# taz.de -- Medikamente zum Abnehmen: Der Hype um die Spritze | |
> Das Diabetesmedikament Ozempic gilt als Wundermittel zum Abnehmen. Wenn | |
> es sich durchsetzt, gewinnt vor allem das Unternehmen dahinter. | |
Bild: Werbung für die schnelle Spritze zum Abnehmen in New York | |
Berlin taz | Stellen Sie sich vor, es gäbe ein Medikament, mit dem Dicksein | |
einfach weggespritzt werden könnte. Auf einmal wären alle schlank. | |
Diskriminierung dicker Menschen und anstrengende Diäten wären abgeschafft. | |
Alle würden essen, worauf sie Lust haben, Sport würde nur noch aus Spaß an | |
der Freude betrieben. Wer in so einer Welt noch dick wäre, hätte sich | |
selbst dazu entschieden und müsste eben mit den Konsequenzen leben. | |
Seitdem die [1][Abnehmspritzen Ozempic und Wegovy] in den vergangenen | |
Jahren enorme mediale Aufmerksamkeit bekommen haben und vor allem unter | |
US-amerikanischen Promis immer beliebter geworden sind, stellt sich manch | |
eine_r so die Zukunft vor. Als gehörten dicke Menschen zu den großen | |
Gewinner_innen der Spritzen – dabei sind Gewinn und Verlust ganz anders | |
verteilt. | |
Eigentlich handelt es sich bei Ozempic und Wegovy um Diabetesmedikamente. | |
Sie haben jedoch eine Nebenwirkung, die sich für den dänischen Hersteller | |
Novo Nordisk als Sechser im Lotto herausstellte: Sie drosseln das | |
Hungergefühl und werden nun als Abnehmspritzen gehandelt. In der | |
Berichterstattung wird der Stoff als „Game Changer“ bezeichnet. [2][Auf | |
Tiktok] häufen sich Erfahrungsberichte. Diabetespatient_innen dagegen | |
beklagen Lieferengpässe. Der Hype ist längst nicht mehr aufzuhalten. | |
## Er sieht kritisch auf die Entwicklung | |
Oliver Mann leitet das Adipositaszentrum des Universitätsklinikums | |
Hamburg-Eppendorf (UKE). Sogenannte Abnehmspritzen werden auch dort immer | |
gefragter. Er steht der Entwicklung kritisch gegenüber: „Die Bezeichnung | |
‚Game Changer‘ ist zu diesem Zeitpunkt noch absoluter Quatsch.“ Zwar hat | |
die medikamentöse Adipositastherapie eine lange Geschichte und war, bis | |
Ozempic auftauchte, erfolglos. Nur ein Bruchteil der Patient_innen jedoch | |
komme für die Behandlung infrage. | |
„Wir haben häufig Patienten, die 250 Kilo wiegen. Bei einem so hohen | |
Gewicht können wir schon von vornherein sagen, dass die Spritzen nichts | |
bringen.“ Denn die Macht des Medikaments sei beschränkt. Abgenommen werden | |
könnten damit höchstens 20 Kilo, so Mann, weshalb es sich nicht für stark | |
übergewichtige Menschen eigne. Andere litten unter schweren Nebenwirkungen | |
wie Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. | |
Zudem müsse man sich bewusst machen, dass das Medikament nach aktuellem | |
Stand nicht absetzbar sei. Denn dann könne es wieder zur Gewichtszunahme | |
kommen. Auch Langzeitdaten gibt es noch keine. „Man sieht, dass die ersten | |
Prominenten, die den Boom mit ausgelöst haben, schon wieder zunehmen“, sagt | |
Mann. | |
## Das wertvollste Unternehmen Europas | |
Novo Nordisk ist währenddessen zum wertvollsten Unternehmen Europas | |
gewachsen. Im weltweiten Ranking liegt der Pharmakonzern auf Platz 14. Mann | |
merkt das in seinen Sprechstunden. „Völlig ungeeignete Menschen fragen das | |
Medikament an, um ein paar Kilo zu verlieren“, sagt er. „Wir behandeln aber | |
nicht das Gewicht an sich, wir behandeln die begleitenden | |
Nebenerkrankungen, die todbringend und auf Dauer lebensverkürzend sind.“ | |
Außerdem seien es oft arme Menschen, die an Adipositas erkrankten. Aber das | |
Bild von Ozempic oder Wegovy als schnelle Abnehmlösung ignoriert, dass die | |
Ursachen dafür nicht mit Spritzen lösbar sind. Denn abgesehen von den | |
medizinischen Probleme, die mit den Medikamenten einhergehen, gibt es auch | |
gesellschaftliche. | |
Arme Menschen werden medizinisch schlechter versorgt, können sich gesundes | |
Essen seltener leisten und haben aufgrund von mehreren Jobs oft weniger | |
Zeit, dieses zuzubereiten. Auch Schichtarbeit, die schlecht für den | |
Stoffwechsel ist, verrichten eher ärmere Menschen. All das kann zu | |
Übergewicht führen. | |
## Diskriminierung von Dicken | |
Übergewichtige Menschen seien in vielen Lebensbereichen stark | |
benachteiligt, sagt die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Lechner. | |
Körperliche Schmerzen etwa würden oft nicht ernst genommen. „Einer dicken | |
Person kann es passieren, mit starken Bauchschmerzen und dem ärztlichen | |
Rat, 20 Kilo abzunehmen, nach Hause geschickt zu werden – obwohl sie | |
eigentlich an einer Blinddarmentzündung erkrankt ist.“ | |
Auch auf dem Arbeitsmarkt werden dicke Menschen diskriminiert, seltener zu | |
Vorstellungsgesprächen eingeladen und bekommen zudem ein niedrigeres | |
Gehalt. All diese Nachteile können wiederum in Armut resultieren. | |
Und diesem Kreislauf sollen nun die Spritzen ein Ende setzen? Das wird kaum | |
funktionieren. Denn Wegovy, das ausschließlich für die Behandlung von | |
Adipositas zugelassen ist, kostet im Monat etwa 300 Euro. Zudem verberge | |
sich ein strukturelles Problem hinter dem Hype, sagt Lechner: Der sei nur | |
ein weiteres Symptom dafür, dass die Gesellschaft zutiefst dickenfeindlich | |
sei. | |
Lechner fordert, dass die mediale Verbreitung und Werbung, zum Beispiel | |
durch Influencer_innen, eingedämmt werden müsse. Zudem brauche es ein | |
Gesetz, das Diskriminierung aufgrund von Körpergewicht verbietet. „Man kann | |
strukturelle Dickenfeindlichkeit nicht wegspritzen.“ | |
## Gesellschaftliche Ideale | |
Lechner hält die Abnehmspritzen für einen Trend. Trends suggerieren, dass | |
es ein neues, anstrebenswertes Ideal gibt. In den frühen 2000ern waren das | |
noch recht magere Körper: Kate Moss prägte den heroin chic, ein großer | |
Hintern war eine Beleidigung, und die Cover der Boulevard-Presse bildeten | |
die Speckröllchen von Stars ab. Später dann, noch bis vor einem Jahr | |
ungefähr, waren Kurven gefragt. Besonders Operationen wie die durch die | |
Kardashians bekannt gewordenen [3][Brazilian Butt Lifts ] wurden populär. | |
Jetzt schwingt das Pendel erneut in die andere Richtung. Buccal Fat | |
Removals – die Entfernung des Fetts aus den Wangen – liegen heute im Trend. | |
Passend dazu die Abnehmspritzen. Das müsse innerhalb der kapitalistischen | |
Logik so sein, sagt Lechner. Sonst gäbe es schließlich nichts zu verkaufen. | |
„Dieselben Schönheitschirurg_innen, die Hintern und Brüste vergrößert | |
haben, verkleinern sie jetzt.“ Nicht nur Dienstleistungen wie OPs, auch | |
diverse Produkte finden so wieder Platz auf dem Markt. | |
Novo Nordisk profitiert von diesen Trends und betreibt zudem Werbung. | |
Obwohl hierzulande direkte Werbung für verschreibungspflichtige Medikamente | |
verboten ist, schaltet das Unternehmen beispielsweise auf Instagram | |
Anzeigen, die allgemeine Informationen zu Übergewicht enthalten. Zudem wird | |
vermutet, dass der Pharmakonzern Einfluss auf die Ärzt_innenschaft nimmt. | |
An die [4][Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG)] hat Novo Nordisk im | |
vergangenen Jahr 145.000 Euro gespendet. | |
Dessen Leiter Jens Aberle hat sich in den Medien fast ausschließlich | |
positiv über Abnehmspritzen geäußert und in der Bild-Zeitung einen | |
Gastbeitrag darüber geschrieben. Oliver Mann, der ebenfalls DAG-Mitglied | |
und außerdem Aberles Kollege am UKE ist, fordert: „Solche Spenden müssen | |
unbedingt unabhängig überprüft werden.“ Andererseits ginge ohne Geld in der | |
Medizin, wo wenig investiert und Forschung teuer ist, nun mal nichts. | |
Trotzdem warnt er: „Immer wenn Geld im Spiel ist, gibt es Interessen. Und | |
diese Interessen stimmen nicht immer mit denen des Patienten überein.“ | |
## Werbung verbieten? | |
Sollte es irgendwann Studien mit Langzeitdaten geben, die belegen, dass | |
Ozempic oder Wegovy auch gegen gefährliche Begleiterkrankungen wie | |
Bluthochdruck, Arthrose oder Herzinfarkte dauerhaft wirken, würden die | |
Medikamente wohl von der Krankenkasse gedeckt, antizipiert Mann. | |
„Dann würden neben der langfristigen Kontrolle der Nebenerkrankungen auch | |
die damit einhergehenden immer weiter steigenden Behandlungskosten | |
‚behandelt‘.“ Bis dahin fordert auch er, jegliche Art von Werbung für die | |
Spritzen zu verbieten und diese mit Vorsicht zu verschreiben. „Gerade | |
werden sie verschrieben wie Kaugummi. Und deshalb entstehen | |
Lieferengpässe.“ | |
Verlierer dieses Booms sind nicht nur Diabetespatient_innen, die auf das | |
Medikament angewiesen sind, sondern auch dicke Menschen. Gibt es nicht | |
genügend Aufklärung, um die Spritzen kritisch zu betrachten, könnten | |
Übergewichtige künftig noch mehr unter Stigmatisierung leiden. | |
7 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Abnehmen-mit-Chemie/!5987934 | |
[2] https://www.tiktok.com/tag/ozempic?lang=en | |
[3] /Debatte--Feminismus-Botox-und-Hyaluron/!5960894 | |
[4] https://adipositas-gesellschaft.de/ | |
## AUTOREN | |
Valérie Catil | |
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