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# taz.de -- Popautor über Kontrollverlust: "Im Internet-Poparchiv ertrunken"
> Simon Reynolds "Retromania" handelt von der Vergangenheitsversessenheit
> des Pop: Der Autor gesteht, dass er beim Musik downloaden die Kontrolle
> verliert.
Bild: Simon Reynolds: "Keisha tut so, als gäbe es kein Morgen. Und das gefäll…
taz: Herr Reynolds, der letzte Satz Ihres neuen Buches lautet: "Ich glaube
immer noch, dass da draußen die Zukunft der Popmusik wartet." Ganz
überzeugt klingt das nicht.
Simon Reynolds: Rational betrachtet wollte ich meine Studie über die
Allgegenwart von Retro im Pop mit einer aufmunternden Botschaft enden
lassen. Hoffnung zu verbreiten gebietet meiner Ansicht nach schon der
ethische Imperativ. Mir kam nach all dem Wühlen in der Vergangenheit
Gramscis Maxime vom Optimismus des Willens und Pessimismus des Intellekts
in den Sinn. Ich gebe die Hoffnung auf Zukunft nicht auf.
Was haben Sie für eine Erklärung, dass Pop so obsessiv mit seiner eigenen
Geschichte beschäftigt ist?
Zunächst blickt Pop auf eine Geschichte von rund 60 Jahren zurück. Für die
Weltgeschichte mag das wenig sein, aber im Pop zählen 60 Jahre sehr viel.
In dieser Zeit wurden unzählige Stile und Moden akkumuliert. Und
Retrokultur ist ein Nebenprodukt der Geschwindigkeit, in der sich Pop
weiterentwickelt hat. Stile werden schnell kreiert, weiterentwickelt,
geraten in Vergessenheit und werden neu entdeckt. In diesem Material steckt
unendlich viel Potenzial. Und es ergibt auch ein riesiges Archiv der
Popgeschichte. Bands wie Roxy Music haben bereits Anfang der Siebziger die
Fünfziger wieder aufleben lassen. Inzwischen ist die Popvergangenheit viel
breiter verfügbar. Durch das Internet und Seiten wie YouTube, durch die
Backkataloge von Labels. Durch Geräte wie den IPod, durch das Filesharing.
Moderne Computertechnologie macht Sounds, Informationen und Bilderwelten
der Popgeschichte viel leichter zugänglich als früher.
Einerseits ein zeitgemäßer Gerätepark und andererseits eine Sehnsucht nach
Vergangenheit, wie geht das zusammen? Ist Futurismus altmodisch geworden?
Kürzlich wurde das Spaceshuttle-Programm der Nasa eingestellt. In meiner
Kindheit war Raumfahrt das Sinnbild für Zukunft. Von heute aus betrachtet
wirkt Raumfahrt aber total retro. Damals sangen auch Popkünstler wie Pink
Floyd, Jimi Hendrix und David Bowie in ihren Songs über den Weltraum und
spielten mit der Bilderwelt der Astronauten. Das All galt als hip. Auch
Ideen über Futurismus sind gealtert und klingen heute naiv. Futurismus ist
vielleicht noch den Produkten von Apple zu eigen. Sie sind so designt, dass
sie wirken wie Gegenstände aus "Raumschiff Enterprise". Es liegt eine
gewisse Erhabenheit in ihnen. Außerhalb der Informationstechnologie haftet
unserem Alltag aber nur noch wenig Futuristisches an.
Habe ich Sie richtig verstanden, dass Retro auch eine Absage an die
flexibilisierte Welt des Neoliberalismus ist, in der sich der Einzelne
ständig neuen Gegebenheiten anzupassen hat?
Ja, ich bewundere Leute, die sagen, meine Identität liegt in der
Vergangenheit, etwa im Garagepunk der sechziger Jahre, selbst, wenn mir die
künstlerischen Ergebnisse nicht gefallen. Neoliberale Wirtschaftsordnung
will die Menschen verunsichern, sie sollen keine Zeit für die Vergangenheit
haben. Retro hat aber auch negative Folgen. Der marxistische Kulturkritiker
Fredric Jameson hat beschrieben, dass Nostalgie auch als Symptom für
fehlende künstlerische Innovation, für die Unfähigkeit, sich die Zukunft
vorzustellen, gelesen werden kann.
Sie vergleichen Retro mit den Brokern, die an den Börsen die Übersicht über
Aktien und Geldströme behalten. Wie kommen Sie darauf?
Die Finanzwelt ist inzwischen viel stärker zum Spektakel geworden,
Spekulieren hat weniger mit eigener Arbeit zu tun als mit der Ausbeutung
von anderen. Es gibt da eine Parallele zur Retro-Musik, die maßgeblich auf
früheren musikalischen Ideen von anderen basiert. Ob Geld, ob Musik, es
geht immer um das Parasitäre, darum, die Arbeitsleistung von jemand anderem
auszubeuten. Nehmen wir die US Neosoul-Band The Dap Kings, sie baut den
Sound von James Brown eins zu eins nach. Sie machen Karriere mit früheren
musikkulturellen Errungenschaften eines verstorbenen Künstlers. Epigonen
und billige Kopien gab es immer, aber was neu ist, die Geschichte birgt so
reiches Material, dass es nun Bandderivate gibt, die auf früheren
Künstlermodellen fußen.
Okay, das war böser Retro. Aber guten Retro gibt es auch: Nehmen wir Iggy
and the Stooges, fast in Originalbesetzung, die vor einigen Jahren nochmals
mit alten Songs um die Welt getourt sind.
Iggy and the Stooges, das ist so, als würde man sich Shakespeares "Hamlet"
im Theater ansehen. Ein Klassiker, bei dem es auf die Inszenierung ankommt.
In guten Momenten kann ein Abend mit den Stooges sein wie die
Hamlet-Filmversion von Sir Laurence Olivier.
Um die Jahrtausendwende wurde Retro vermehrt zu einem Mainstream-Phänomen.
Bands wie die Strokes und die White Stripes wurden zu Weltstars.
Sie sprachen beide junge Hörer an, weil sie durch ihre historisch geerdete
Garage-Musik Gegenentwürfe zum elektronischen Dancefloor machten. Ihre
Songs sind clever und eingängig und sie sehen gut aus.
In gewisser Weise schildern Sie in Ihrem Buch ihre eigene Retrowerdung,
wenn Sie beschreiben, wie Sie sich als MP3-Downloader verhalten haben.
Ich gehöre zu den vielen Menschen, die alte Musik obsessiv aus dem Internet
heruntergeladen haben. Es war klar, dass ich mir all die Tracks nie würde
anhören können. Ich hatte irgendwann darüber die Kontrolle verloren. Es war
reine Zeitverschwendung. Ich bin sozusagen im Internet-Poparchiv ertrunken.
Retro hat auch damit zu tun, dass die Vergangenheit durch das Web derart
überpräsent ist, dass sich die alte Musik gar nicht mehr historisch
anfühlt.
Als Sie sich MP3s anhörten, war das anders, als Platten oder CDs anzuhören?
Vinyl berührt mich mehr. Es geht weniger um den Unterschied zwischen Musik
auf physischen Tonträgern und Musik als Datensatz, es geht eher um die Art
und Weise des Hörens und das benutzte Gerät. Ich habe mir MP3s immer am
Computer angehört. Viele tun dies auch auf Smartphones oder IPods. Mit dem
Plattenspieler lassen sich nur Platten abspielen. Ein Computer ist aber ein
Portal für viele andere Sachen. Die meisten Leute checken beim Musikhören
ständig E-Mails oder surfen auf Internetseiten. So gings mir auch. Ich war
nie völlig auf die Musik konzentriert.
Durch die Fragmentierung, durch das Portionieren von Musik im Netz droht
auch die Kunstform des Albums verloren zu gehen. Ist das Album retro?
Nein. Selbst junge Bands wie Vampire Weekend nehmen ihre Musik nach wie vor
auf, als erscheine sie auf einer Schallplatte. Sie benutzen diese Form
sozusagen als Manuskript. Musikkonsumenten im Netz wählen sich aber mehr
und mehr die Songs im Netz nach ihrem Gusto aus. Das wirkt auf die Ware
Album desintegrativ. Vielleicht wird es in Zukunft mehr ein
Minderheiteninteresse für das Album geben. Ich glaube aber nicht, dass das
Album als Kunstform aussterben wird. Denn seine Form birgt viele
Ausdrucksmöglichkeiten, man kann eine Atmosphäre damit erschaffen, die die
Hörer bei der Stange hält. Sehen Sie, auch Filme dauern weiterhin meist um
die 90 Minuten. Anscheinend spricht genau diese Länge die Zuseher
gefühlsmäßig an.
Jetzt haben Sie immer noch nicht gesagt, wo die Zukunft der Popmusik liegt.
Ich lade keine Songs mehr aus dem Internet herunter, in letzter Zeit höre
ich wieder sehr viel Radio. Und da habe ich die Post- R-&-B-Sängerin Keisha
entdeckt. Sie schreibt aufregende Songs, ein bisschen Trance mit
Rap-Elementen. Pop handelt ja meist davon, ob der Sound innovativ ist,
oder, ob Musik soziale Resonanz erzeugt, oder, ob sie von einer
außergewöhnlichen Persönlichkeit dargeboten wird. Und Keisha passt in keine
der drei Kategorien. Sie hat keine Star-Aura, aber verheißt Hedonismus.
Gleichzeitig kommt sie sehr düster rüber. Es geht bei ihr um Entgrenzung,
darum, die Kreditkarten zu überziehen. Rezession, na und! Da fließt ein
bisschen Apokalypse mit. Keisha tut so, als gäbe es kein Morgen. Und das
gefällt mir.
15 Sep 2011
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Großbritannien
Schwerpunkt Überwachung
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