# taz.de -- Schule in Guatemala: Von der Müllkippe zum Abitur | |
> In der Stadt Cobán in Guatemala gibt die „Schule der Hoffnung“ vielen | |
> Kindern eine Perspektive, die sonst kaum eine hätten. | |
Bild: Diese Kinder bekommen an ihrer Schule Essen und viele andere wichtige Ang… | |
COBÁN taz Byron Gómez und sein Team von der „Schule der Hoffnung“ in der | |
guatemaltekischen Stadt Cobán haben an diesem Montagmorgen alle Hände voll | |
zu tun. Draußen vor der Bürotür stehen viele Eltern, vor allem Mütter, | |
Schlange. Heute ist Anmeldetag für das im August beginnende neue Schuljahr. | |
„Ob wir der Nachfrage gerecht werden können, wissen wir nicht, denn es | |
stehen nicht mehr als hundert Plätze für Vor- und Grundschüler zur | |
Verfügung“, so der Rektor von Ende 30, und die ersten seien schon | |
weggegangen. Auch an Kinder aus anderen Stadtteilen, wie dem Zentrum von | |
Cobán. Das war früher nicht so. | |
„Als kriminell, von Müllsammlern, also vom Recycling lebenden Menschen, | |
Handwerkern und einfachen Menschen bewohnt, hat Esfuerzo I auch heute nicht | |
den besten Ruf, aber wir kommen voran“, sagt der Pädagoge über die auf | |
einer Anhöhe in dem Armenviertel gelegene Einrichtung. Seit mehr als acht | |
Jahren arbeitet Gómez an der etwas anderen Schule. | |
Heute ist er ihr Rektor. „Wir arbeiten hier mit Kindern, die oft aus | |
prekären Verhältnissen stammen. Viele der Eltern verdienen sich unten auf | |
der Mülldeponie mit Recycling ihren Lebensunterhalt, Gewalt in der Familie | |
ist ein Riesenproblem, und wir versuchen zu helfen, wo wir können“, erklärt | |
Gómez. | |
## Diese Schule kann mithalten | |
Das funktioniert so gut, dass Jugendliche von der „Schule der Hoffnung“ im | |
Schnitt mit Kindern aus Schulen in anderen Stadtteilen von Cobán mithalten | |
können. Dafür sorgt ein engagiertes junges Kollegium und Schulinitiator | |
Padre Godoy. Der hat gleich nebenan sein Büro. Sergio Godoy, ein kleiner, | |
drahtiger Mann mit gepflegtem kurzen Bart und raspelkurzen Haaren, ist ein | |
Pragmatiker im Dienste des Herrn. | |
2003 wurde er als junger wissbegieriger Pfarrer mit etwas | |
Unterrichtserfahrung nach Esfuerzo I geschickt. „Als ich mich damals mit | |
meiner neuen Gemeinde vertraut machte, stattete ich auch der Müllkippe | |
einen Besuch ab: Ich sah, wie sich Kinder um Lebensmittel aus Abfalltüten | |
balgten, während Hunde und Geier nach Aas suchten, dazwischen Erwachsene, | |
die Plastik, Glas, Blech und Kartonagen aus den Müllbergen sammelten, die | |
Lastwagen anfuhren“, erinnert sich Godoy. | |
Er sei geschockt gewesen und am nächsten Tag mit einem Topf voll Suppe und | |
einem Fußball zurückgekehrt. Nach dem Kicken mit den Kindern und | |
Jugendlichen lud er sie zum Essen ein, knüpfte erste Kontakte. Ein paar | |
Wochen später war aus der spontanen Initiative ein festes samstägliches | |
Treffen geworden, bei dem gespielt, gegessen und bald auch unterrichtet | |
wurde. | |
„Da entstand die Idee, eine Schule für diejenigen zu gründen, die von den | |
Behörden sich selbst überlassen wurden“, so der kritisch auftretende | |
Pfarrer. Er engagiert sich für eine gerechtere und solidarische | |
Gesellschaft, hat Kontakte zu meist kirchlichen Organisationen im In- wie | |
Ausland geknüpft und so die Anschubfinanzierung zusammenbekommen. Das | |
Grundstück auf dem Hügel über Esfuerzo I stellte die Stadt zur Verfügung. | |
## Essen aus dem eigenen Garten | |
„Von Beginn an war klar, dass wir auch für die Ernährung der Kinder | |
aufkommen würden. Mit leerem Magen lernt es sich schlecht“, erklärt Padre | |
Godoy mit einem entwaffnenden Lächeln. Daran hat das Team um Godoy all die | |
Jahre festgehalten. Gegenüber von der mehrere hundert Meter langen | |
Backsteinwand, die die Schule zur Straße hin abgrenzt, befindet sich der | |
huerto, der Gemüsegarten. | |
Kürbis, Zucchini, Obst, aber auch etwas Mais, in Guatemala neben Bohnen das | |
Grundnahrungsmittel, wird neben vielem anderen angebaut. Jeden Morgen | |
erhalten die derzeit 425 Schüler:innen zwischen fünf und achtzehn Jahren | |
ihr Frühstück, eine kleine Zwischenmahlzeit und das Mittagessen. | |
Das 20. Jubiläum hat die etwas andere Schule aus Cobán im letzten Jahr | |
gefeiert und sich im Laufe der Jahre langsam für andere Stadtteile | |
geöffnet. Was als reine Stadtteilschule begann, steht nun anderen Familien | |
offen, und Mütter wie Violeta Cierra, die im Zentrum der | |
90.000-Einwohner:innen-Stadt lebt, haben die Chance ergriffen. | |
„Ich habe nur Gutes gehört, vertraue auf das junge, engagierte und | |
kommunikative Kollegium, wovon so manche staatliche Schule nur träumen | |
kann“, sagt die Frau Anfang dreißig. Mehrere Frauen in der Schlange stimmen | |
ihr zu. Bedenken hat sie keine, obwohl sie weiß, dass an der „Schule der | |
Hoffnung“ etliche Kinder aus prekären Verhältnissen unterrichtet werden. | |
„Das Kollegium hat Erfahrung und ist nicht allein. Hier gibt es eine | |
psychologische Praxis, einen Arzt mit Krankenstation, welche Schule hat so | |
etwas?“, fragt sie mit einem freundlichen Lächeln. | |
## Das Geld für Schulen kommt nicht an | |
Guatemala rangiert im Pisa-Test eher auf den hinteren Plätzen. Ein | |
wesentlicher Grund dafür ist die [1][Korruption]: Das Geld versickert auf | |
dem Weg in den Schulen. Zudem waren in kaum einem anderen Land | |
Lateinamerikas die Schulen wegen der Pandemie so lange geschlossen wie im | |
größten mittelamerikanischen Land: ganze zwei Jahre. Das hat dem gerade aus | |
dem Amt geschiedenen konservativen Präsidenten, [2][Alejandro Giammattei, | |
viel Kritik] eingebracht, noch mehr, dass Schäden, notwendige Reparaturen | |
und Instandsetzungen in den zwei Jahren des Stillstands nicht abgearbeitet | |
werden. | |
Für die politisch Verantwortlichen in ihrem Land haben mehrere der Frauen | |
in der Schlange nur eine verachtende Handbewegung übrig. Gleiches gilt für | |
Padre Godoy, der zwar rund achtzig Prozent der Betriebskosten für seine | |
Schule der Hoffnung vom Staat erhält, aber den Rest für medizinische, | |
psychologische Hilfe oder auch die kleine Menschenrechtsstelle mit Spenden, | |
meist aus dem Ausland, finanzieren muss. „Wir brauchen diesen integrativen, | |
inklusiven Ansatz“, so der Geistliche. | |
Dass er nötig ist, zeige sich „zum Beispiel bei familiären Krisen“, erkl�… | |
María del Rosario Piñera, die seit ein paar Jahren die Menschenrechtsarbeit | |
der „Stadt der Hoffnung“ koordiniert und anfangs die Schule geleitet hat. | |
Heute ist sie zuständig für innerfamiliäre und sexuelle Gewalt – beides | |
Probleme im Stadtviertel Esfuerzo I. | |
Auffällige Kinder und Jugendliche werden befragt, Kinder und Heranwachsende | |
aus Krisenfamilien könnten – wenn nötig – in einer betreuten Wohnung | |
untergebracht werden, so Piñera. Zudem habe die Verurteilung eines Vaters | |
zu 27 Jahren Haft wegen Missbrauchs seiner drei Töchter in Esfuerzo I einen | |
positiven, einen abschreckenden Effekt gehabt. Erfolge wie dieser tragen | |
dazu bei, dass sich Kinder, Heranwachsende, aber auch Mütter | |
selbstbewusster in Esfuerzo I bewegen. | |
## „Ich will Anwältin werden“ | |
Ein Beispiel ist Gloria, die sich mit ihrem Cousin Anderson vor dem | |
Klassenraum trifft, um gemeinsam nach Hause zu gehen. Die aufgeweckte | |
Zwölfjährige weiß genau, dass sie in fünf, sechs Jahren studieren will: | |
„Rechtswissenschaft! Ich will Anwältin werden“, sagt sie und blickt | |
selbstbewusst in die Runde. Lehrerin Narda Pop Cucul, die gegenüber | |
Klassenarbeiten auf einer Bank sortiert, nickt anerkennend. | |
Die junge Pädagogin aus der [3][indigenen Community] arbeitet seit 2020 in | |
der Projektschule, fühlt sich wohl im überaus solidarischen Kollegium und | |
hat das Gefühl, am richtigen Fleck zu sein. „Ich lerne viel von den Kindern | |
und werde besser. Das ist sehr befriedigend“, erklärt sie. Das beruhe auf | |
Gegenseitigkeit wie Paolo Casado findet: „Diese Schule gibt mir viele | |
Optionen. Hier habe ich gute Chancen, ein Stipendium für eine Ausbildung im | |
gastronomischen Sektor, im Hotel, zu bekommen“, sagt sie anerkennend. | |
Zudem sei sie an der „Ciudad de Esperanza“ viel selbstbewusster geworden, | |
berichtet Paola. Das führt sie auf die Förderung durch die 24 engagierten | |
Lehrer:innen, darunter zehn Männer, zurück – und auf moderne pädagogische | |
Konzepte. Das wirkt sich auch in Esfuerzo I aus, wo mehr und mehr kleine | |
Geschäfte entstanden sind und wo gebaut wird. | |
Indizien für einen Aufschwung, der auch auf und um die Müllkippe zu | |
beobachten ist. Die soll moderner und nachhaltiger werden, und dafür ist | |
nicht nur die Installation von Drainagen für die Ableitung kontaminierten | |
Abwassers aus der Deponie geplant, sondern auch Mülltrennung sowie die | |
Installation einer Kompostanlage für organischen Müll. | |
Laut Stadtverwaltung sind das Fortschritte, die sich für diejenigen | |
Familien bemerkbar machen sollen, die auf das Müllsammeln angewiesen sind. | |
Eine Folge von 20 Jahren kontinuierlicher Arbeit in der „Stadt der | |
Hoffnung“. | |
7 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Knut Henkel | |
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