauptgebäudes. Die Glasfassade des | |
| mehrstöckigen Krankenhauses ist von Schrapnellen weiterer Raketen | |
| gezeichnet, die in der Nähe einschlugen. | |
| Auf den Sofas im Eingangsbereich sitzen junge Soldatinnen und Soldaten, die | |
| Waffen griffbereit neben sich. Der Assistenzarzt Osan sagt, er hoffe, dass | |
| die Armee nach Gaza gehe. Es müsse eine Lösung her für diesen Ort. Seine | |
| sechs und zehn Jahre alten Kinder wüssten genau, was bei einem Luftalarm | |
| zu tun sei. „Es ist unmöglich, weiter so zu leben.“ Wie die Lösung ausseh… | |
| könnte? Osan zuckt die Schultern. | |
| Abseits der Rettungswagen haben Freiwillige ein Buffet für das Personal | |
| aufgebaut. Kostenlos geben sie Mittagessen, Sandwiches und Kaffee aus. | |
| „Viele können einfach nicht mehr zu Hause sitzen, sie wollen etwas tun“, | |
| sagt Tal Ovadia, auf dessen blauer Weste in großen Buchstaben | |
| „Sozialarbeiter“ steht. „Wir hören die Sirenen und die Explosionen der | |
| Bomben drüben in Gaza. Wir sind im Überlebensmodus.“ Sein Team sei für alle | |
| ansprechbar, egal ob Patienten oder Personal. Die Arbeit sei nötig: Viele | |
| Menschen hätten Angehörige oder ihr Zuhause verloren oder kämen mit | |
| Angstreaktionen. Außerdem hätten sie eine Vermisstenstelle eingerichtet. | |
| „Es ist gar nicht die Menge der Menschen, die uns zu schaffen macht, | |
| sondern was sie uns erzählen“, sagt Ovadia. Es gebe Geschichten wie aus | |
| Horrorfilmen. Zusätzlich seien alle in seinem Team selbst betroffen oder | |
| hätten Freunde, die jemanden vermissen oder verloren haben, sagt der | |
| 43-Jährige. Gemeinsam seien sie bei der Beerdigung des Sohnes einer | |
| Mitarbeiterin gewesen. Eine andere, die in einem Kibbuz nahe Gaza lebt, | |
| habe mit anhören müssen, wie Hamas-Terroristen im Nachbarhaus eine ganze | |
| Familie erschossen. „Und trotzdem arbeiten alle weiter.“ | |
| Die Bodenoffensive nach Gaza mache ihn nervös, sagt Ovadia, auch weil sie | |
| noch mehr Arbeit bedeuten werde. Viele Kollegen hätten Kinder und | |
| Angehörige in der Armee. Viele hätten Angst und wüssten nicht, was sie tun | |
| könnten. „Aber wir sind hier, was auch immer kommt.“ | |
| Angst haben in Israel derzeit auch viele arabische Israelis. Sie machen | |
| etwa 18 Prozent der Bevölkerung aus und viele sehen sich selbst als | |
| Palästinenser. Dass jüdische Stimmen angesichts des Hamas-Terrors von einem | |
| neuen Holocaust und palästinensische angesichts der israelischen Reaktion | |
| in Gaza [4][von einer neuen Nakba sprechen,] wie Palästinenser die | |
| Massenvertreibung im Krieg nach der Staatsgründung Israels nennen, bereitet | |
| vielen Sorge. | |
| Was die Hamas getan hat, könnte verändern, wie manche Leute arabische | |
| Menschen in Zukunft sehen würden, glaubt auch Mohammed Abu Hammed, | |
| arabisch-israelischer Medizinstudent und Praktikant in der Anästhesie am | |
| Barzilai-Klinikum. „Das gilt besonders für Menschen um Gaza, die am | |
| schlimmsten getroffen worden sind.“ | |
| Bisher habe er davon im Krankenhaus aber zum Glück noch nichts gemerkt, | |
| sagt der 26-Jährige. Stattdessen habe er sich schon am Sonntag nach dem | |
| Angriff gegen den Willen seiner Eltern ins Auto gesetzt und sei die 90 | |
| Kilometer von Arad nach Aschkelon zur Arbeit gefahren, bewaffnete | |
| Terroristen und Raketen hin oder her. „Sie brauchten Leute hier, also habe | |
| ich seitdem jeden Tag gearbeitet.“ | |
| Jetzt sitzt er mit zwei arabischen Kollegen auf der Terrasse im ersten | |
| Stock des Krankenhauses, nahe der Türe nach drinnen. Die Anspannung ist | |
| spürbar. Immer wieder heulen die Sirenen, manchmal kämen die Explosionen | |
| der Raketen sogar vor dem Alarm. | |
| Was sie über die angekündigte Bodenoffensive denken? „Sie ist schrecklich�… | |
| sagt Mohammed Abu Hammed, „aber sie ist auch eine Reaktion auf das, was | |
| vorher geschehen ist. Ich wünschte, wir hätten alles früher verhindern | |
| können.“ Jetzt gebe es keinen Weg mehr zurück. Sonst sei Politik bei der | |
| Arbeit aber kaum ein Thema. [5][Auch über den tödlichen Angriff auf das | |
| Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza am Dienstagabend] habe er bisher mit niemandem | |
| gesprochen. | |
| „Persönlich denke ich, es ist traurig, dass Ärzte solchen Gefahren | |
| ausgesetzt sind, egal von welcher Seite“, sagt Abu Hammed. Egal ob in Gaza | |
| oder Aschkelon sei es seine Aufgabe, Menschen zu helfen und Leben zu | |
| retten. Unter den Kollegen seien sie sich einig, dass die Gewalt aufhören | |
| müsse. | |
| Zwei Stockwerke tiefer geht Ilena Markmann Regeln zur Triage durch, das | |
| Sortieren von Verletzten, wenn nicht ausreichend Personal für alle | |
| verfügbar ist. Auch für sie ist ihre Verpflichtung als Ärztin klar: „Wir | |
| müssen jeden behandeln, da gibt es keine Wahl.“ Bis vor dem Krieg galt das | |
| im Barzilai-Krankenhaus regelmäßig auch für Palästinenser aus Gaza, die | |
| wegen schwerer Krankheiten eine seltene Sondererlaubnis bekommen hatten. | |
| Ob das in Zukunft noch einmal der Fall sein könnte, nach allem, was | |
| passiert ist? Zukunft sei jetzt nicht die Frage, sagt sie. „Wir müssen | |
| jetzt im Moment sein und unser Bestes tun.“ Aber sie wünsche sich, dass | |
| ihre Kinder den Krieg nicht mehr erleben müssen. „Dass sie nie erfahren | |
| müssen, wie viele Tote wir gesehen haben. Und dafür werde ich alles tun.“ | |
| 22 Oct 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Felix Wellisch | |
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