# taz.de -- Missbrauch an Schulen in Senegal: Zum Betteln gezwungen | |
> In Senegal stehen Koran-Schulen in der Kritik. Lehrer zwingen Schüler | |
> zum Betteln, es kommt zu Missbrauch. Eltern schicken ihre Kinder trotzdem | |
> hin. | |
Bild: Abas M'Ballo ist Gründer der Koranschule „Darou Salam“, seine Schül… | |
ST. LOUIS taz | Ein Hinterhof in St. Louis im äußersten Nordwesten des | |
Senegal. Während an den gepflasterten Straßen im Zentrum beliebte | |
Restaurants, hübsche Hotels und gepflegte Gärten liegen, sind die Wege im | |
Viertel Medina sandig, die Gebäude gedrungen und nicht alle an die | |
Wasserversorgung angeschlossen. | |
Sechs Jungen im Kindergarten- und Grundschulalter sitzen neben Abas M’Ballo | |
auf geflochtenen Plastikmatten vor dessen Hauseingang. Die Älteren halten | |
Holzbretter in den Händen und schauen zu, wie M’Ballo eine Sure aus dem | |
Koran aufschreibt. Dafür sind die Talibé, die Koranschüler, hier. Das Ziel | |
ihrer Eltern lautet: Sie sollen innerhalb einiger Jahre die komplette | |
heilige Schrift des Islam auswendig lernen. M’Ballo ist Islamgelehrter – in | |
Senegal werden diese als Marabut bezeichnet – und Gründer der Koranschule | |
„Daara Darou Salam“ („Haus des Friedens“). Die Schüler des 44-Jährigen | |
leben bei ihm, ihre Eltern sehen sie manchmal mehrere Jahre nicht. | |
Wie viele Talibé es im Land gibt, weiß niemand genau. 2018 schätzte die | |
nichtstaatliche Organisation Global Solidarity Initiative, dass allein in | |
der Hauptstadt Dakar 200.000 leben. Mindestens jeder Vierte wird zum | |
Betteln gezwungen. Sichtbar ist das aber überall im Land: Jungen, die meist | |
zwischen 6 und 16 Jahren alt sind, ziehen mit Plastik- oder Blechschüsseln | |
durch die Straßen und betteln um etwas Essbares oder Geld. Passant:innen | |
scheuchen sie wahlweise wie lästige Fliegen weg oder legen ihnen ein paar | |
Münzen in die Schüsseln. | |
Laute Kritik äußern hauptsächlich nichtstaatliche Organisationen: Mit der | |
Zwangsbettelei missbrauchen Marabuts ihre Schüler und bereichern sich an | |
ihnen. Gefordert werden täglich mindestens umgerechnet 80 Euro-Cent. Manche | |
Marabuts schicken täglich bis zu 50 Jungen auf die Straßen. Wer nicht | |
genügend Geld nach Hause bringt, wird bestraft. Im Fokus steht auch die | |
schlechte Unterbringung. Weder gibt es genügend Schlafplätze und | |
Waschmöglichkeiten noch eine medizinische Versorgung, heißt es. Mehrfach | |
sind Fotos von angeketteten Jungen veröffentlicht worden. | |
## Sie bleiben und betteln | |
Im Juni 2016 startete [1][die Regierung unter dem bisherigen Präsidenten | |
Macky Sall] einen erneuten Versuch, damit die Talibé die Straßen verlassen. | |
Doch sie bleiben und betteln. Missbrauchsvorwürfe werden selten verfolgt, | |
und erst recht kommt es nicht zu Prozessen. | |
Das Talibé-System ist uralt. In Dakar sagt Politikwissenschaftler Ibrahima | |
Thiam von der linkennahen Rosa-Luxemburg-Stiftung: „Einst war es so, dass | |
ein Kind bei jemandem den Koran studiert und auch bei dieser Person gewohnt | |
hat. Da es nicht genug Geld gab, ist es anderswo essen gegangen.“ Der | |
entscheidende Unterschied zu heute war: „Mehrere Haushalte haben ein Kind | |
mit Essen versorgt. Auch mein Vater war Talibé, obwohl sein Vater | |
wohlhabend war. Das war eine Art der Ausbildung: Anderswo um Essen zu | |
bitten, tötet das eigene Ego.“ | |
In Senegal bekennen sich mehr als 97 Prozent der gut 18 Millionen | |
Einwohner:innen zum Islam, den dort die Sufi-Bruderschaften prägen. Die | |
größten sind die Muriden, die Tijanes sowie die Khadiriya. Ihr | |
gesellschaftlicher Einfluss und die enge Bindung ihrer Mitglieder gilt als | |
ein Grund, weshalb Terrorgruppen aus dem Nachbarland Mali wie auch | |
wahhabitische Strömungen bisher wenig erfolgreich sind. Der Wunsch, dass | |
Kinder eine religiöse Ausbildung erhalten, ist groß. | |
Vor allem, so möchten es viele, soll die Ausbildung in St. Louis | |
stattfinden. Während beispielsweise Touba als heilige Stadt der Muriden | |
gilt, haben die Gründer der bedeutenden Bruderschaften alle einige Zeit in | |
St. Louis gelebt. Nirgendwo sonst im Land, heißt es oft, lasse sich der | |
Koran so gut studieren wie in der Unesco-Weltkulturerbe-Stadt, die mehr als | |
500 Daaras zählt. Moscheen prägen das Stadtbild. | |
## Der Lebensweg: Vorgezeichnet | |
Das war auch für den Marabut Abas M’Ballo ein Grund, nach St. Louis zu | |
ziehen. Seine Kindheit hat er in der Casamance an der südlichen Grenze zu | |
Guinea-Bissau verbracht. Sein Ziel lautete stets: „Ich möchte mindestens | |
eine Daara in St. Louis errichten.“ | |
Seine Schüler hat er gleich mitgebracht. Ihre Familien leben in den Städten | |
Kolda und Ziguinchor und somit hunderte Kilometer entfernt. Eigentlich | |
sollten sie regelmäßig Geld für Unterricht und Unterbringung schicken. | |
„Doch sie tun es nicht. Ich zahle alles, vom Strom bis zu Medikamenten, | |
wenn eins krank ist.“ Woher er das Geld nimmt, sagt er nicht. | |
M’Ballos Lebensweg war stets vorgezeichnet. Seit seiner Kindheit hat er | |
sich ausschließlich mit dem Koran befasst und nichts anderes gelernt. Auch | |
die offizielle Landessprache Französisch spricht er nicht. „Hätte ich einen | |
Beruf erlernt, würden die Kinder möglicherweise heute mit mir in meiner | |
Werkstatt stehen.“ | |
Dafür setzt sich das „Maison de la Gare“ ein. Das 2007 gegründete Zentrum | |
bietet Talibé für ein paar Nächte eine Unterkunft. Sie können sich und ihre | |
Kleidung waschen, ihre Krätze-Wunden behandeln lassen und am | |
Französischunterricht teilnehmen. Für die Koranschüler ist das eine Auszeit | |
aus einem stressigen Alltag. Auch werden hier Ausbildungsplätze im Handwerk | |
vermittelt. Leiter des Zentrums ist Momar Mbaye. „Wir kämpfen dafür, dass | |
Kinder nicht mehr zum Betteln auf die Straßen geschickt werden“, sagt er, | |
„aber auch dafür, dass es endlich Strukturen in den Koranschulen gibt“: | |
Weder wird kontrolliert, was die Kinder aus und über den Koran lernen, noch | |
wie sie untergebracht und versorgt werden. | |
[2][In Senegal] wie in anderen westafrikanischen Ländern setzt sich | |
allerdings zunehmend das System der franko-arabischen Schule durch. Das | |
sind häufig Privatschulen, die aus Koranschulen entstanden sind und in | |
denen die Fächer Französisch und Mathe hinzugekommen sind. Damit die Kinder | |
und Jugendlichen überhaupt eine Chance auf einen Job haben. Allein in | |
Senegal drängen jährlich rund 300.000 junge Menschen auf den Arbeitsmarkt. | |
Der Kampf um die wenigen Jobs ist groß. | |
In der „Daara Darou Salam“ ist jetzt erst mal Pause. M’Ballos Frau hat auf | |
dem Markt Fisch gekauft und kocht Mittagessen für alle. An der Tradition, | |
den Koran auswendig zu lernen, hält M’Ballo fest. Er sei die Grundlage des | |
Lebens. Der Idee, diese mit einer handwerklichen Ausbildung zu ergänzen, | |
ist Abas M’Ballo aber nicht abgeneigt. „Sonst können die Jungen nur das | |
werden, was ich bin: Marabu.“ | |
28 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Gänsler | |
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