# taz.de -- Schwangerschaftsübelkeit: Dem Erbrechen vorbeugen? | |
> Warum Schwangere in den ersten Monaten unter Übelkeit leiden, wusste | |
> bisher niemand so genau. Nun steht ein bestimmtes Hormon in Verdacht. | |
Bild: Lästige Übelkeit in den ersten Schwangerschaftswochen | |
Etwa vier von fünf Schwangeren leiden an Übelkeit und Erbrechen. Die | |
Symptome beginnen meist zwischen der 4. und 10. [1][Schwangerschaftswoche] | |
und ebben in der Regel bis zur 20. Woche wieder ab. Entgegen der | |
Bezeichnung „morgendliche Übelkeit“ kann das Unwohlsein auch zu anderen | |
Tageszeiten vorkommen, tritt aber in der ersten Tageshälfte am häufigsten | |
auf. Für viele werdende Mütter ist das eine große Belastung. | |
Bei etwa [2][0,3 bis 3,6 Prozent] der Betroffenen weltweit sind die | |
Beschwerden besonders schlimm, man spricht dann von einer Erkrankung namens | |
„Hyperemesis gravidarum“: Die Schwangeren übergeben sich mehr als dreimal | |
pro Tag, verlieren in der Folge deutlich an Körpergewicht und leiden an | |
Wassermangel. Nicht von der Statistik erfasst sind Trans-Männer, die | |
schwanger wurden und unter der gleichen Symptomatik leiden könnten. | |
Warum überhaupt Schwangerschaftsübelkeit vorkommt, war lange ungeklärt. | |
„Früher dachte man, es sei vor allem ein psychisches Problem“, sagt Corinna | |
Bryan, Chefärztin der Geburtshilfe an der Universitätsklinik für | |
Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Klinikum Lippe. „Da hieß es, die Frauen | |
kämen beispielsweise nicht mit ihrer Mutterrolle zurecht und deshalb sei | |
ihnen schlecht – diese Theorie wurde mittlerweile widerlegt.“ | |
Als körperliche Ursachen wurden mehrere Möglichkeiten in Betracht gezogen, | |
vor allem hormonelle Veränderungen. Als wahrscheinlichster Kandidat galt | |
das humane Choriongonadotropin (beta-HCG), ein Hormon, das in der | |
Schwangerschaft stark ansteigt und beispielsweise bei einem | |
Schwangerschaftstest als Marker dient. „Frauen mit einem hohen | |
beta-HCG-Spiegel leiden besonders unter der Übelkeit“, sagt Bryan. Ob das | |
Hormon allerdings wirklich die Symptome verursacht, war bisher nicht | |
nachgewiesen. | |
## Neue Studien | |
[3][Eine neue Studie] legt nun nahe, dass es tatsächlich einen anderen | |
Verantwortlichen gibt: den [4][Wachstumsdifferenzierungsfaktor GDF-15]. | |
Seine genauen Funktionen sind nicht bekannt, er kommt aber in besonders | |
hohen Konzentrationen in der Plazenta vor, wo er das Wachstum des Babys | |
unterstützt. Generell ist GDF-15 bei allen Menschen vorhanden und reagiert | |
auf zellulären Stress. Wird er vermehrt hergestellt, führt das auch bei | |
Nichtschwangeren zu Übelkeit und Erbrechen. In den letzten Jahren kam daher | |
der Verdacht auf, das Hormon könnte mit der Schwangerschaftsübelkeit zu tun | |
haben. | |
Forschende aus den USA, Großbritannien und Sri Lanka wollten es genauer | |
wissen. Sie untersuchten Schwangere etwa in der 15. Woche und befragten sie | |
zu ihrem Wohlbefinden. Außerdem betrachteten sie gezielt eine Gruppe von | |
Frauen, die wegen Hyperemesis ins Krankenhaus gekommen waren, und | |
verglichen sie mit Schwangeren mit höchstens geringen Übelkeitssymptomen. | |
Dabei zeigte sich: Bei schlimmer Schwangerschaftsübelkeit waren die | |
GDF15-Werte deutlich höher. Zudem konnten die Forschenden nachweisen, dass | |
der Großteil des Hormons aus dem fetalen Teil der Plazenta stammt und von | |
dort in den Blutkreislauf der Mutter gelangt. | |
Interessanterweise muss ein hoher GDF15-Spiegel trotzdem nicht automatisch | |
auch ein stärkeres Unwohlsein oder gar Hyperemesis mit sich bringen. | |
Frauen, die bereits vor der Schwangerschaft mehr von dem Hormon im Blut | |
hatten, verspürten weniger Symptome. Daraus schließt die Forschungsgruppe: | |
Der Körper kann sich möglicherweise an den Wachstumsdifferenzierungsfaktor | |
gewöhnen. | |
Diese Erkenntnis wiederum mag für die Behandlung von | |
Schwangerschaftsübelkeit entscheidend sein. Bisher werden nur die Symptome | |
behandelt. Bei leichten Beschwerden greifen Schwangere etwa zu Hausmitteln | |
oder gängigen Medikamenten gegen Übelkeit. Für ihre Wirksamkeit gibt es | |
zwar höchstens eingeschränkte wissenschaftliche Nachweise, viele davon – | |
wie Ingwer- oder Kamillentee – schaden aber auch nicht und können deshalb | |
problemlos ausprobiert werden. | |
Anders sieht es bei starker und anhaltender Übelkeit aus: „Wenn wir eine | |
Patientin mit Hyperemesis aufnehmen, geht erst einmal die Triage los“, sagt | |
Bryan. „Wir haben einen Stufenplan – es beginnt meist mit einer | |
Flüssigkeitstherapie, weil viele Frauen dann ausgetrocknet sind.“ Dazu | |
müssen die Vitaminreserven aufgefüllt und die Symptome mit | |
übelkeitsstillenden Mitteln behandelt werden. | |
## Die Suche nach einer Behandlung beginnt | |
Zu den häufig verwendeten und gut wirksamen Medikamenten gehört etwa das | |
[5][Antiemetikum Ondansetron]. Es gilt allgemein als sicher für Schwangere | |
und die ungeborenen Kinder. Nachdem eine wissenschaftlich umstrittene | |
Untersuchung ein erhöhtes Risiko für Herzfehler bei den Babys zeigte, wird | |
es mittlerweile aber erst nach der 11. oder 12. Schwangerschaftswoche | |
eingesetzt, wenn das Herz weit genug entwickelt ist. Bei den meisten Frauen | |
hat sich die Übelkeit bis dahin aber sowieso schon wieder deutlich | |
gebessert. | |
Seit bekannt ist, dass GDF15 die Symptome auslöst, kann die Suche nach | |
einer Behandlung beginnen, die direkt an der Ursache ansetzt. Die | |
Forschenden schlagen beispielsweise eine Desensibilisierung vor: Frauen mit | |
einem Kinderwunsch könnten mit kleinen Dosen an den höheren GDF15-Spiegel | |
gewöhnt werden. Prinzipiell eine gute Idee, findet Bryan, allerdings | |
müssten noch viele Fragen geklärt werden. Zum Beispiel, wann die Frauen mit | |
der vorbeugenden Behandlung beginnen sollten. „Selbst bei einem | |
Kinderwunsch werden Paare ja nicht immer schnell schwanger“, sagt die | |
Ärztin. „Dann müsste die Frau unter Umständen das Hormon sehr lange | |
einnehmen – oder vielleicht reicht es, damit nach einem positiven | |
Schwangerschaftstest zu beginnen?“ | |
Wer von einer Desensibilisierung profitiert, könnte mittels eines schnellen | |
Gentests ermittelt werden. Denn die neue Studie zeigt auch, dass eine | |
bestimmte Abweichung in der DNS-Sequenz des GDF15 besonders ungünstig ist: | |
Frauen mit dieser Variante des Gens haben vor der Schwangerschaft weniger | |
dieses Hormons im Körper und leiden dann eher an Schwangerschaftsübelkeit. | |
## Vorsichtige Forschung | |
Bis zu einer Anwendung wird es jedoch dauern, falls es überhaupt einmal | |
dazu kommt. „Es ist ein sehr wichtiger Fund“, so Bryan, „aber bevor ein | |
Medikament auf den Markt kommen kann, muss viel Forschung passieren. Und | |
das ist gerade mit Schwangeren eine schwierige Angelegenheit.“ | |
Spätestens seit der Katastrophe mit dem Beruhigungsmittel Contergan sind | |
Forschende und die Pharmaindustrie bei Studien mit werdenden Müttern | |
besonders vorsichtig geworden. 1957 war die Arznei Contergan auf den Markt | |
gekommen und sie galt als sicher – doch tatsächlich schädigte das Mittel | |
die Nerven und störte die Ausbildung der Extremitäten, des Schädels oder | |
der inneren Organe der Babys. Manche Kinder kamen ohne Arme oder Beine zur | |
Welt, andere starben noch im Mutterleib. | |
„Bei neuen Medikamenten für Schwangere muss deshalb sehr langfristig | |
gezeigt werden, dass sie für die Babys sicher sind und selbst nach Jahren | |
keine negativen Auswirkungen auftauchen“, sagt Bryan. „Es wird daher noch | |
viel länger dauern, bis eine mögliche GDF15-Therapie verfügbar ist, als wir | |
Frauen uns das wünschen.“ | |
4 Feb 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1111/1742-6723.13909 | |
[2] https://aspenjournals.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/ncp.10205 | |
[3] https://www.nature.com/articles/s41586-023-06921-9 | |
[4] https://journals.physiology.org/doi/abs/10.1152/ajpendo.00134.2023 | |
[5] https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fphar.2023.1291235/full | |
## AUTOREN | |
Stefanie Uhrig | |
## TAGS | |
Schwangerschaft | |
Hormone | |
Forschung | |
Kolumne PMS-Ultras | |
Regisseurin | |
Kolumne Diskurspogo | |
Kolumne Subtext | |
Männer | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
PM(D)S und Elternschaft: Ungeduldiger und ungerechter | |
Die gesamte Energie von Müttern mit PM(D)S geht dafür drauf, ihre und die | |
Emotionen ihrer Kinder zu regulieren. Unterstützung gibt es wenig. | |
Regisseurin über feministische Filme: „Nur Männer werden Genies genannt“ | |
Für Regisseurin Katharina Mückstein ist die Fernsehbranche weiter vom | |
männlichen Blick dominiert. Sie will diversere Figuren, Casts und | |
Mitwirkende. | |
Weibliche Selbstbestimmung: „Schön, dass ich keine Kinder habe“ | |
Frauen, die keine Mutter sein wollen, wird suggeriert, dass es ihnen an | |
etwas mangle. Denn gute kinderlose Vorbilder gibt es immer noch zu wenig. | |
Vorbilder der Kindheit: Ein Hoch auf die Tanten | |
Ohne ihre zwei Tanten wäre unsere Autorin nicht, wer sie heute ist. Sie | |
findet: Es ist an der Zeit, die Tante zu feiern. | |
Männer und Gleichstellung: Vätermonate sind wertvoll | |
Viele Männer befürworten Gleichstellung, fühlen sich von der Politik aber | |
vernachlässigt. Das zeigt eine Studie des Soziologen Carsten Wippermann. |