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# taz.de -- Forschung über Ernährung: Riots not Diets
> Durch Corona haben viele Menschen zugenommen. Doch selbst
> wissenschaftlich angehauchte Diäten sind bestenfalls von kurzer Wirkung.
Bild: Durch Verzicht zum Glück? Über Ernährung wird allerlei Unwahres erzäh…
Früher einmal, als die Menschen noch zur Arbeit in ein Büro gingen, als sie
die meiste Zeit des Jahres Sport trieben und soziale Kontakte pflegten,
folgte auf die deftigen Weihnachtstage sehr zuverlässig das große
Askesespektakel des Jahres. Diäten, Fasten, Bauchwegtrainings, für die
meisten waren es flüchtige Erscheinungen. Bis zum nächsten Winter
jedenfalls.
Dank Corona ist das inzwischen anders. [1][Zugenommen wird nicht mehr nur
zum Fest, sondern andauernd]. Homeoffice, Kontaktbeschränkungen und der
zeitweilige Stillstand von Öffentlichkeit haben aus Pölsterchen Polster
gemacht, zwei von fünf Deutschen haben zugenommen, und zwar bis zum
vergangenen Sommer durchschnittlich schon elf Pfund. Und gegen so eine
Dauerverfettung hilft doch vermutlich nur Dauerdiät. Fragt sich bloß
welche?
Die Forschung weiß darauf seit Jahren schon Rat, zumindest bemüht sie sich,
den Eindruck zu erwecken. Kaum eine Diät kommt zudem ohne wissenschaftliche
Verkleidung daher, und natürlich nicht ohne „renommierte“
Mediziner:innen – oder selbsterfahrene Autor:innen, die schlank und
vor Gesundheit strotzend von gephotoshoppten Buchseiten ihre Leser:innen
angrienen. Viele der Schreiber:innen geben sich vom Erfolg ihrer Bücher
überrascht, aber die Verlage wissen es besser.
Das Märchen vom gesunden Essen, es macht sich immer bezahlt. Denn es gibt
Studien, mit denen man aus den Märchen Wahrheiten stricken kann. Weil
Studien von vielen Menschen noch immer mit Beweisen verwechselt werden. Und
weil Ernährungsforschung immer noch für eine Wissenschaft gehalten wird.
## Gehyptes Intervallfasten
Da sind zum Beispiel die zwei Mäuse aus Kalifornien, deren Porträtfoto, es
ist dank eines Ernährungsbestsellers längst Legende, das [2][Fundament des
Intervallfasten-Hypes] wurden. Die genetisch identischen Tierchen hatten
Zeit ihrer kurzen Existenz die gleiche Menge fettreiches Futter und gleich
viel Bewegung bekommen, sahen aber ganz unterschiedlich aus. Die eine war
superdick, die andere schlank. Was die beiden Tiere unterschied, war, dass
die schlanke Maus nicht jederzeit ihr Futter gefressen hatte, so wie die
sehr dicke – sondern nur in einem Zeitfenster von acht Stunden pro Tag.
Jetzt sind Mäuse immerhin Säugetiere, und irgendwas muss so ein Befund
doch zu bedeuten haben. Denkt man. Und tatsächlich feiern die meisten
Menschen erst mal Erfolge, wenn sie anstatt den ganzen Tag nur noch den
halben Tag futtern. Aber selbst Untersuchungen an menschlichen
Versuchstieren haben bis heute nicht belegen können, dass Übergewichtige
mit dieser modernen oder auch der umgedrehten Form des Dinner-Cancelling
dauerhaft abnehmen.
Vielmehr schlägt am Ende doch meistens der berüchtigte Jojo-Effekt zu.
Womöglich liegt es daran, dass der Verzicht aufs Frühstück oder Abendessen
für manche auf Dauer nicht auszuhalten ist. Denkbar ist auch, dass Menschen
einfach keine Mäuse sind. Ein Umstand, der von Ernährungsforschenden trotz
ihres Renommees sehr gern übersehen wird.
Aber das Intervallfasten, das trotz fehlender Belege für einen
Langzeiteffekt ganz oben auf der Diäten-Beliebtheitsliste steht – man darf
immerhin essen, was man will – ist natürlich nicht der einzige
wissenschaftlich pseudofundierte Trend im Abspeckuniversum.
## „Anerkannte Spezialisten“
In einem beliebten Ranking des U.S. News & World Report, das jährlich im
Januar von einem nicht näher beschriebenen Panel „national anerkannter
Spezialist:innen“ bestimmt wird, rangiert seit vielen Jahren ganz weit
oben DASH („dietary approach to stop hypertension“), eine Diät, die
eigentlich für Menschen mit Bluthochdruck entwickelt wurde.
Das Besondere an der Abnehmmethode ist nicht einfach zu erkennen, sie
gleicht in ihrer Freudlosigkeit vielen anderen Empfehlungen für eine
ausgewogene Ernährung. Selbst bei den Milchprodukten fettreduziert, dafür
ballaststoffreich, mit viel Obst, Gemüse und Vollkorn, zugleich möglichst
frei von Rind- und Schweinefleisch. Als Nachteil gilt, dass man für die
Mahlzeiten einkaufen gehen und mit den Zutaten selbst kochen muss. Doch
selbst jene, die das hinbekommen, werden irgendwann doch fahnenflüchtig. Es
könnte daran liegen, dass auch Salz in dieser Kostform verpönt ist.
Wer nun denkt: Ach, aber auf Salz sollte man doch ohnehin verzichten, der
liegt unglücklicherweise auch noch richtig falsch. Während die Studienlage
für echte Hypertoniker:innen auf einen winzigen positiven Effekt von
reduziertem Salzkonsum hinweist, warnen die Autoren:innen der bislang
umfassendsten Analyse zu Blutdruck und Salzkonsum vor einer Salzreduktion,
wenn man ansonsten gesund ist. Die Sterblichkeit nimmt für diese Menschen
nämlich nicht ab, sondern zu. Und krank werden möchte man durch eine Diät
ja eher nicht.
Aber zum Glück gibt es weitere Alternativen, und in manchen davon sind die
Nachwehen einer fast schon vergessenen Ernährungsform zu spüren, der
Glyx-Diät, deren Grundlage der sogenannte glykämische Index ist. Warum
sonst sollte ständig von Blutzuckertief und damit verbundenen
Heißhungerattacken die Rede sein?
## Der Kartoffel an den Kragen
An den Kragen geht es dabei unter anderem der wunderbaren Kartoffel, die zu
gefährlichen Blutzucker- und Insulinspitzen führen, statt satt nur hungrig
und deshalb so dick wie krank machen soll. Belege in dem Sinne, dass man
diesen bösen Effekt an echten Menschen in einer gut gemachten Studie
gezeigt hätte, gibt es dafür zwar nicht. Eher zeigen die wenigen kleinen
Annäherungen mit Knollen essenden Probanden, dass Kartoffeln satt machen
und überhaupt ein ziemlich gutes Lebensmittel sind. Aber einmal in die Welt
gesetzt, hat es die Verteufelung der Kartoffel bis in aktuelle
Ernährungsbücher hinein geschafft.
Man kann sich noch endlos weiter durch sehr viel schlechtere
Ernährungskonzepte fräsen oder sich fragen, was an der Mittelmeer-Diät
eigentlich Diät ist, schließlich essen die Menschen in Italien,
Griechenland und Spanien nicht so, wie sie essen, um abzunehmen. Ähnliches
gilt für die Flexitarier-Diät, hinter der sich tägliches Kochen ohne
täglichen Fleischkonsum verbirgt. Willkommen im Klimawandel.
Das größte Problem der meisten Diäten aber ist letztlich die
Ernährungsforschung, die dem ganzen Wahnsinn unaufhörlich Nahrung liefert.
Mit Mäuseversuchen, schlecht gemachten Studien an Menschen und
Schlussfolgerungen, die weit über die Erkenntnislage hinausgehen, was von
seriösen Wissenschaftler:innen irgendwann zwar stets festgestellt wird,
aber keine Beachtung findet.
Warum das so ist? Es gibt ein paar Hinweise aus der Wissenschaft selbst,
allerdings lassen sie sich nicht besonders gut vermarkten. So hat der
US-amerikanische Epidemiologe David Jacobs von der University of Minnesota
bereits vor fast 15 Jahren davor gewarnt, Essbares aufgrund der
Inhaltsstoffe zu beurteilen. „Nahrungsmittel, nicht Nährstoffe sind die
fundamentale Einheit in der Ernährung“.
## Gesamtkunstwerke
Dahinter steht der sehr plausible Gedanke, dass eine Paprika nicht wegen
des vielen Vitamin C ein gutes Lebensmittel ist, weshalb man das Vitamin C
auch als Pulver einnehmen und nebenbei stark verarbeitete Produkte aus der
Lebensmittelindustrie konsumieren kann. Die Paprika mit ihren vielen
verschiedenen Nährstoffen, Spurenelementen, Vitaminen und Ballaststoffen
bildet ein Gesamtkunstwerk, eine Matrix, die zwar auch durchs Kochen
verändert wird, aber jeden Stoff im Zusammenspiel wirken lässt.
Es gibt bis heute keine Erkenntnis aus der Ernährungswissenschaft, die
diesen Ansatz widerlegen könnte. In der Praxis bedeutet er, so viele echte,
also komplett unverarbeitete Nahrungsmittel wie möglich auszuprobieren und
selbst damit zu kochen. Es ist die aufwändigste Form der Ernährung, die
teuerste noch dazu, man könnte auch sagen, sie sei sehr unbequem.
Aber nach Weihnachten, wenn das dritte Jahr der Pandemie mit neuen
Maßnahmen begonnen hat, lässt sich die Zeit zu Hause womöglich besser mit
einem schönen Kochbuch nutzen – einem Buch, das statt Gesundheit oder
schnellem Abnehmerfolg einfach gutes, vielseitiges Essen verspricht – als
mit dem Versuch, [3][durch Verzicht und Selbstbeschränkung dünner] zu
werden. Nicht nur die Kartoffel wird dankbar sein.
1 Jan 2022
## LINKS
[1] /Typologie-der-Baeuche/!5688437
[2] /Hype-um-Intervallfasten/!5493925
[3] /Schoenheitsideale-in-Sozialen-Medien/!5749433
## AUTOREN
Kathrin Zinkant
## TAGS
Diät
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Gesundheit
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