# taz.de -- Dickfeindlichkeit in der Pandemie: Die Corona-Wampe als Feind | |
> Viele freuen sich dieser Tage auf die Rückkehr der „alten Normalität“. | |
> Eine Normalität, die für dicke Menschen oft Diskriminierung bedeutet. | |
Bild: Abwertenden Blicken sind dicke Menschen vielerorts ausgesetzt | |
Als dieses verdammte Virus im letzten Jahr unseren Alltag veränderte, wurde | |
ein nicht unerheblicher Teil der sonst mobilen Bevölkerung in die eigenen | |
vier Wände verbannt. Wer nicht in der Fabrik, im Krankenhaus oder | |
anderweitig systemrelevant außer Haus malochte, verbrachte mehr Zeit zu | |
Hause, hatte weniger Bewegung und hortete Snacks für den gefühlten | |
Weltuntergang. Es folgten die ersten Witze und Warnungen über die drohenden | |
Corona-Pfunde. „Lasst uns zusammen dick werden, dann muss ich mich nicht | |
alleine schämen, wenn Corona vorbei ist“, twitterte ein Bekannter. | |
Auch über ein Jahr später, mit stetig steigenden Impfquoten, kommen neue | |
Kalauer dazu: Kürzlich sah ich ein Comic, [1][auf dem zwei dicke Menschen] | |
in ihrem Zuhause vor einer schmalen Tür stehen, darunter der Spruch: | |
„Corona ist weg – aber wie kommen wir da jetzt wieder raus?“ Etliche Medi… | |
titelten: „Warum Corona dick macht“ oder „Dick und depressiv durch die | |
Pandemie“. Der Stern warnte in einer Ausgabe vor der „Corona-Wampe“ und | |
empfahl gleich eine Reihe von Diäten. | |
Die Angst vor dem dicken Bauch generiert mächtige Schlagzeilen – selbst in | |
einer der größten Gesundheitskrisen unserer Zeit: Millionen | |
Corona-Infizierte, allein in Deutschland knapp 90.000 Todesfälle und viele, | |
die auch Monate nach ihrer Infektion noch von gesundheitlichen | |
Einschränkungen berichten. Wer diese Artikel liest, könnte meinen, der | |
wirkliche Feind dieser Zeit sei die Corona-Wampe. Manche scheinen mehr | |
Angst vor ein paar Pfunden als vor einer veritablen Infektionskrankheit mit | |
potenziell tödlichem Verlauf zu haben. | |
Es überrascht nicht. Hohes Gewicht wird seit den 1990er Jahren als „globale | |
Epidemie“ gerahmt, zentral war da eine Konferenz der | |
Weltgesundheitsorganisation von 1997 mit dem richtungsweisenden Titel: | |
„Adipositas: Verhütung und Bewältigung einer weltweiten Epidemie“. Nach | |
dieser Konferenz wurde eine weltweit einheitliche Definition für | |
Gewichtskategorien geschaffen. Herhalten musste der bereits existierende, | |
aber in Deutschland bis dato kaum angewandte Body-Mass-Index, kurz BMI. | |
Dieser steht in einer rassistischen Geschichte des Vermessens und | |
Kategorisierens von Menschen anhand körperlicher Merkmale. Die Norm stellt | |
hier der weiße, schlanke und nichtbehinderte Körper dar. | |
## Gerade noch „normal“, nun „übergewichtig“ | |
Mittels einer einfachen Rechnung konnte nun jeder Mensch ausrechnen, ob er | |
„Normalgewicht“ hat. Nebenbei lernt man, wer aus diesem „normal“ | |
rausdefiniert wird: [2][Menschen mit hohem Gewicht.] Die neu definierten | |
Grenzwerte setzten sich binnen weniger Jahre weltweit durch. Heute hängen | |
BMI-Tabellen in Arztpraxen, Gesundheits- und Sportzentren und teilen uns | |
fein säuberlich in Boxen ein, die Auskunft über unsere Gesundheit, gar über | |
unsere Lebenserwartung geben sollen. In den USA, in denen vor der globalen | |
Vereinheitlichung des BMI viel höhere Werte galten, wurden nach Übernahme | |
der neuen Maßeinheiten ganze 35 Millionen Menschen mehr als übergewichtig | |
definiert – ohne, dass sie auch nur ein einziges Pfund zugelegt hatten. | |
Wer vorher als „normal“ galt, war nun „übergewichtig“. Profitiert habe… | |
allem die milliardenschweren Pharma- und Diätindustrien; einige ihrer | |
Akteure hatten die oben erwähnte Konferenz übrigens mitorganisiert. | |
Die neu definierten „Übergewichtigen“ ließen die sogenannte Dickenepidemie | |
nicht nur real aussehen, sondern versprachen auch einen lukrativen | |
Absatzmarkt. Diätprodukte, Diätpillen, Abnehmkuren, Fitnessgeräte, you name | |
it. Die Berichterstattung über die angebliche „Killerkrankheit Übergewicht�… | |
[3][begann sich zu überschlagen]. Dabei ist die einfache Erzählung „dick | |
gleich ungesund“ wissenschaftlich höchst umstritten. Studien gibt es | |
zuhauf, einheitliche Antworten nicht. | |
Und obwohl so viel über Gesundheit und Dicksein gesprochen wird, bleibt ein | |
Thema gänzlich ausgespart, nämlich was Pathologisierung, also die pauschale | |
Einordnung eines hochgewichtigen Körpers als „krank“ oder zumindest | |
„gefährdet“, mit der Gesundheit von dicken Menschen macht. Hat die aktuelle | |
Angst vor den Corona-Pfunden womöglich mehr mit restriktiven Körpernormen | |
(mit denen sich eine Stange Geld verdienen lässt!) als mit Gesundheit zu | |
tun? Ich meine: ja. | |
Noch bevor ich lesen oder schreiben konnte, wurde ich von Ärztinnen zum | |
Kalorienzählen animiert. Wenn ich eines als Kind gelernt habe, dann, dass | |
mein Körper „falsch“ sei: Zu viel, nicht schön genug, krankheitsgefährde… | |
Schon als Jugendliche hatte ich eine Diätkarriere hinter mir, die sich | |
sehen lassen kann: Abnehmcamps, etliche gescheiterte Diäten, viele Tränen. | |
Gesund war das nicht. Im Gegenteil: Vielmehr haben sich Gefühle der | |
Unzulänglichkeit, des Scheiterns festgesetzt, die mich bis heute begleiten, | |
auch wenn sich meine Wut heute nicht mehr gegen meinen Körper, sondern | |
dessen Abwertung richtet. | |
## Stigmata mit Folgen | |
Die Selbstzweifel entstehen nicht im luftleeren Raum: In der | |
repräsentativen XXL-Studie der DAK-Gesundheit von 2016 gaben über 70 | |
Prozent der Befragten an, dass sie hochgewichtige Menschen „unästhetisch“ | |
finden. 15 Prozent vermeiden den Kontakt mit ihnen. Dicksein steht heute | |
für vieles, was im Kapitalismus einer Todsünde gleicht: Faulheit, Armut, | |
mangelnde Attraktivität, niedriger Bildungsgrad, unangenehme Gerüche. Diese | |
Stigmata sind nicht folgenlos. Sie zeigen sich in den kleinen täglichen | |
Abwertungen, ja, auch in Form von Witzchen. Oder sie manifestieren sich | |
strukturell, zum Beispiel, wenn dicken Frauen im Berufsleben weniger | |
zugetraut wird, was sich in geringere Aufstiegschancen und niedrigere | |
Gehälter übersetzt. | |
Der lauter werdende Ruf nach einem „Zurück in die alte Normalität“ nach d… | |
Coronapandemie ist für mich daher ambivalent. Zurück ins Büro und mit den | |
Kolleg*innen klönen, Ausflüge machen, fette Partys feiern. Den Wunsch | |
verstehe ich, gleichzeitig weiß ich: Das alte Normal war auch nicht so | |
geil. Was ich im Homeoffice ganz sicher nicht vermisst habe, sind die | |
dummen Sprüche auf der Straße, die abwertenden Blicke im Freibad oder die | |
kalorienzählenden Kolleg*innen; kurz: die ständige Erinnerung daran, dass | |
ein dicker Körper unerwünscht ist. | |
Aber wenn auf etwas Verlass ist, dann auf die kreischenden Headlines, die | |
vor den Corona-Pfunden warnen. Bloß nicht vergessen, dass der dicke Körper | |
als Risiko für alles Mögliche gilt. Egal, ob Kopf-, Rücken- oder | |
Menstruationsschmerzen, Bluthochdruck oder Depressionen, einen ärztlichen | |
Tipp kennen die meisten dicken Menschen: Nimm ab! Ich fühle mich immer | |
etwas lächerlich, wenn ich daran erinnern muss, dass auch dicke Menschen | |
komplexe Wesen sind – und Kilos nicht an allem „schuld“ sind. | |
Die Tatsache, dass Hochgewichtige in den Corona-Impfpriorisierungen der | |
Bundesregierung relativ weit oben auftauchten, hat mich trotzdem | |
überrascht: Menschen mit einem BMI über 40 landeten in der zweiten | |
Priorisierungsgruppe, Menschen mit einem BMI über 30 in der dritten. | |
Während andere – darunter auch Menschen mit Behinderungen und chronischen | |
Erkrankungen sowie ihre Angehörigen – dafür kämpfen mussten, überhaupt | |
priorisierten Zugang zu Impfungen zu erhalten, wie die Psychologin und | |
[4][Journalistin Rebecca Maskos für die Blätter herausarbeitete], galten | |
dicke Menschen allein aufgrund ihres Gewichts als Risikogruppe. | |
Hengameh Yaghoobifarah [5][schrieb dazu kürzlich in der taz]: „Verbirgt | |
sich hinter der pauschalen Einstufung von Menschen mit Ü-30-BMI als | |
Risikogruppe Fat-Shaming? Mag sein. Ist der BMI ein fragwürdiges Konzept? | |
Safe. Feiere ich diese Entscheidung trotzdem? Definitiv. Zum ersten Mal | |
springt aus meinem Gewicht ein Privileg für mich raus.“ | |
Oder wie ich es nennen würde: Ausgleichende Gerechtigkeit. In einer | |
Gesundheitskrise, in der Menschen mit Körpern, die nicht der Norm | |
entsprechen, auf unterbezahltes und überarbeitetes Personal treffen, das | |
wenig Zeit und mitunter zu wenig Sensibilität für | |
(Mehrfach-)Diskriminierung hat, bekommt das Wort Risikogruppe eine ganz | |
neue Bedeutung. | |
Dagegen helfen übrigens nicht nur Fortbildungen zu Antidiskriminierung. Wir | |
brauchen ein Gesundheitssystem, das nicht Profite, sondern den Menschen | |
zentriert. Wem die Gesundheit von dicken Menschen, ach, was rede ich, von | |
allen Menschen wirklich am Herzen liegt, lässt die dickenfeindlichen | |
Witzchen sein und steckt die Energie lieber in den Kampf für eine | |
flächendeckende, diskriminierungssensible Gesundheitsversorgung. | |
8 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Dickenfeindlichkeit-in-sozialen-Medien/!5684787 | |
[2] /Body-Positivity-und-Rapperin-Lizzo/!5733928 | |
[3] /Fatshaming-trifft-vor-allem-Frauen/!5668334 | |
[4] https://www.blaetter.de/ausgabe/2021/april/ignoriert-behinderte-menschen-in… | |
[5] /Corona-und-Uebergewicht/!5765540 | |
## AUTOREN | |
Magda Albrecht | |
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