| # taz.de -- Ampel-Streit um Mietrecht: Gefährdete Lebensräume in Berlin | |
| > Weil sich Justizminister und Innenministerin nicht einigen können, gibt | |
| > es keine Mietrechtsnovelle. Viele Mieter*innen bangen deswegen um ihre | |
| > Zukunft. | |
| Bild: In der Kastanienallee im Prenzlauer Berg kann man Gentrifizierung wie unt… | |
| Berlin taz | Die Kastanienallee in Berlin Prenzlauer Berg ist ein Ort, über | |
| den sich einiges erzählen lässt. Nicht nur die Mütter, in der einen Hand | |
| den Latte Macchiato, mit der anderen Hand den Kinderwagen schiebend, haben | |
| diese Straße über Berlin hinaus bekannt gemacht. Jenseits dieser Klischees | |
| ist der Stadtteil im Nordosten Berlins, der einst zur DDR gehörte, vor | |
| allem eins: ein Ort, an dem sich der Gentrifizierungsprozess wie unter | |
| einem Brennglas beobachten ließ. | |
| Der [1][anarchistische Charme von Alternativen und Punks in unsanierten | |
| Häusern in den 80er J]ahren ging nach der Wende allmählich verloren. Ein | |
| paar Ecken wirken heute wie eine blasse Überlieferung. Fast alle Fassaden | |
| der Altbauten sind mittlerweile schick gemacht. Die Mieten gehören zu den | |
| teuersten der Stadt. | |
| Doch an manchen Orten, zum Beispiel der Kastanienallee 10, gibt es auch | |
| noch moderate Mieten. An einem frostigen Januartag sitzt Marco Klingspohn | |
| in seiner 3-Zimmer-Wohnung im Quergebäude eines Altbaus, der eingebettet | |
| ist zwischen einem schicken Eisladen und einem langjährigen | |
| Fahrradgeschäft. Klingspohn regt sich über die Bundesregierung auf, die es | |
| nicht vermag, Mieter*innen angemessen zu schützen. | |
| 7,38 Euro pro Quadratmeter zahlt Klingspohn derzeit, Traumpreise im | |
| Berliner Mietenwahnsinn. Die Frage ist aber, wie lange das noch so bleibt. | |
| Neben ihm sitzt sein Nachbar Tom Sello, geboren im sächsischen Meißen, der | |
| 1979 als Maurer nach Berlin zog und im Prenzlauer Berg in der Friedens- und | |
| Umweltbewegung aktiv wurde. Von 2017 bis 2023 war [2][Sello in Berlin | |
| Beauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur], heute ist er in Rente. | |
| Klingspohn und Sello leben in der Kastanienallee schon seit über 20 Jahren. | |
| Sie bezogen ihre Wohnungen als das Land Berlin Fördermittel an | |
| Eigentümer*innen gab, um die Häuser zu sanieren. Im Gegenzug wurden | |
| die Mieten für einen gewissen Zeitraum staatlich reguliert. Doch dieser | |
| Bindungszeitraum läuft nach ihren Angaben Ende Februar aus. Im Haus führe | |
| das zu großer Verunsicherung. | |
| ## Knapp 5.000 Wohnungen fallen aus der Sozialbindung | |
| Gewiss ist: Die Mieten werden steigen. Ungewiss ist: Was das im Einzelnen | |
| für die Bewohner*innen bedeutet. „Ich durfte damals hier einziehen, | |
| weil ich meine alte Wohnung ein paar Straßen weiter entfernt wegen einer | |
| umfassenden Sanierung verlassen musste“, sagt Klingspohn. „Ich habe mich | |
| auch schon um eine kleinere Umsetzwohnung bemüht, aber der Bezirk bietet in | |
| diesem Fall nur zwei statt drei Zimmer an, was für meine Frau und mich | |
| wegen Homeoffice nicht in Frage kommt.“ | |
| Das Land Berlin prognostiziert, dass in der Hauptstadt allein in diesem | |
| Jahr die Sozialbindung von 4.888 Wohnungen ausläuft. Laut [3][Institut der | |
| deutschen Wirtschaft (IW)] werden bundesweit bis 2035 durchschnittlich | |
| jedes Jahr 40.000 Sozialwohnungen aus der Bindung fallen. Das bedeutet: | |
| Diese Wohnungen können dann nach den üblichen Marktkonditionen vermietet | |
| werden. | |
| In Wohnlagen, die als angespannt gelten, dürfen Mieten innerhalb von drei | |
| Jahren um 15 Prozent steigen, wenn sie noch unter der ortsüblichen | |
| Vergleichsmiete liegen. So ist die aktuelle Gesetzeslage. Die | |
| Ampelregierung hatte sich dagegen vorgenommen, die sogenannte | |
| Kappungsgrenze auf 11 Prozent zu senken, um den Mietenanstieg etwas | |
| abzubremsen. Nur bislang ist nichts passiert. | |
| Gemeinsam mit 10 weiteren Nachbar*innen aus dem Haus schrieben | |
| Klingspohn und Sello deshalb im Dezember 2023 einen Brief an | |
| Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP), er solle doch „seiner Pflicht | |
| nachkommen und den notwendigen Gesetzentwurf“ erstellen. „Wir sind ein sehr | |
| diverses Haus. Menschen mit Migrationsgeschichte, Familien mit kleinen | |
| Kindern und Rentner, Menschen mit mehr und weniger Geld, wir leben hier | |
| nebeneinander“, sagt Klingspohn. | |
| ## FDP blockiert beim Mietrecht | |
| Im Januar hat er eine Antwort vom Justizministerium erhalten: „Wenn sich | |
| alle Seiten an die Koalitionsvereinbarungen halten, kann die Umsetzung | |
| zügig vorankommen“, heißt es darin. Kein Wort des Bedauerns. Ein fester | |
| Zeitpunkt wird auch nicht genannt. Es ist quasi die Standardantwort des | |
| Ministeriums, die auch die taz schon mehrfach erhalten hat, wenn sie sich | |
| nach der ausstehenden Mietrechtsnovelle erkundigte. | |
| Hintergrund, warum es mit dem Mieterschutz nicht vorangeht, ist ein | |
| regierungsinterner Streit. Der Justizminister hatte im [4][Oktober 2022 | |
| alternativen Gesetzentwurf zur Vorratsdatenspeicherung] vorgelegt – doch | |
| Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) lehnt diesen Entwurf ab. Weil die | |
| beiden Minister*innen bei dieser Frage nicht zusammenkommen, lässt | |
| [5][auch die Mietrechtsnovelle] auf sich warten. | |
| „Das ist doch unerträglich. Diese Sachen haben doch nichts miteinander zu | |
| tun“, sagt Klingspohn. Sein Nachbar Tom Sello befürchtet, „dass dieser | |
| Punkt der Koalitionsvereinbarung ganz unter den Tisch fallen könnte“. Dabei | |
| würde die Umsetzung „nicht nur uns, sondern ganz vielen Menschen helfen.“ | |
| Die Miete mache schon jetzt 41 Prozent der Renteneinkünfte von ihm und | |
| seiner Frau aus, sagt Sello, „Der Anteil wird steigen. Die Regierung | |
| entscheidet in welchem Tempo und damit, wie lange wir noch in der | |
| Kastanienallee wohnen können.“ | |
| Das Problem ist: Einfach eine kleinere, günstigere Wohnung zu beziehen, ist | |
| auf dem Berliner Mietmarkt auch nicht so leicht. Sello erzählt dann von | |
| einer Nachbarin, die schon vor drei Jahren aus dem Haus gezogen ist: „Sie | |
| hat sich schon damals genau ausgerechnet, dass sie diese Miete mit ihrer | |
| Rente nicht mehr bezahlen kann.“ Die Geschichte aus der Kastanienallee | |
| Nummer 10 erzählt eben das, was Verdrängung im Kern bedeutet: Am Ende | |
| bleiben nur die, die es sich noch leisten können. | |
| 15 Feb 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2018-02/prenzlauer-berg-historie-ddr-… | |
| [2] /Buergerrechtler-ueber-30-Jahre-Mauerfall/!5574138 | |
| [3] https://www.iwkoeln.de/studien/philipp-deschermeier-ralph-henger-wie-gross-… | |
| [4] /Vorratsdatenspeicherung-in-Deutschland/!5890806 | |
| [5] /FDP-verschleppt-besseren-Mieterschutz/!5922641 | |
| ## AUTOREN | |
| Jasmin Kalarickal | |
| ## TAGS | |
| Mieten | |
| Wohnungspolitik | |
| Gentrifizierung | |
| Deutsche Wohnen und Co. enteignen | |
| Sozialer Wohnungsbau | |
| Neubau | |
| Wohnungspolitik | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Mietenwahnsinn in Berlin: Gemeinsam gegen Vonovia | |
| Im Kampf gegen überhöhte Heizungs- und Betriebskostenforderungen setzt die | |
| Mieter*innenbewegung auf eine stärkere, auch bundesweite Vernetzung. | |
| Studie zum Mangel an Sozialwohnungen: „Der Staat ist erpressbar“ | |
| Die Zahl der Sozialwohnungen schrumpft. Das hat Folgen für die | |
| Staatsfinanzen, zeigt eine Studie. Der Staat bezuschusse oft überhöhte | |
| Mieten. | |
| Berliner Neubau- und Mietenpolitik: Ideologische Sackgasse | |
| Schwarz-Rot will, dass Neubau das Mietenproblem löst. Doch nicht mal die | |
| Landeseigenen können das noch leisten. Es braucht einen Strategiewechsel. | |
| Halbzeitbilanz der Wohnungspolitik: Flaute beim Bauen und Wohnen | |
| DGB und Mieterbund ziehen nach zwei Jahren Ampel eine traurige Bilanz: In | |
| puncto Wohnungspolitik hat die Bundesregierung wenig geliefert. |