# taz.de -- Braunschweiger Kunstvereins-Chefin: Der richtige Zeitpunkt, um zu g… | |
> Jule Hillgärtners Zeit als Leiterin des Kunstvereins Braunschweig endet. | |
> Sie hinterlässt ein bundesweit anerkanntes, vorbildlich aufgeräumtes | |
> Haus. | |
Bild: Vermittelt künftig zwischen Kunst und Wissenschaft: Jule Hillgärtner ü… | |
Sieben Jahre: das scheint die magische Grenze zu sein für die Amtszeit | |
einer Direktorin am [1][Kunstverein Braunschweig]. Karola Grässlin hatte | |
diese Position von 1999 bis 2006 inne. 2007, nach dem unglücklichen | |
halbjährigen Intermezzo einer unmittelbaren Nachfolgerin übernahm den | |
Posten dann Hilke Wagner. Und verließ den Kunstverein 2014 wieder: in | |
Richtung Dresden, wo sie seitdem als Direktorin des Albertinums in den | |
Staatlichen Kunstsammlungen waltet. | |
Wenn Wagners Nachfolgerin Jule Hillgärtner, deren Amtszeit im November 2014 | |
begann, nun Ende März ausscheidet, wären das rechnerisch gut neun Jahre. | |
Aber sie hat sich zweimal Elternzeit genommen, jeweils für gut ein Jahr, | |
das hieß: zwei Interimsdirektionen, die eigene Akzente setzen konnten. | |
Zieht man diese Zeit ab, sagt Hillgärtner, waren es dann eben doch nur | |
etwas weniger als sieben Jahre. | |
Stets kam sie voller Elan in den Kunstverein zurück, verschickte umgehend | |
Informationen, auch zu ihren neuen Vorhaben. Denn während ihrer | |
Elternphasen blieb sie natürlich nie untätig. So konzipierte sie in ihrer | |
ersten Auszeit das große Rechercheprojekt zu Anton Wilhelm Amo, dem | |
[2][weitgehend vergessenen ersten Schwarzen Philosophen in Deutschland]. | |
Wenig historisch gesicherte Fakten sind zu ihm bekannt: Er wurde um 1700 im | |
heutigen Ghana geboren und verstarb dort vermutlich 1759. | |
Umso mehr Raum auch für wilde Theorien bietet seine Lebensgeschichte: | |
[3][vom „Kammermohren“ am Hofe Herzog Anton Ulrichs] über den Gelehrten der | |
Rechtswissenschaften und Philosophie, der in einer kühnen Dissertation den | |
menschlichen Leib und seine Sinnesorgane – nicht vorrangig den Intellekt – | |
als sensuelle Schnittstelle zur Welt postulierte, bis hin zum wohl | |
rassistisch angefeindeten, an mehreren Universitäten glücklos Lehrenden. | |
## Raum für Diskurs | |
Hillgärtner setzte auf die spekulative Kraft der Kunst, holte 16 | |
internationale Positionen ins Haus, die Person, Vita und aktuelle Relevanz | |
der Thesen Amos mit ihren Mitteln und Medien reflektierten: [4][„The | |
Faculty of Sensing“]. Corona geschuldet musste die Ausstellung 2020 als | |
rein digitales Angebot starten, erreichte später aber beachtlichen, auch | |
überregionalen Publikumszulauf. | |
Die Impulse durch [5][Bonaventure Soh Bejeng Ndikung], mittlerweile | |
Intendant des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin, die Förderung durch | |
die Kulturstiftung des Bundes – ganz allgemein die große Resonanz bis hin | |
zu einer Berliner Initiative zwecks Umbenennung der Mohren- in | |
Anton-Wilhelm-Amo-Straße. | |
Das ließ dieses Vorhaben nicht nur zum wohl umfangreichsten und finanziell | |
aufwendigsten in der Geschichte des Braunschweiger Kunstvereins werden, | |
sondern vor allem zu einer „großen Beglückung“, so Hillgärtner. Aber so | |
sieht sie eigentlich all ihre Ausstellungen: immer wieder gab es Neues, mit | |
dem sie sich befassen durfte! | |
Politisch geprägte Jahre seien es gewesen, resümiert sie: Kunst und | |
Ausstellungen waren demnach gefordert, sich mit großen, weltbewegenden | |
Themen zu befassen. 2015 kommentierte sie den Flüchtlingszustrom, von | |
manchen als Untergang des Abendlandes beschworen, mit einer | |
Gruppenausstellung zur – Gastfreundschaft. Und berief sich dabei auf den | |
französischen Philosophen [6][Jacques Derrida] und dessen unbedingte, gar | |
auf jegliche Identifikation des Gastes verzichtende Aufnahmebereitschaft, | |
die Fremden zudem zugesteht, noch jemanden mitbringen zu dürfen. | |
## Neue Formate etabliert | |
Hausintern etablierte Hillgärtner dabei [7][das Format des Gästezimmers]: | |
Jede:r Ausstellende lädt seitdem eine:n weitere:n Künstler:in ein zu | |
einem kleinen Beitrag ins historische Fremdenquartier der Kunstvereinsvilla | |
– als Randbemerkung, Ergänzung oder Assoziation. Sie bilden überraschende | |
Momente, oft aus anderen Disziplinen. Oder das Format des Duos „1:1“: Zwei | |
Künstler:innen teilten sich die Räume, mal symbiotisch wie bei Klara | |
Lidén und Karl Holmqvist,; mal geschossweise strikt getrennt wie bei Inge | |
Mahn und Nora Schultz. | |
Ob eine Nachfolge so etwas weiterführt? Immerhin: zum 1. Juli soll sie | |
geklärt sein, eine dreiköpfige Findungskommission um Ex-Direktorin Hilke | |
Wagner ist bereits eingesetzt. | |
Schon lange hatte Jule Hillgärtner ihre Aufgaben um kunstvereinsferne | |
erweitert: Sie war Teil der erweiterten Ankaufskommission der Sammlung | |
zeitgenössischer Kunst der Bundesrepublik Deutschland, „eine der schönsten | |
Aufgaben“, wie sie sagt. Aus Mitteln des [8][Post-Corona-Fonds „Neustart | |
Kultur“] hat sie etwa Arbeiten von Dennis Siering erwerben lassen. Der | |
Frankfurter versteht sich als wissenschaftsbasiert künstlerisch forschend, | |
zu Pyroplastik oder anderen zivilisatorischen Hinterlassenschaften in den | |
Weltmeeren. | |
Über den Jahreswechsel zeigte Hillgärtner ihn dann auch in Braunschweig. | |
Eingesetzt hat sie sich auch für Bärbel Lange, eine Künstlerin mit | |
Beeinträchtigung, die sie während ihrer zweiten Elternzeit in deren Kölner | |
Ateliergemeinschaft aufgesucht hatte – ihr gilt nun [9][die letzte | |
Ausstellung unter Hillgärtners Ägide]. | |
Zu den externen Tätigkeiten zählte auch die Beratung der [10][TU | |
Braunschweig] für ein künstlerisches Residenzprogramm, ähnlich dem am | |
CERN-Kernforschungszentrum bei Genf. Ein zweimonatiger Aufenthalt soll | |
Kunstschaffenden Einblicke in die Spitzenforschung der TU gewähren. | |
Fachrichtungen sind nachhaltiges Fliegen, Bauen und die Quantenphysik, | |
Ergebnisse sollen auf Festivals präsentiert werden. | |
„In der Wissenschaft besteht ein unmittelbares Interesse an der Kunst“, | |
sagt Hillgärtner. Für die promovierte Medienwissenschaftlerin auch eine | |
naheliegende berufliche Perspektive: Zum 1. April übernimmt sie als | |
künstlerische Leiterin die Aufgabe, das neue „Science & Art Lab“ mit Leben | |
zu füllen. | |
Was nach einem eleganten Abschied der 46-Jährigen aussieht, hat leider eine | |
bittere Note: Hillgärtner wäre zu Ende Oktober dieses Jahres durch den | |
Vereinsvorstand gekündigt worden. War sie zu erfolgreich geworden, zu | |
gefragt in ihren vielen Aktivitäten – oder für die Leitung eines | |
Kunstvereins schlicht zu alt? Jule Hillgärtner übergibt eine vorrangig | |
bundesweit anerkannte Institution, ein schlagkräftiges Team, das sie um | |
zwei feste Stellen hatte erweitern können, und ein vorbildlich aufgeräumtes | |
Haus. An ihrem vorletzten Arbeitstag Mitte März zierte die Wand ihres Büros | |
nur noch ein einziger Notizzettel mit zu Erledigendem. | |
23 Mar 2024 | |
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[10] https://www.tu-braunschweig.de/ | |
## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
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