| # taz.de -- „Retromania“ endlich auf Deutsch: Rückwärts aus der Geschichte | |
| > „Retromania“ ist ein bahnbrechendes Buch des britischen Autors Simon | |
| > Reynolds. Es untersucht die Vergangenheitsfixierung im aktuellen Pop. | |
| Bild: Das ständige Verweis- und Zitatspiel des Pop: Punk-Mädchen aus Japan. | |
| Simon Reynolds hat es geschafft. Entgegen der Popdiskursmalaise hat der | |
| Brite ein Buch über Pop geschrieben, das nicht nur gelesen, sondern auch | |
| diskutiert wurde. Nicht nur von Kritikern, auch in der Kneipe und am | |
| Plattenladentresen. „Retromania“ heißt dieses Buch, das nun endlich in | |
| deutscher Übersetzung vorliegt. | |
| Und seine These ist ebenso naheliegend wie unausgesprochen: Gegenwartspop | |
| hat sich in der Retro-Schleife verfangen. Musiker wie Adele oder The | |
| Strokes stellen Stile, Sounds und Bilder der unmittelbaren Vergangenheit | |
| nach, anstatt im Rückwärtsgang durch die Popgeschichte genügend Momentum | |
| für den Sprung nach vorn zu finden. | |
| Nun müsste man aber mit religiöser Inbrunst an die Macht des Wortes | |
| glauben, um ein Problem bereits dadurch als gelöst zu betrachten, indem man | |
| es identifiziert. Pop hat den Retro-Modus seit dem Erscheinen der | |
| englischen Originalausgabe im letzten Sommer nicht verlassen, sondern | |
| dieser ist endgültig in der Mitte der Abendunterhaltung angekommen. Das | |
| Kulturprogramm der Olympischen Spiele reinszenierte des „Cool Britannia“ | |
| der Neunziger, die Produzenten der TV-Serie „Mad Men“ perfektionierten in | |
| der letzten Staffel ihren Retro-Chic, indem sie 250.000 Dollar dafür | |
| bezahlten, mit „Tomorrow never knows“ das wegweisendste Stück der Beatles | |
| zu lizensieren. Von Mumford and Sons gar nicht zu reden. | |
| Gründe, sich Reynolds’ deutscher Fassung noch einmal anzunehmen, gibt es | |
| also genug. Auch bei der erneuten Lektüre hat seine These kaum von ihrer | |
| Überzeugungskraft eingebüßt, weil sich an ihren Grundbedingungen wenig | |
| geändert hat. Die jüngste Popvergangenheit ist durch die Digitalisierung | |
| von Musik weiterhin allgemein verfügbar, während Lizensierungen für Filme | |
| und Reissues für Plattenfirmen zur wichtigen Einnahmequelle geworden sind. | |
| ## Ohne Reue | |
| „So wird Pop enden, nicht mit einem Knall, sondern in einem Box-Set, dessen | |
| vierte CD du niemals abspielen wirst“, schreibt Reynolds und legt damit | |
| gleichzeitig seine eigene Position offen. Als Musikfan steckt er mittendrin | |
| in der Schleife. Ohne Reue schildert er seine eigenen Retro-Erlebnisse: | |
| Abende, die er mit alten Dancetracks auf YouTube verbringt, oder den Besuch | |
| von Reunion-Konzerten. Reynolds taucht für „Retromania“ ebenso gründlich … | |
| die Archive ab, wie es die von ihm kritisierten Retro-Musiker tun. | |
| Dadurch erscheint sein Buch an vielen Stellen wie ein Kompendium aktueller | |
| Retro-Kulturen vom Reenactment der Northern-Soul-Szene im Nordosten | |
| Englands bis hin zu den japanischen Punks, die detailbesessen den Sound von | |
| 1977 nachbilden. Wer sich schon immer gefragt hat, was genau es mit dem | |
| Plattenladen auf der Hülle von DJ Shadows Album „Endtroducing“ auf sich | |
| hat, wird es hier erfahren. „Retromania“ ist ein Buch für Musikfans, | |
| geschrieben von einem Journalisten, der von Popmusik überrascht werden | |
| möchte und darin oft enttäuscht wird. Theorielos ist es deshalb aber nicht. | |
| Passend zum Gegenstand strotzt das Buch vor Querverweisen auf die Forschung | |
| zum kulturellen Gedächtnis, Theorien zum Medienwandel oder Fredric Jamesons | |
| Beschreibung des „Retro-Modus“ in der Postmoderne. | |
| ## Maulwurf der Theorie | |
| Auch wühlt Reynolds wie ein Maulwurf, dem jedoch teilweise die begriffliche | |
| Systematik abhandenkommt. Er legt keine allgemein verbindliche Theorie von | |
| Retro und Nostalgie vor, sondern bindet Theorie stets an die Musik selbst | |
| und die Bedingungen, unter denen sie hergestellt und gehört wird, zurück. | |
| Der Sound des Ghost-Box-Labels, den Reynolds in Anlehnung an Jacques | |
| Derrida als „hauntologisch“ bezeichnet, erzählt für ihn gleichzeitig eine | |
| Geschichte über das Aufwachsen im Wohlfahrtsstaat-Großbritannien der | |
| Siebziger, der so zum uneingelösten Versprechen auf die Zukunft wird. | |
| Vampire Weekends Song „Diplomat’s Son“ führt er als Beleg dafür an, wie | |
| eine Rekombination von Altbekanntem gerade dann etwas über die Gegenwart | |
| verrät, wenn sie unbekannte Erzählstränge und Querverweise der Geschichte | |
| zum Vorschein bringt und damit all diejenigen kritisiert, die wie der | |
| Kurator Nicolas Bourriaud im Akt der reinen Rekombination bereits eine | |
| kulturelle Leistung sehen. | |
| Reynolds’ Darstellung besitzt dagegen einen normativen Kern. Er beharrt | |
| darauf, dass Pop (womit er meist Popmusik meint) fähig sein kann, die | |
| Gegenwart durch eine Art Schock des Zukünftigen grundsätzlicher und | |
| präziser zu beschreiben, als dies durch die Abfolge von Trends und | |
| Mikro-Trends geschehen kann, die Pop eh schon inhärent ist. Dass dieser | |
| Gedanke in seinen Grundzügen von Walter Benjamin übernommen ist, soll an | |
| dieser Stelle nicht weiter stören, denn genau dadurch wird der Unterschied | |
| zu einer Haltung deutlich, die Retro als überzeitliche Praxis beschreibt | |
| und die in der Parole „Alles ist ein Plagiat, alles ist ein Remix“ endet. | |
| ## Die Praxis des Remixens | |
| Identität löst sich im cloud self auf, Musiker werden zur „mit Bewusstsein | |
| begabten Suchmaschine“ und die knapp 25 Jahre alte Praxis des Remixens, die | |
| durch moderne Studiotechnologie ermöglicht wurde, wird retroaktiv zum Wesen | |
| von Kunst deklariert. Fragen nach Originalität oder Innovation müssen so | |
| als zwangsläufig kunstfremd erscheinen. Zeitgenössisch ist eine solche | |
| Position dagegen nicht: Diffuse Identität war schon 1902 en vogue, | |
| Apologeten der digitalen Remix-Kultur haben noch nicht zu einer eigenen | |
| Sprache gefunden. | |
| Auch wenn Reynolds’ eigene Sprache, das Code-Switching zwischen Theorie und | |
| musikalischen Mikrodetails, in „Retromania“ manchmal unter dem barocken | |
| Verweisapparat zusammenbricht – der Debatte über Retrophänomene im Pop | |
| etwas hinzuzufügen ist nun schwieriger geworden. | |
| Simon Reynolds: „Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit | |
| lassen kann“. Aus dem Englischen von Chris Wilpert. Ventil Verlag, Mainz | |
| 2012, 424 Seiten, 29,90 Euro. Simon Reynolds ist ab heute auf Lesetour | |
| 16 Oct 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Werthschulte | |
| ## TAGS | |
| Großbritannien | |
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