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# taz.de -- Menschenrechtler über Nordsyrien: „De-facto-Protektorat der Tür…
> Menschenrechtler haben Anzeige gegen protürkische Milizen in Syrien
> erstattet. Es gehe um die Glaubwürdigkeit der Strafjustiz, sagt Patrick
> Kroker.
Bild: Viele kämpfen fürs Geld: protürkische Milizionäre in Afrin, hier im F…
taz: Herr Kroker, Sie haben beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe
Strafanzeige gegen Milizen in Syrien gestellt. Eine Ihrer Zeuginnen wurde
verschleppt und sexuell versklavt. Ein anderer berichtet, wie seine
Olivenbäume zerstört wurden. Was geschieht da in Nordsyrien?
Patrick Kroker: Diese Milizen haben eine Terror- und Willkürherrschaft in
der Region Afrin installiert, und zwar auf Geheiß der Türkei, mit deren
Unterstützung sie das Gebiet seit sechs Jahren kontrollieren. Vor allem die
kurdische und die jesidische Bevölkerung leiden darunter. Die Milizen
bereichern sich an allem, was die ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner
einst hatten.
Warum ehemalig?
Die Straftaten stehen in Zusammenhang damit, dass [1][die kurdische
Bevölkerung vertrieben wird]. Häufig werden Häuser besetzt, wird Eigentum
beschlagnahmt. Wenn die Leute wiederkommen und ihr Haus oder Auto
zurückhaben wollen, werden sie eingesperrt und gefoltert, oft wird Lösegeld
verlangt. Mittlerweile hat ein Bevölkerungsaustausch stattgefunden.
Wer sind die neuen Bewohner?
Die Türkei versucht mithilfe der Milizen, die Gegend zu „arabisieren“
beziehungsweise zu „türkifizieren“. Kurden werden vertrieben,
geflüchtete Araber und auch Turkmenen werden aus anderen Teilen Syriens
oder aus der Türkei nach Afrin verfrachtet.
In der Strafanzeige schildern Sie, wie Kurdisch von Arabisch und Türkisch
verdrängt wird, etwa auf Straßenschildern. In den Schulen wird nicht
Kurdisch, sondern Türkisch unterrichtet. Die türkische Lira wird verwendet
und die türkische Post ist auch vor Ort. Handelt es sich um eine Annexion?
Die [2][Türkei hat nie gesagt, dass Afrin Teil ihres Staatsgebiets] ist
oder werden soll. Trotzdem übt sie zu 100 Prozent Kontrolle aus.
Völkerrechtlich handelt es sich um eine Besatzung. Übrigens unter völligem
Ausschluss der internationalen Öffentlichkeit. Weder die internationale
Presse noch Menschenrechtsorganisationen haben Zugang zu diesem
De-facto-Protektorat der Türkei in Syrien.
Was treibt die Türkei an?
Afrin war bis zur [3][türkischen Militäroffensive 2018] einer der am
stärksten kurdisch geprägten Teile Syriens, Schätzungen zufolge bis zu 90
Prozent. Nach Ausbruch des Syrienkriegs 2011 bis 2018 war die Region ein
Teil der kurdischen Selbstverwaltung in Nordsyrien, die von der Türkei als
existenzielle Bedrohung gesehen wird. Um eine kurdische Autonomie
nachhaltig zu verhindern, arbeitet man in Ankara darauf hin, dass die
Bevölkerungsmehrheit in Afrin nicht mehr kurdisch ist.
Wie weit ist die Türkei damit?
Heute gehen Schätzungen von noch 30 bis 40 Prozent Kurdinnen und Kurden in
Afrin aus. Bis zu 300.000 Menschen sind vertrieben worden.
Sie sprachen von einer Terrorherrschaft. Welche Verbrechen werfen Sie den
Milizen konkret vor?
Gezielte Tötungen, Folter, Vergewaltigungen, sexuelle Versklavung,
Plünderungen und anderes. Wichtig ist, dass diese Verbrechen systematisch
gegen die Zivilbevölkerung verübt wurden und werden, um diese zu
vertreiben.
Im Zusammenhang mit dem Gazakrieg wird derzeit über Genozid diskutiert.
Warum sprechen Sie im Falle Afrins nicht davon?
Die juristischen Anforderungen für einen Genozid sind sehr hoch. Es muss
konkret darum gehen, eine Gruppe als solche auszulöschen. Viele der
Straftaten in Afrin richten sich gezielt gegen die kurdische
Bevölkerungsgruppe, aber ich wäre zurückhaltend, dies als
Zerstörungsabsicht zu qualifizieren. Außerdem wäre die Frage, ob die Kurden
speziell in Afrin als konkrete Gruppe einzustufen sind. Mit dem
Genozid-Begriff wäre aber ohnehin nicht viel gewonnen, denn Verbrechen
gegen die Menschlichkeit zählen bereits zur schwersten Kategorie von
Verbrechen.
Die Anzeige richtet sich gegen sechs Milizenführer. Was wissen Sie über
diese Personen?
Das sind Leute, die eine hervorgehobene Position in insgesamt vier Milizen
bekleiden. Aber wenn man etwas zur Anzeige bringt, bringt man einen
Sachverhalt zur Anzeige. Die Anzeige richtet sich gegen alle, die für die
Verbrechen verantwortlich sind. Wir haben aus mehreren Dutzend Milizen vier
große, notorische Gruppen ausgewählt, über deren Führer auch genug bekannt
ist.
Nennen Sie mal ein Beispiel.
Abu Hatem Shaqra von der Miliz Ahrar al-Sharqiya. Er ist einer, der sich
mit viel krimineller Energie eine regelrechte Konfliktbiografie zugelegt
hat. Er hat sich bei verschiedenen Milizen eingebracht, um Karriere zu
machen, und das Ganze auch für sehr egoistische Zwecke ausgenutzt, um sich
selbst zu bereichern. Zu seiner Miliz gehören Kämpfer, die früher
beispielsweise auch dem IS angehörten. 2018 kämpfte die Gruppe dann auf der
Seite der Türkei.
Sind die Milizen allesamt islamistisch?
Der politische Islam ist präsent, aber nicht dominant. Es geht nicht in
erster Linie um Ideologie. Oft steht die Bereicherungsabsicht im
Vordergrund. Auf perfide Art und Weise werden Einkommensquellen wie
Lösegeld erschlossen. Gleichzeitig werden Kurdinnen und Jesidinnen häufig
als „Ungläubige“ beschimpft. Es ist also ein Aspekt unter mehreren. Das
übergeordnete Ziel ist das der Türkei, die Bevölkerungsstruktur zu
verändern.
Das heißt, Sie haben kleine Fische angezeigt, während der Schirmherr
Erdoğan unberührt bleibt.
Die Milizenführer befehligen nach eigenen Angaben tausende Kämpfer. Im
Vergleich zu Erdoğan mögen sie klein sein, aber im Vergleich zu den
wirklich kleinen Fischen, die für sie die Drecksarbeit erledigen, sind das
mittelgroße Fische.
Was bewegt die einfachen Kämpfer, sich einer der Milizen anzuschließen?
Viele machen es fürs Geld. Manche waren vor dem Krieg in der Landwirtschaft
tätig, dann brach die normale Wirtschaft zusammen. Bei den Milizen gab es
die Aussicht, zu plündern und sich einen Bauernhof, ein Auto oder einen
Olivenhain unter den Nagel zu reißen. Außerdem gab es finanzielle Anreize.
Zumindest zu Beginn hat die Türkei die Gehälter bezahlt, möglicherweise
weit darüber hinaus.
Was erhoffen Sie sich von Ihrer Strafanzeige?
Unsere Hoffnung ist, dass es zu Haftbefehlen kommt und eines Tages zu
Strafverfahren.
Aber die Personen, um die es geht, sitzen nicht in Deutschland, sondern in
Syrien, oder?
Ja, aber die Erfahrung zeigt, dass Leute, die ein gewisses Standing haben,
irgendwann reisen wollen, oft nach Europa. Man kann nicht erst dann
anfangen zu ermitteln, wenn sich jemand in einer Klinik in Hannover
behandeln lassen will, wie es zum Beispiel Angehörige des iranischen
Regimes gern tun. Die Haftbefehle brauchen wir jetzt.
Warum kann nicht gleich gegen Erdoğan vorgegangen werden?
Erdoğan selbst ist vor Strafverfolgung durch nationale Gerichte durch seine
Immunität geschützt. Aber uns war wichtig, die Schwelle, über die die
Bundesanwaltschaft gehen muss, um die Straftaten in Afrin zu ermitteln,
niedrig zu halten. Indem wir uns auf die Milizen fokussieren, ist die
Schwelle gleich null, weil es in Karlsruhe bereits ein Strukturverfahren
gegen nichtstaatliche Akteure im syrischen Bürgerkrieg gibt. Es geht darum,
den Kontext der Verbrechen auszuleuchten, Beweise zu sichern, um
möglicherweise weitere Tatverdächtige zu identifizieren.
Auch türkische Tatverdächtige?
Wenn wir über Afrin sprechen, sind die Fingerabdrücke der Türkei überall.
Dieser Aspekt muss also gleich mit ermittelt werden. Die juristischen und
politischen Hürden, gegen die Türkei als solche vorzugehen, sind viel
höher, denn die direkten Täter haben in den seltensten Fällen die türkische
Staatsbürgerschaft. Noch dazu ist es in [4][Deutschland politisch
schwierig], gegen die Türkei vorzugehen. Gerade deshalb wollen wir die
türkische Verwicklung thematisieren. In den Bestrebungen um Aufarbeitung
des Syrienkonflikts gibt es nach wie vor blinde Flecken und einer ist
Afrin, wo ein Nato-Partner Dreck am Stecken hat. Das ist skandalös.
Kein Zufall?
Unsere Befürchtung ist, dass die Milizen in Ruhe gelassen werden, weil sie
auf Geheiß eines engen Verbündeten handeln. Uns geht es also auch um die
Glaubwürdigkeit der internationalen Strafjustiz. Das ist vor dem
Hintergrund des Gazakriegs wichtiger denn je. Nur wenn wir lückenlos
vorgehen, wenn wir auch gegen eigene Verbündete, eigene Soldaten und eigene
Unternehmen vorbehaltlos im Sinne des Rechts ermitteln, werden wir
irgendwann in der Lage sein, auch gegen die Erdoğans und Putins dieser
Welt vorgehen zu können.
29 Jan 2024
## LINKS
[1] /Kurden-in-Syrien/!5965021
[2] /NGO-Bericht-zu-Menschenrechtsverstoessen/!5526120
[3] /Vormarsch-der-Tuerkei-in-Syrien/!5486150
[4] /Tuerkei-und-Deutschland/!5973471
## AUTOREN
Jannis Hagmann
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