# taz.de -- Verletzliche Momente fremder Personen: Wegschauen oder hinsehen? | |
> Wenn fremden Menschen in der Öffentlichkeit etwas Peinliches passiert, | |
> fühlt es sich falsch an, dabei zu sein. Man wird zwangsläufig Teil der | |
> Situation. | |
Bild: Schicksalshafter Moment: Ein Ladendieb wird abgeführt | |
Manchmal bezeugen wir unfreiwillig Momente im Leben Fremder, in denen sich | |
schicksalhaft etwas ändert. Es ist, als würden wir in einen privaten Winkel | |
blicken, der nicht für uns gemacht ist. Vor einiger Zeit sah ich einen | |
Mann, der in der Hamburger Mönckebergstraße aus einem Kaufhaus trat, | |
flankiert von zwei Polizisten. | |
Er wirkte gefasst, als ginge ihn das Ganze nichts an. Kurz schaute er | |
unbestimmt in meine Richtung, bemerkte vielleicht, dass ich diesem | |
besonderen Moment seines Lebens beiwohnte. Er schien zuvor etwas geklaut zu | |
haben. Die Polizisten hielten einen Gegenstand in der Hand. Ich stellte mir | |
vor, was er wohl eingesteckt hatte, welches Ding ihm nun eine Anzeige | |
einbringen würde. | |
Wenn ich mitbekomme, wie die Polizei Menschen festnimmt, spüre ich eine | |
Mischung aus [1][Scham] und Anteilnahme. Ich werde zu einem winzigen | |
Bestandteil der Situation und muss mich irgendwie dazu verhalten: | |
wegschauen oder hinsehen? Etwas entsetzt mich an diesem schicksalhaften | |
Moment so, dass ich mir darüber oft im Nachhinein noch Gedanken mache. | |
Vielleicht, weil ein verletzlicher Moment in einem Menschenleben entblößt | |
für alle Augen da liegt. | |
Ähnlich war es letztens im Zug. Ich saß nachmittags in einem fast völlig | |
leeren Großraumwaggon, war ins Lesen vertieft, als ich plötzlich die Stimme | |
des Zugbegleiters hörte. Der Ton war gereizt, als würde der Mann seinen | |
Satz bereits wiederholen: „Ihr Ticket?“ | |
Eine undeutliche, verwaschene Stimme antwortete. Ich blickte zu einem | |
Vierertisch ein paar Meter vor mir, wo es sich ein älterer Mann mit einer | |
Flasche Bier gemütlich gemacht hatte. „Mein Ticket ist in meiner Jacke“, | |
sagte er. „Ich fasse Ihre Jacke nicht an“, sagte der Zugbegleiter. Dann | |
fragte er: „Brauchen Sie einen Notarztwagen?“ Der Mann antwortete nicht. Er | |
nuschelte etwas, vielleicht war er betrunken oder verwirrt, doch ein | |
Rettungswagen wirkte übertrieben. | |
## Am nächsten Bahnhof kamen zwei Beamte | |
„Na gut, dann mache ich jetzt eine Durchsage, ob Polizei im Zug ist“, sagte | |
der Zugbegleiter. Er entfernte sich und blieb so lange weg, dass ich ihn | |
fast vergaß. Doch am nächsten Bahnhof kamen zwei Beamte in Uniform durch | |
den Gang und bauten sich vor dem älteren Mann auf. „[2][Wohnungslos]“, | |
hörte ich einen der Polizisten fragen. Der Mann antwortete undeutlich. Dann | |
plötzlich schrie er. Ein Jaulen wie von einem Tier. | |
Es fühlte sich falsch an, in dieser Situation anwesend zu sein. Ich ging | |
zur Toilette. Durch die Tür hörte ich, wie die Polizisten den Mann durch | |
den Gang abführten und er schrie. Ich dachte daran, wie gemütlich er zuvor | |
auf seinem Platz gesessen hatte. Der Zug hatte durch den Vorfall 20 Minuten | |
Verspätung. Was geschah nun mit dem Mann? Würde der Einsatz in einer | |
Verkettung von Ereignissen vielleicht Folgen für sein Leben haben? | |
Ein paar Tage danach wurde ich frühmorgens durch einen lauten Knall wach. | |
[3][Blech knallte gegen Blech]. Reifen quietschten. Sirenen ertönten. Es | |
waren Geräusche von Gefahr. Ich lief zum Fenster und sah Polizeiautos, die | |
ein Auto verfolgten. Eine Szene wie in einem amerikanischen Action-Film. | |
Nach ein paar Metern stoppte die Verfolgungsjagd, die Polizeiautos | |
umstellten den Fluchtwagen. | |
Ich stand am Fenster. Um mich wurde die Nacht langsam zum Tag. Blaulicht | |
flirrte. Was passierte dort unweit von mir? Lag die Person da gerade etwa | |
umstellt am Boden? Was hatte sie getan, dass sie geflohen war? Was würde | |
nun mit ihr passieren? Wie würden die staatlichen Mechanismen in dieses | |
Leben hineingreifen? Ich stellte mir vor, dass dieser frühmorgendliche | |
Augenblick an der Straßenecke vielleicht der letzte freie Moment für | |
längere Zeit im Leben dieses Menschen gewesen sein könnte. | |
Unweit von mir war eine menschliche Erschütterung zu spüren. Das Blaulicht | |
blinkte durch die schwarzen Silhouetten der Bäume: schön wie ein | |
[4][expressionistisches Bild]. Doch vor mir passierte ein individuelles | |
Drama. Die Vögel zwitscherten. Sonst war es auf eine unwirkliche Weise | |
ruhig. | |
7 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Scham/!t5020633 | |
[2] /Wohnungslosigkeit-in-Deutschland/!5971851 | |
[3] https://www.malteser.de/aware/hilfreich/erste-hilfe-beim-autounfall-was-tun… | |
[4] /Expressionismus/!t5203839 | |
## AUTOREN | |
Christa Pfafferott | |
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