# taz.de -- Regisseurin über Film als Kunstform: „Wer Regie führt, hat oft … | |
> Die Hamburger Regisseurin Katrin Gebbe wurde mit ihrem Debütfilm „Tore | |
> tanzt“ gleich nach Cannes eingeladen. Mittlerweile dreht sie für Netflix | |
> und Disney. | |
Bild: Sucht in ihren Filmen auch die Verunsicherung: Regisseurin Katrin Gebbe | |
wochentaz: Katrin Gebbe, welcher war der erste Film, der Ihnen richtig | |
Angst eingejagt hat? | |
Katrin Gebbe: „Friedhof der Kuscheltiere“, die erste | |
[1][Stephen-King]-Verfilmung. Den habe ich heimlich geschaut, als meine | |
Eltern weg waren. So eine Stimmung hatte ich nie zuvor in einem Film | |
gespürt, das hat mich zutiefst verunsichert. Da ist einer mit einem Messer | |
unterm Bett und schlitzt einer Person die Achillessehne auf. Zwei Jahre | |
lang musste ich jeden Abend unter mein Bett schauen – das war eine richtige | |
Angsterfahrung. | |
Hat Sie das später dazu inspiriert, aus Ihren eigenen Filmen ein Maximum an | |
Grusel herauszuholen? | |
Schockeffekte interessieren mich nicht. Aber sehr wohl tiefe Gefühle, die | |
man vorher nicht kannte! Eine Welt kreieren, in der man sich nicht zu Hause | |
fühlt, eine Verunsicherung erfährt – das finde ich spannend. | |
Sie haben mal gesagt, als Filmemacherin sollte man einen Stachel | |
zurücklassen. | |
Ich begreife Film als Kunstform und möchte mehr Fragen aufwerfen als | |
Antworten geben. Als FilmemacherIn hat man die Lizenz, um herumzuschnüffeln | |
und unbequeme Fragen zu stellen. Es gibt so viele Tabus, so viele Dinge, | |
die unerörtert bleiben! Die Kunst ist, dass die Zuschauenden, die sich mit | |
einem Thema eigentlich gar nicht befassen wollen, sich dann doch damit | |
beschäftigen. | |
Ist so ein Anspruch möglich im Haifischbecken Film und Fernsehen? | |
Bei Fernsehprojekten ist das schwierig. Aber bestimmte Genres eignen sich | |
dafür. In Deutschland ist es oft der [2][Krimi]. Vielleicht ist das eine | |
Auswirkung des Krieges: Das Böse will verstanden werden. Warum haben | |
Menschen wie wir diese schlimmen Dinge getan? Bin ich anders, oder könnte | |
mir das auch passieren? Es ist unsere Aufgabe als Kreative, das | |
Unkomfortable auszuhalten und es so zu präsentieren, dass die Zuschauer | |
bereit sind, es auf sich einwirken zu lassen. | |
In Ihrem Langfilmdebüt „Tore tanzt“ aus dem Jahr 2013, für den Sie auch d… | |
Drehbuch schrieben, geht es um einen Teenager, der von seiner Ersatzfamilie | |
schwer misshandelt wird. | |
Es ist schwer, in Deutschland einen Debütfilm zu machen, und „Tore tanzt“ | |
war besonders schwer, weil es so ein harter, düsterer Stoff ist. Von der | |
Berlinale bekamen wir eine Absage und waren am Boden zerstört. Ich dachte | |
schon, ich müsste mir einen neuen Beruf ausdenken … | |
… und dann wurde der Film [3][nach Cannes eingeladen]. „Tore tanzt“ lief | |
auf dem Filmfestival bei „Un Certain Regard“, der Sektion für die sperrigen | |
Novitäten. | |
Ich dachte erst, das wäre ein Missverständnis. Dann kam die Zusage und ich | |
hatte nichts zum Anziehen, ich war damals total pleite. Ich musste mir | |
etwas leihen, stand bei 34 Grad auf dem roten Teppich, und plötzlich stand | |
Nicole Kidman neben mir. Dieser ganze Prunk war mir erst unangenehm, aber | |
im Nachgang war das eine großartige Erfahrung. Ich habe mit „Tore tanzt“ | |
viele Festivals besucht – das hat starke emotionale Reaktionen ausgelöst. | |
Es gab begeisterte ZuschauerInnen, manche kannten ähnliche Persönlichkeiten | |
wie Tore. Einige sind auch aggressiv geworden und haben mich sogar | |
beleidigt. | |
Aber Sie waren auf einmal ein bekannter Name und konnten den [4][Tatort | |
„Fünf Minuten Himmel“] drehen. War das nicht gut? | |
Ich dachte kurz: alle sind so nett und finden mich super, das ist ja | |
überhaupt kein Haifischbecken. Aber bei einem „Tatort“ wirken ganz andere | |
Kräfte und die Leute knüpfen ganz unterschiedliche Bedürfnisse daran. Ich | |
bin erst kurz vorher zu dem Projekt gestoßen und habe etwas gemacht, mit | |
dem ich am Ende nicht glücklich war. Leider werden TV- und Serienprojekte | |
oft mit heißer Nadel gestrickt. Es wäre schön, wenn Projekte mehr | |
Entwicklungszeit bekommen würden. | |
Warum sind Sie Regisseurin geworden? | |
Zuerst hätte ich mich beinahe für Psychologie eingeschrieben. Menschen sind | |
so interessant! Sie sagen nur selten die Wahrheit. Ich wollte auch kreativ | |
arbeiten, habe mich für Bildhauerei und Malerei interessiert und habe dann | |
freie Kunst und Design im niederländischen Enschede studiert. Aber nur dem | |
Film gelingt es, all diese Gewerke zu verbinden. Ich kann in die Tiefe der | |
menschlichen Seele schauen und mir Geschichten ausdenken, und eine Welt | |
entstehen lassen, die es vorher nicht gab. | |
Wann kam Ihre Filmleidenschaft zum Vorschein? | |
Während eines Austauschstudiums in Boston. Da habe ich erstmals mit | |
richtigem Filmmaterial gearbeitet, konnte die Filme selbst entwickeln und | |
darauf herumkratzen. Das roch so besonders! Und die Nerds, die da saßen, | |
die waren wie ich. Die Kunststudierenden habe ich als etwas | |
eigenbrötlerisch erlebt, die FilmemacherInnen nicht. Die waren sozial und | |
gleichzeitig experimentierfreudig, jederzeit bereit, irgendwo ein Abenteuer | |
zu erleben. Aber sie konnten sich auch im Hintergrund halten – wichtig für | |
eine Regisseurin. Da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, etwas gefunden zu | |
haben, wo ich hingehöre. | |
Wie ging’s weiter? | |
Ich habe mich ausprobiert, habe Experimentalfilme und Installationen | |
gemacht. Immer das, worauf ich Lust hatte; ich habe nie abgewogen, ob etwas | |
zum Erfolg führt. Die technische Seite hat mich dabei weniger interessiert. | |
Im Notfall haben wir halt den Kameramann in einem Einkaufswagen durch die | |
Gegend geschoben, wenn noch eine Fahrt nötig war. Das Experimentieren mit | |
der Machart gehört dazu. Aber eigentlich ging es mir schon immer um die | |
Gefühle, die ein Film auslöst. | |
An der Hamburg Media School haben Sie dann Regie studiert. Wie war das? | |
Ich war total überrascht, als die Einladung kam. In der Aufnahmeprüfung | |
sollte ich eine Szene aus einem Krimi auflösen. Ich wusste gar nicht, was | |
das heißt, „auflösen“. Es bedeutet, wie man die Szene mithilfe von | |
Kameraeinstellungen erzählt. Das Ergebnis war nicht sehr zufriedenstellend, | |
aber es gab noch eine Improvisationsübung, die lief besser. Das Studium war | |
mir aber zu verschult, ich hatte auch mal Fluchtgedanken. Aber ich | |
verstand, dass ich viel lernen und wichtige Kontakte knüpfen konnte. Zum | |
Filmemachen braucht man Geld, und man muss mit unterschiedlichen Gewerken | |
zusammenarbeiten, mit Menschen, die ganz anders sind, als man selbst. | |
Zum Beispiel mit den Produzenten und den Finanziers … | |
Das ist schmerzhaft: manche Dinge sind nicht herstellbar, wenn man sie | |
nicht richtig kommuniziert hat. Jedes Wort, das ein Verleiher oder | |
Finanzier spricht, sollte man auf die Goldwaage legen. Denn irgendwann muss | |
man sich damit auseinandersetzen – man macht die Filme ja nicht allein. Je | |
mehr Geld, desto mehr Menschen sind involviert. Man muss seine Vision | |
verteidigen, aber auch merken, wo man vielleicht auf verlorenem Posten | |
steht. Das ist ein großer Teil des Filmemachens. | |
Was gehört noch zu den Aufgaben einer Regisseurin? | |
Man ist ein Motor, aber auch eine Kommunikatorin. Lernt, dass es auch toll | |
ist, wenn Leute Eigenes dazu geben. Und natürlich haben manche | |
SchauspielerInnen Allüren oder Ängste. Da muss man jeden Tag | |
durchmanövrieren und das Schiff wieder in den Hafen steuern, als Kapitän im | |
Nebel. Es gibt auch die Kapitäne, die brüllen, aber das ist nicht so meins. | |
Manche sind damit noch immer erfolgreich; ich hoffe, das stirbt aus. Wer | |
herumschreit, wird eigentlich nicht ernst genommen. Als Frau ist es sowieso | |
ein Ding, sich durchzusetzen. | |
Das haben Sie gelernt? | |
Ich habe jedenfalls nie hospitiert und war nie Regieassistentin. Ich wurde | |
an der Filmhochschule aufgenommen, ohne vorher an einem Set gearbeitet zu | |
haben. Ich habe also Bücher gelesen und Making Ofs geguckt. Ich habe es mit | |
der Zeit selbst herausgefunden. Wenn es schlecht läuft, weiß man schnell, | |
warum. | |
Wichtig ist auch, das Vertrauen der SchauspielerInnen zu erlangen, oder? | |
Ja, man muss einen Schutzraum für die SchauspielerInnen schaffen. Dazu | |
benötigt man das ganze Team und die Erlaubnis, gemeinsam ausprobieren und | |
auch mal scheitern zu dürfen. In meinem Gesicht sieht eine Schauspielerin | |
nach dem Take sofort, wie es war. Deswegen sage ich es immer gleich. Man | |
ist immer unter Zeitdruck und muss drehen, aber manchmal braucht jemand | |
doch noch ein Gespräch. Vertrauen muss wachsen. | |
Die Schauspielerin Sandra Hüller hat neulich gesagt, [5][Schauspielen sei | |
eine Angst-überwinde-Beruf]. Ist analog dazu Regieführen eine | |
Angst-überwinde-Hilfe? | |
Ja. Man muss den SchauspielerInnen helfen, etwas preiszugeben. Aber wer als | |
FilmemacherIn ernsthaft auf der Suche ist, muss sich selbst seinen Ängsten | |
stellen. Auf der Filmschule hieß es: „Da wo die Angst ist, musst du | |
hingehen.“ Ich glaube, dass RegisseurInnen oft Angst haben. Es gibt nur | |
niemand zu. Deswegen wurde früher an Filmsets auch so viel herumgeschrien. | |
Wenn die Panik kam, wurden andere unter Druck gesetzt. | |
Wie finden Sie eigentlich Ihre Themen? | |
Ich hinterfrage die Gesellschaft und beobachte. Versuche, die Menschen zu | |
spiegeln. Aber je bewusster das wird, je mehr man Sachen durchdenkt, desto | |
verdaulicher werden sie. Ich habe mich in meinen Filmen immer einer klaren | |
Deutungsmöglichkeit verweigert. Vielleicht wird es auch mal falsch | |
verstanden, aber das ist der Preis der Offenheit. Je konkreter eine | |
Filmemacherin wird, desto weniger lässt sie den Menschen die Möglichkeit, | |
sich selbst zu finden. | |
Man will das Publikum triggern? | |
Ich finde es toll, wenn Filme mich ein paar Tage begleiten. Ein erster | |
richtig intensiver Film war „Clockwork Orange“. Ich bin auf dem Land groß | |
geworden, meine Eltern waren keine Cineasten. Ich habe angefangen, nachts | |
heimlich Fernsehen zu gucken und Videos aufzunehmen. | |
Wir sprechen über Zoom, weil Sie sich gerade in London befinden. Sie | |
schneiden dort die drei von Ihnen abgedrehten Folgen der Serie „[6][A | |
Thousand Blows]“, die 2024 auf Disney+ erscheinen soll. Was hat Sie daran | |
gereizt? | |
Es geht um einen jamaikanischen Boxer, der ins viktorianische London kommt, | |
gleichzeitig wird eine weibliche Diebesbande dargestellt. Das sind | |
Randfiguren, die sonst oft verurteilt werden. Es macht Spaß, sie aus ihrer | |
Opferrolle zu befreien, Klischees zu umschiffen und Empathie zu kreieren. | |
Wie haben Sie sich für „A Thousand Blows“ auf das Thema Boxen vorbereitet? | |
Ich habe mich gefragt: Wie erzählen es andere mit der Kamera? Es ist | |
wichtig, Filme zu schauen. Also: „Raging Bull“, „Rocky“, „Creed“. N… | |
weil ich es selbst genau so wie andere machen will. Ich muss das Repertoire | |
kennen – heute wird so viel konsumiert. Vor allem aber kann man Fehler | |
umgehen – wo stellt man am Besten die Kamera hin? Schließlich schlagen sich | |
die Schauspieler nicht wirklich. Es ist seltsam: Meine letzte Arbeit war | |
„Die Kaiserin“ für Netflix und anschließend lasse ich Männer aufeinander | |
los, damit sie sich gegenseitig die Visage polieren. Das hat Spaß gemacht – | |
dreckig zu sein, Schweiß und Blut fließen zu lassen. | |
Für [7][die deutsche Serie „Die Kaiserin“], ein Update der bekannten | |
Sisi-Geschichte, haben Sie im November den International Emmy gewonnen. | |
Waren Sie darauf vorbereitet? | |
Wir hatten überhaupt nicht mit dem Preis gerechnet, und uns schon seelisch | |
auf eine Enttäuschung eingestellt. Als wir dann hörten, dass wir gewonnen | |
haben, war das unglaublich. Eine surreale, berauschende Erfahrung! Das ist | |
auch eine schöne Wertschätzung – man weiß ja nicht, wie so eine Serie | |
woanders auf der Welt ankommt. | |
Es gab doch bestimmt Feedback für „Die Kaiserin“? | |
Über Instagram haben mich Leute aus der ganzen Welt angeschrieben, sogar | |
aus Brasilien. Es waren fast nur Frauen. Eine schrieb, sie habe die Serie | |
schon fünf Mal gesehen. Das war schön, denn mit Serien reist man anders als | |
mit Filmen nicht zu Festivals – man hat also eigentlich keinen | |
Publikumskontakt. Man arbeitet zwei Jahre an etwas – und dann ist Schluss. | |
Was sagen denn Ihre Eltern zu Ihren neuen Streaming-Erfolgen? | |
Die waren froh, dass ich mit der „Kaiserin“ auch mal was Ordentliches | |
gemacht haben. Das konnten sie auch ihren Freunden zeigen. | |
25 Jan 2024 | |
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[6] https://rts.org.uk/article/disney-announces-knockout-cast-boxing-drama-thou… | |
[7] /Netflix-schaltet-Werbung/!5885524 | |
## AUTOREN | |
Jan Paersch | |
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