# taz.de -- Historikertagung: Ende der Großerzählung | |
> Wie kann man die Geschichte der Bundesrepublik beschreiben? In Tübingen | |
> haben jüngere HistorikerInnen nach neuen Wegen gesucht. | |
Bild: Demo gegen rechts vor dem Bundestag, Februar 2024 | |
Die Bundesrepublik ist eine freundliche, liberale Demokratie geworden. Seit | |
1990 ist sie ein Nationalstaat mit fraglos akzeptierten Grenzen, eine | |
Republik mit stabilen Institutionen und fest vertäut in Europa. 1999, als | |
die Republik 50 Jahre wurde, veröffentliche der linksliberale Historiker | |
Axel Schildt den Essay „Ankunft im Westen“. [1][Heinrich August Winkler] | |
beschrieb Deutschlands langen Weg nach Westen. | |
Diese Meistererzählungen identifizierten drei prägende Trends, die die | |
erfreuliche Entsorgung der autoritären, völkischen Traditionen | |
ermöglichten. Die Gesellschaft wurde liberaler, die Demokratie eröffnete | |
Beteiligungschancen, Wohlstand und Konsum stabilisierten. | |
Man konnte sich bei so viel Ankunftsmetaphern schon damals fragen: Was | |
kommt eigentlich nach dem Happy End? Mitunter hatte das Lob der geglückten | |
Demokratie, zu der auch die (sehr späte) Bearbeitung der NS-Geschichte | |
gezählt wurde, etwas Triumphales. Weltmeister bei Export, | |
Vergangenheitsbewältigung und Demokratie. | |
Die Meistererzählungen (zu denen Werke von Eckart Conze, Ulrich Herbert und | |
Edgar Wolfrum zählen) stehen am 75. Jahrestag der Bundesrepublik von | |
verschiedensten Seiten unter Feuer. | |
## Zu westdeutsch, zu männlich | |
Der Blick sei zu westdeutsch und männlich, die Fokussierung auf die | |
nationale Geschichte angesichts der seit 1990 explodierten Globalisierung | |
verstaubt, so die Kritik. Wer angesichts von EU und transnationalen | |
Verbindungen nur die Bundesrepublik erzähle, verstehe auch die | |
Bundesrepublik nicht mehr. Bei der Tagung „Sehepunkte im Wandel: Auf dem | |
Weg zu einer neuen Geschichte der Bundesrepublik?“ stellte | |
Co-Veranstalterin Sonja Levsen fest, dass nicht nur die Vergangenheit | |
unsicher geworden ist. | |
Auch die Zukunft ist nicht mehr, was sie mal war. Die Ankunft im Westen war | |
ein „Sehnsuchtsort der Bundesrepublik“. Wo will die Bundesrepublik 2024 | |
ankommen? Der Erklärungswert der Demokratisierungserzählung ist fraglich | |
geworden. Was ist die gefeierte Westbindung wert, wenn Trump und Le Pen | |
regieren? Was die Stabilität des Modells Deutschland angesichts der Erfolge | |
der AfD? | |
Eine kritische Frage lautet, was die Zeitgeschichtsforschung zum Aufstieg | |
der Rechtsextremen zu sagen hat. „Die Meistererzählung von Winkler basiert | |
auf einer falschen Prämisse: Der Nationalismus war nach 1945 nie | |
verschwunden. Er hat sich nur gewandelt“, so [2][Dominik Rigoll, der ein | |
neues Konzept von Nationalismus skizzierte.] Die Trennung in Nation (gut) | |
und Nationalismus (böse) sei überholt. | |
Man müsse Beate Zschäpe und Angela Merkel, den aggressiven Neonazismus und | |
das gedämpft Konservative, zusammendenken, so die provokante Formulierung. | |
Rigolls Ansatz, Nationalismus als eigenständige Ideologie neben | |
Konservativismus, Sozialismus und Liberalismus zu deuten, wirkt | |
unausgereift, ist aber immerhin ein Versuch, die Erfolge der AfD nicht nur | |
fassungslos zu bestaunen, sondern aus Kontinuitätslinien der | |
Bundesrepublik zu erklären. | |
## Migration in den Meistererzählungen | |
Christina Morina widersprach dieser Ausweitung des Nationalismusbegriffs | |
freundlich und entschieden. In dieser Verdachtskonstruktion verschwinde der | |
Staatsbürger als Angehöriger eines demokratischen Kollektivs und souveräner | |
politischer Akteur. | |
Die US-Historikerin Laura Stokes zeigt in ihrer bislang nur auf Englisch | |
erschienen [3][Studie „Fear of the Family“,] dass deutsche Behörden den | |
Nachzug von Familien von Gastarbeitern bis 1973 wohlwollend sahen. Familien | |
würden, so das Kalkül, dafür sorgen, dass Migranten keine Beziehungen mit | |
deutschen Frauen eingehen. | |
Ein rassistisches Bild, das NS-Ideen von Rassenreinheit assoziiert. | |
Migration komme, so Stokes’ Kritik, „in den Meistererzählungen kaum vor“. | |
Das ist angesichts der Tatsache, dass 2022 fast ein Drittel der Deutschen | |
Migrationshintergrund hat, ein Manko. | |
Die Kritik an den Meistererzählungen beschränkt sich nicht auf deren | |
Leerstellen. Claudia Gatzka, Co-Veranstalterin, legte eine generelle | |
Blicköffnung nahe. Die Zeitgeschichte solle „die Bundesrepublik als Umwelt | |
in systemtheoretischer Sicht“ betrachten. Also keine Zentralperspektive | |
mehr auf Staat und Politik wie in den Meistererzählungen, dafür | |
Beschreibungen von sozialen Subsystemen, von Ungleichheiten und | |
Arbeitswelten, queeren und migrantischen Milieus. Keine Geschichte mehr, | |
dafür Geschichten. | |
## Alles so schön plural hier | |
„Die neue Meistererzählung ist: Es gibt keine Meistererzählung mehr“, so | |
Franka Maubach. Es ist alles so schön plural hier. Das klingt gut, lässt | |
aber eine entscheidende Frage offen: Ergeben lose verbundene | |
Mikrogeschichten unter besonderer Berücksichtigung der Sprecherposition | |
eine neue Erzählung? Wer braucht eine Zeitgeschichtsschreibung, die nur | |
noch Puzzleteile liefert, die sich zu keinem Bild mehr fügen? | |
Die Debatte, ob man die altvorderen Meistererzähler mit jugendlichem | |
Schwung vom Denkmal stürzen oder ignorieren will, plätscherte etwas | |
leidenschaftslos dahin. Auch ob man eine um die Sichtweisen von | |
Marginalisierten erweiterte neue Meister*innenerzählung anstrebt oder | |
deren Homogenisierungszwänge zweifelhaft findet, blieb diffus. | |
Einen frischen Luftstoß brachte Rüdiger Graf in den | |
Selbstverständnisdiskurs: „Der Klimawandel wirft ein historiografisches | |
Problem auf.“ Die Klimakrise ändere den Blick auf Zeitgeschichte radikal. | |
Wo die Meistererzählungen Wohlstands- und Emanzipationsgewinne sahen, | |
erkenne man heute Ressourcenverbrauch und CO2-Emission, die via Klimawandel | |
anderswo radikale Freiheitsverluste auslösen. | |
Dass zum Beispiel Frauen und Jugendliche seit den 1970er Jahren verstärkt | |
Auto fahren, seien Freiheitsgewinne gewesen – aber eben mit destruktiven | |
Wirkungen. | |
So gesehen ist die Geschichte des Einkaufszentrums, das das Auto | |
unabdingbar macht, ebenso erzählenswert wie die Entstehung des Badezimmers | |
als Ort energieintensiver Körperpflege. Zeitgeschichtsschreibung fällt | |
nicht nur die Aufgabe zu, die Schäden der individualisierten | |
Konsumdemokratien zu bilanzieren. Sie muss klassisch politikzentriert kühl | |
untersuchen, wie ökologische Steuerung funktionierte und woran sie | |
scheiterte. In der Bundesrepublik und anderswo. | |
Work to do. | |
10 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Buecher-ueber-Krisen-in-Europa/!5443022 | |
[2] https://library.fes.de/pdf-files/afs/bd60/afs60_16_rigoll_mueller.pdf | |
[3] https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-115386 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
## TAGS | |
Geschichtswissenschaft | |
Historiker | |
Forschung | |
Bundesrepublik Deutschland | |
Jan Korte | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
NS-Kontinuitäten im Bundeskanzleramt: Corona verzögert Aufarbeitung | |
Drei Forschungsprojekte, die die NS-Belastung des Kanzleramts aufarbeiten, | |
sollten eigentlich bereits abgeschlossen sein. Nun dauert es länger. | |
Historikertagung zur Popgeschichte: Zeichen lesen lernen | |
War Rock'n'Roll ein Gegengift zur Nazizeit? Ist Pop ein Schlüssel zur | |
Zeitgeschichte? Solchen Fragen stellte sich eine Pophistory-Konferenz in | |
Berlin. | |
Drittes Reich: Woran anknüpfen? | |
Zwischen Kapitulation und Widerstand: Eine Historikertagung in der | |
Gedenkstätte Sachsenhausen widmete sich der Rolle deutscher Gewerkschaften | |
zwischen 1933 und 1945. |