| # taz.de -- Neue Bücher über Kraftwerk: Auf der Autobahn | |
| > Zwei neue Bücher widmen sich den Elektronikpionieren Kraftwerk: Eine | |
| > Liebeserklärung eines Fans und eine musikologische Dissertation eines | |
| > Musikers. | |
| Bild: Kraftwerk spielen „Autobahn“ bei einem Konzert im dänischen Kopenhag… | |
| Zwei neue [1][Bücher über Kraftwerk]. Muss das sein? Gibt es doch genug | |
| Lesestoff über die Erfinder der „industriellen Volksmusik“: Musikpresse und | |
| Feuilleton haben die Düsseldorfer Elektronikpioniere um Ralf Hütter und | |
| Florian Schneider längst zur bedeutendsten Band aus Deutschland verklärt. | |
| Grundfalsch ist das nicht. Denn über Scooter und die Scorpions schweigen | |
| wir lieber, und von Rammstein sowieso. | |
| Die Bücher, mit denen sich Jan Reetze und Carsten Brocker dem Phänomen | |
| Kraftwerk nähern, könnten kaum unterschiedlicher sein: die Liebeserklärung | |
| eines langjährigen Fans einerseits und die musikologische Dissertation | |
| eines professionellen Musikers andererseits. | |
| Hütter/Schneider haben mit ihrem Album „Autobahn“ Popmusik revolutioniert | |
| und die globale Entwicklung elektronischer Musik maßgeblich geprägt. | |
| Kraftwerk machten als erste Mensch-Maschinen-Musik. Sie stylten sich als | |
| Roboter und ersetzten Gesang durch synthetische Vocals. Von Daft Punk bis | |
| [2][Detroit Techno], von HipHop bis [3][K-Pop] sind die kompositorischen | |
| Ideen, künstlerischen Konzepte und technischen Lösungen, die Kraftwerk in | |
| ihrem Kling-Klang-Studio ausheckten, unverzichtbare Bestandteile der DNA | |
| von Popmusik geworden. So lautet das vorherrschende Narrativ. | |
| ## Das enthusiastische Buch wirkt ansteckend | |
| Wie Jan Reetze in seinem Buch „Die Geschichte von Kraftwerks ‚Autobahn‘. | |
| Eine Liebeserklärung an ein 50 Jahre altes Album“ erläutert, darf das | |
| Konzeptalbum von 1974 als Keimzelle der Idee einer elektronischen | |
| Popmusik betrachten werden. Reetzes Hommage ist mit der passionierten Verve | |
| eines Fans geschrieben, der sich daran erinnern kann, wie er als | |
| 17-jähriger Teenager das Album kaufte. Unvermeidlich ist sein Buch in | |
| weiten Teilen eine sich an Altersgenossen richtende Erinnerung an die | |
| Musikszene der 1970er. | |
| Da Reetze die Frühphase von der Gründung Kraftwerks im Jahr 1970 bis zur | |
| Veröffentlichung von „Autobahn“ aufarbeitet, kommt er erst in der Buchmitte | |
| auf das Album zu sprechen. Musikliebhaber, die wenig Ahnung von Kraftwerk | |
| haben, werden es ihm danken. Fans werden seine ausführliche Analyse des | |
| Albums schätzen. Aus vielerlei Quellen hat Reetze alles Verfügbare zu | |
| „Autobahn“ zusammengetragen. Schade nur, dass er kein neues | |
| Originalmaterial recherchieren konnte und die akademischen Publikationen zu | |
| Kraftwerk ignoriert. | |
| Doch das Versprechen im Buchtitel, eine „Liebeserklärung“ zu liefern, | |
| erfüllt sein Bändchen mustergültig: Das Album, so Reetze, ist „eine | |
| besondere Platte“, der es gelang, „fünfzig Jahre lang präsent zu bleiben�… | |
| weshalb sie „zu jenen Platten gehört, die alle Stürme überlebt haben“ und | |
| bis heute so „frisch wie eh und je klingt“. Sein enthusiastisches Buch | |
| wirkt ansteckend, das epochale Album mit dem neugewonnenen Wissen erneut | |
| aufzulegen. Mehr kann man von Musikjournalismus nicht erwarten. | |
| ## Sie verlassen sich zu oft auf Mythen | |
| Auch in der Kulturwissenschaft ist Kraftwerk lange schon ein Thema. Dass | |
| das, was als Popmusik-Forschung firmiert, oft auf tönernen Füßen ruht, wird | |
| aber gern unterschlagen. Allzu treuherzig verlassen sich viele | |
| Geisteswissenschaftler auf das, was sie im Musikjournalismus vorfinden, | |
| also die Mythen, interkulturellen Missverständnisse und gezielten | |
| Stilisierungen, die Kraftwerk augenzwinkernd in die Welt gesetzt haben. | |
| Musikologische Grundkenntnisse besitzen sie meist kaum und haben erst recht | |
| keine Ahnung von dem, was bei Kraftwerk das Wichtigste ist: die | |
| Musik-Maschinen. | |
| Doch damit ist nun Schluss dank „Kraftwerk. Die Mensch-Maschine: | |
| Wechselwirkungen zwischen Technologie und Komposition“. Carsten Brocker, | |
| seit 2014 als Keyboarder Mitglied der Münsteraner Synthieband Alphaville, | |
| war noch keine zehn Jahre alt, als die Westfalen 1984 mit „Big in Japan“ | |
| und „Forever Young“ weltweite Synthiepophits landen konnten. Als | |
| Praktiker vermag er zu erläutern, wie sich das Besondere des | |
| Kraftwerk-Sounds entwickelte: Als Wechselwirkung zwischen einer | |
| maschinell-minimalistischen Ästhetik und dem jeweils technisch verfügbaren | |
| Instrumentarium vom Synthesizer über Sequenzer bis zum Computer und der | |
| neuesten Virtualisierungs-Software. Das wird zwar teilweise in einem opaken | |
| Fachchinesisch verhandelt, doch ist das Buch auch für musikologische Laien | |
| durchaus lesbar. | |
| ## Sie bedienten sich bei Schlager und Klassik | |
| Reihenweise entlarvt Brocker viele Mythen, die sich um Kraftwerk ranken. | |
| So räumt er radikal auf mit den zahlreichen, vorsichtig formuliert: | |
| Unwahrheiten, die Hütter und Schneider in Interviews verbreitet haben. | |
| Ebenso entwirrt er fachkundig, welche musikalische Leistungen auf | |
| Kraftwerk-Alben eher epigonal und welche tatsächlich revolutionär waren. | |
| Brocker diagnostiziert produktionstechnische Übereinstimmungen zwischen | |
| Kraftwerk und anderen [4][Krautrock-Bands], die viele Statements von Hütter | |
| über das Alleinstellungsmerkmal Kraftwerks als PR entlarven. Besonders | |
| interessant wird es da, wo Brocker stillschweigende Übernahmen von Melodien | |
| aus Schlager oder Klassik für Kraftwerk-Stücke aufdeckt. | |
| Auch die Behauptung, dass „Computerwelt“ von 1981 das letzte bedeutende | |
| Album der Düsseldorfer Band sei, gehört zu den Klischees, mit denen | |
| Brocker aufräumt. Seine Analysen der „Expo 2000“-EP (1999) und des letzten | |
| Studioalbums, „Tour de France“ (2003) arbeiten heraus, worin die „ungeheu… | |
| lebendige Klangkomplexität“ dieser Spätwerke liegt. | |
| ## Mal innovativ, mal aufholend | |
| Aber ist das nicht nur für eingefleischte Kraftwerk-Fans von Belang? | |
| Brockers Studie untersucht zwei zentrale Fragen, die relevant sind für | |
| alle, die sich für elektronische Musik interessieren: Inwieweit kann man | |
| Kraftwerk tatsächlich als Begründer der elektronischen Popmusik verstehen? | |
| Wären afroamerikanische Stile wie Electro, House und Techno ohne Kraftwerks | |
| Vorarbeiten möglich gewesen? Bisher waren zu diesen Streitfragen nur | |
| einseitige Geschmacksurteile, Fanmeinungen oder Schutzbehauptungen zu | |
| lesen. Brockers Studie liefert nun eine differenzierte, wissenschaftlich | |
| untermauerte Antwort. | |
| Kraftwerk steht demnach für verschiedene Phasen der Musikproduktion, die | |
| mal innovativ, mal aufholend waren. „Einfluss“ wiederum ist ein | |
| dialektischer transnationaler Feedback-Prozess, der sich dagegen sperrt, | |
| auf einfache Formeln gebracht zu werden: Kraftwerk wurden an verschiedenen | |
| Orten auf unterschiedliche Weise rezipiert. | |
| 12 Feb 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Uwe Schütte | |
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