| # taz.de -- Historikertagung zur Popgeschichte: Zeichen lesen lernen | |
| > War Rock'n'Roll ein Gegengift zur Nazizeit? Ist Pop ein Schlüssel zur | |
| > Zeitgeschichte? Solchen Fragen stellte sich eine Pophistory-Konferenz in | |
| > Berlin. | |
| Bild: Auch Elvis ist ein Teil der Zeitgeschichte: Fazit der Pophistory-Konferen… | |
| Irgendwann einmal, vor ein paar Jahren, war "Pop" als Vorsilbe überall. | |
| Klassik war Pop, Politik sowieso, nur die Universität nicht. Das zu ändern | |
| war der Anspruch der Konferenz "Pophistory", die am Wochenende in der | |
| Berliner Volksbühne tagte. Kommt nach Popliteratur jetzt also die | |
| Popgeschichte? Oder eine Geschichte des Pop, erzählt von professionellen | |
| Beobachtern und durch Quellen gesichert? | |
| "Ich rate jedem angehenden Historiker: Befassen Sie sich mit Pop", mahnte | |
| Thomas Lindenberger, Geschichtsprofessor in Wien. Wer nichts von Pop | |
| verstünde, dem bliebe die Zeitgeschichte verschlossen. Was genau das | |
| bedeutet - "etwas von Pop verstehen" -, das wusste er freilich selbst nicht | |
| so ganz. Klaus Theweleit hatte zumindest eine Idee. Pop, das sei nicht | |
| einfach nur ein "Gegenstand", den man aus der Distanz studieren könne. | |
| Und so erzählte er eine Geschichte der Popmusik mit eigener Beteiligung: | |
| Rock'n' Roll als Gegengift zur Nazi-Generation, Velvet Underground als | |
| Soundtrack zur Entdeckung der Körper und Bob Dylan als Verkörperung der | |
| eigenen Stimme. Gegen Ende kamen noch Hendrix als Verweis auf die | |
| Heilungskräfte von Technologie und der asexuelle Warhol als queere | |
| Inszenierung hinzu - fertig war die Geschichte von Pop als "Volkskultur des | |
| industriellen Menschen". Wenn es doch immer so einfach wäre. | |
| Ist es aber nicht. Denn was die Historiker gerne als Geschichte von Zäsuren | |
| und Epochenbrüchen in der Abfolge von Jazz, Rock n Roll und Beat erzählen | |
| würden, existiert ja nur, wenn Kontinuitäten und Nebenstränge | |
| vernachlässigt werden. Und so prägte die Suche nach der einen Erzählung an | |
| diesem Wochenende eine Debatte, hinter der die realgeschichtlich | |
| existierende Vielfalt von Pop immer wieder verschwand. | |
| Am Mangel an Quellen in den dank Digitalisierung prall gefüllten Archiven | |
| scheint das nicht zu liegen. Denn von dort, dem traditionellen Arbeitsplatz | |
| des Historikers, kamen auf dieser Tagung sowohl amüsante als auch | |
| überraschende Erkenntnisse. Marcel Streng erklärte Elvis legendären | |
| Hüftschwung mit seinem schwarzen Gurt in Kung-Fu. Und Klaus Nathaus | |
| erzählte, wie mit der Einführung der Jukebox die Plattenfirmen erfuhren, | |
| welche Musik während des Kneipengesprächs beliebt ist. Das Ergebnis war | |
| eine Schwemme an Rock-n-Roll-Singles. | |
| ## Theorie als Geste | |
| Die Theorie der Popgeschichte dagegen wurde im Laufe der Tagung immer mehr | |
| zu Pop, zur reinen Geste. Man bekannte sich zu den abstrakt existierenden | |
| Kategorien von Gender, Ethnizität und Klasse, aber vernachlässigt sie in | |
| der Beschäftigung mit dem Material. | |
| Der Motown-Spezialist Martin Lüthe wurde zum Beispiel dafür kritisiert, die | |
| Fernsehauftritte der Motown-Künstler im Kontext der Geschichte | |
| rassistischer Körperbilder zu betrachten, anstatt im vermeintlich | |
| "rassenlosen" Kontext von Popmusik. Die Geschichte queerer Performer_innen | |
| musste dagegen gleich im Archivschrank verstauben - über Drag, Disco und | |
| Camp reden rocksozialisierte Historiker anscheinend nicht so gern. | |
| Teils mag dies an institutionellen Zwängen liegen. Sich mit Pop zu | |
| beschäftigen scheint in der Geschichtswissenschaft immer noch Luxus zu | |
| sein. Immer wieder wurde Pop unter das eigene, von Drittmitteln, Stipendien | |
| oder sonstigen Abhängigkeiten bestimmte Forschungsvorhaben subsumiert. Eine | |
| vor Zeichenspielen nur so strotzende Jugendkultur wie Punk auf das | |
| Verhältnis zur Emotion Wut zu reduzieren, verrät mehr über die | |
| Arbeitsbedingungen des akademischen Nachwuchses als über den Gegenstand | |
| ihrer Forschung. | |
| Bei den arrivierten Wissenschaftlern dominierte dagegen der Wille zur | |
| Bildung eines eigenen Felds in Abgrenzung zu Cultural Studies, | |
| Kulturindustriethese und Sozialgeschichte. Eine tragfähige Definition von | |
| Pop musste ihnen trotzdem ein Fachfremder liefern. Diedrich Diederichsen | |
| beschrieb Pop als Zusammenhang von Recordings, die sowohl privat als auch | |
| öffentlich performt werden und weder zu einer festen Rolle führen noch in | |
| der Eigentlichkeit des Selbst aufgehen. Und als er nach seinem Rat für | |
| Pophistoriker gefragt wurde, antwortete er: "Adorno lesen. Weil er Pop | |
| ernst nimmt." | |
| 7 Nov 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Werthschulte | |
| ## TAGS | |
| Geschichtswissenschaft | |
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