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# taz.de -- Volksentscheide für Deutschland: Mehr oder weniger Demokratie
> Die Schweizer Bevölkerung hat gerade per Volksentscheid für eine 13.
> Monatsrente gestimmt. Auch Deutschland braucht mehr direkte Demokratie.
Bild: Jährliche Abstimmung der Landesgemeinde in Glarus, Schweiz, 2018
Wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre, wen würden Sie wählen? Wenn Ihre
Antwort „das kleinste Übel“ lautet, dann interessiert Sie diese Meldung
vermutlich: [1][In der Schweiz hat die Bevölkerung bei einer
Volksabstimmung für eine 13. Rentenzahlung votiert]. Die gewerkschaftliche
Initiative wurde mit 58,2 Prozent der Stimmen angenommen. Bei einer zweiten
Abstimmung wurde ein Vorschlag der jungen Liberalen, das Rentenalter zu
erhöhen, mit 74,7 Prozent der Stimmen abgelehnt.
Aus deutscher Perspektive ist das zunächst interessant, weil es hierzulande
meist nur schlechte Nachrichten im Zusammenhang mit der Rente gibt. So ging
hier kürzlich [2][die Meldung] um, dass immer mehr Menschen zwischen 63 und
67 Jahren arbeiten, was einen Zusammenhang mit zu niedrigen Renten
nahelegt. Etwa zeitgleich sagte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil in
einem Interview, dass Minijobs, die wegen fehlender Rentenbeiträge zu
Altersarmut führen können, nicht abgeschafft werden können, was der
[3][Präsident des Bundessozialgerichts gefordert] hatte. [4][Heil sagte,
dass das] „angesichts des Koalitionsvertrages kein Thema für diese
Legislaturperiode“ sei.
Damit wies Heil auf die Grenzen progressiver Sozialpolitik in der
repräsentativen Demokratie hin, die in der aktuellen Dreierkoalition der
Ampel-Regierung besonders eng gefasst sind. Denn die Partner sind schon
damit ausgelastet damit, die nächste Regierungskrise zu verhindern. Weil
einer der Partner immer dabei ist, einen mühsam erarbeiteten Konsens bei
der erstbesten, machtpolitisch opportunen Möglichkeit über den Haufen zu
werfen. Die repräsentative Demokratie hat viele Vorteile, ihre Nachteile
hat die Bundesrepublik vermutlich noch nie so deutlich demonstriert
bekommen wie unter der aktuellen Regierung.
## Offenbar läuft es nicht so gut
Währenddessen gewinnen jene an Zustimmung, die sich von diesen drei
Parteien unterscheiden, nämlich ums Ganze, weil sie mit völkischen und
autoritären Fantasien da reingehen, wo die Leute über die Regierenden den
Kopf schütteln –also über vergeigte Heizungsgesetze, beschlossene und
zurückgenommene Subventionskürzungen oder Bürgergelddauerdiskussionen.
Die [5][letzte Mitte-Studie von Sozialpsychologe Andreas Zick] und weiteren
Wissenschaftler:innen hat gezeigt, dass das Vertrauen in die
Institutionen und das Funktionieren der Demokratie in den letzten Jahren
stark abgenommen hat. Nur noch knapp mehr als die Hälfte der Befragten
haben dieses Vertrauen noch. Gleichzeitig haben demokratiegefährdende
Einstellungen in den letzten Jahren auf bedenkliche Weise zugenommen. Der
[6][Populismus-Forscher Philip Manow] sagte in einem interessanten
Interview mit Zeit Online kürzlich, dass der Populismus „nicht der Gegner
des Liberalismus, sondern sein Gespenst“ sei; dass eine liberale
Demokratie, die sich „überdehnt“ und „entdemokratisiert“ habe, den
gefährlichen Populismus hervorbringe.
Gerade mit Blick auf die Horrorszenarien, die für die Landtagswahlen in
Sachsen, Brandenburg und Thüringen gezeichnet werden, reicht es deshalb
nicht mehr, Diskussionen über Formen direkter Demokratie mit altbekannten
Argumenten abzumoderieren. In Deutschland sind Volksentscheide auf
Bundesebene nicht möglich. Diejenigen, die das gut finden, argumentieren
oft historisch. Volksentscheide würden Demagogen und Populismus und
Lobbyismus begünstigen, komplexe politische Entscheidungen auf ein
schlichtes Ja oder Nein reduzieren.
Dabei tun die Gegner der direkten Demokratie selbst so, als gäbe es nur ein
Für oder Wider und nichts dazwischen. Wie etwa eine repräsentative
Demokratie, bei der Elemente direkter Demokratie als Korrektiv dienen
können. Eine neue, aufrichtige Diskussion über direkte Demokratie könnte
auch helfen zu verstehen, was gegenwärtig nicht gut läuft. Denn offenbar
läuft es ja nicht so gut, wenn so viele Menschen die AfD wählen wollen, die
nicht nur einen großen Teil der Bevölkerung, sondern auch gut
funktionierende politische Prozesse loswerden will.
Auch wenn Politiker:innen das Ergebnis der Abstimmung bisher
ignorieren, hat in Berlin die Bürgerinitiative Deutsche Wohnen und Co.
enteignen gezeigt, wie politisierend Volksinitiativen wirken können, auf
progressive Weise. Dass auch Rechtsextreme mehr direkte Demokratie fordern,
ist kein Grund, nicht über mehr direkte Demokratie zu diskutieren. Dass
Rechtsextreme auch ohne direkte Demokratie der Macht gefährlich nahekommen,
zeigen die aktuellen Umfragewerte.
5 Mar 2024
## LINKS
[1] /Schweiz-stimmt-fuer-13-Rente/!5995784
[2] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/arbeitsmarkt/mehr-aeltere-im-job-100.h…
[3] https://www.zeit.de/arbeit/2024-01/oberster-sozialrichter-abschaffung-minij…
[4] https://www.bmas.de/DE/Service/Presse/Interviews/2024/2024-02-15-funke.html
[5] https://www.fes.de/referat-demokratie-gesellschaft-und-innovation/gegen-rec…
[6] https://www.zeit.de/2024/08/philip-manow-rechtspopulismus-afd-erfolg/komple…
## AUTOREN
Volkan Ağar
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