| # taz.de -- Psychiaterin Stuart-Smith über Gärten: „In Kontakt mit Lebendig… | |
| > Gärtnern ist Raum-Zeit-Medizin, ist Unlearning kolonialer Gefüge und eine | |
| > Form von Kunst, meint die britische Psychiaterin Sue Stuart-Smith. | |
| Bild: Ein Garten auf der Gefängnisinsel Rikers Island im East River von New Yo… | |
| taz: Frau Stuart-Smith, wir sind verabredet, um über Gärtnern zu sprechen, | |
| aber es ist Winter. Eine unpassende Jahreszeit? | |
| Sue Stuart-Smith: Es ist eine mystische Zeit. Einerseits ist es die | |
| Jahreszeit, in der wir dem Tod am nächsten kommen, anderseits bereitet sich | |
| schon neues Leben im Unsichtbaren vor. Es ist ein Zeitraum der | |
| Transformation, in den wir uns versenken sollten, weil wir auf diese Art | |
| Gewissheit finden, dass es kaum so etwas wie einen absoluten Tod gibt – | |
| eine Lebensform stirbt und geht in eine andere über. Und doch ist das | |
| Auflösen der Form eine wichtige Erfahrung. Kreativität bedeutet, etwas | |
| Neues zu gestalten. Der Antrieb dazu ist nicht in erster Linie der Wunsch, | |
| Altes zu überwinden, sondern eng mit der Erfahrung von Verlust verbunden. | |
| In Ihrem Buch „Vom Wachsen und Werden“ zitieren Sie viele Studien, die den | |
| Effekt des Gärtnerns auf die psychische Gesundheit untersuchen. Welche | |
| Ergebnisse sind für Sie am wichtigsten? | |
| Der wichtigste Aspekt für mich ist, dass Gärtnern Menschen sowohl jeglichen | |
| Alters als auch in vielen unterschiedlichen Schwierigkeiten oder | |
| Lebenskrisen helfen kann. Ich nenne den Garten zuweilen eine | |
| Raum-Zeit-Medizin. Dazu gehört das Gefühl der Einhegung in einem Garten: | |
| einen Schutzraum um sich zu haben, ohne eingeschlossen zu sein. Es ist eine | |
| Art Schwebezustand: man befindet sich zwischen einem Zuhause und der | |
| Außenwelt. Dazu kommt der Zeitaspekt. Gärten können uns in die Kindheit | |
| versetzen, uns an die Großeltern erinnern lassen. Wenn wir jedoch am | |
| Arbeiten oder Beobachten sind, bringen sie uns ganz in den gegenwärtigen | |
| Moment. Der andere, sehr wesentliche Aspekt ist die positive Antizipation. | |
| Wir freuen uns auf das, was wir in der Zukunft erwarten. Das ist zum | |
| Beispiel sehr wichtig für Menschen, die mit einem Trauma, einem großen | |
| Verlust oder Angststörungen umgehen müssen. Durch positive Erwartungen | |
| entsteht Motivation, ein Sinn für die eigenen Ziele, was wiederum unser | |
| Dopaminsystem beeinflusst. | |
| Was macht einen Garten zum therapeutischen Garten beziehungsweise zu einem, | |
| mit dem man sich verbinden möchte? | |
| Das Gefühl einer Einfriedung, was ich zuvor genannt habe, ist sehr wichtig. | |
| Auch das Gefühl, eine andere Welt zu betreten. Zudem braucht es | |
| unterschiedliche Bereiche: Arbeitsbereiche, aber auch solche, die zum | |
| Entspannen einladen, wo jemand allein mit der Natur sein kann. Es sollte | |
| ein Ort sein, an dem man sowohl aktiv als auch kontemplativ sein kann. | |
| Allein sein in einem Garten hat eine besondere Qualität. Man ist umgeben | |
| von Leben, aber muss sich nicht erklären oder etwas Schlaues sagen, sondern | |
| kann sich konzentrieren auf andere Beziehungsebenen. | |
| In Berlin wurde in diesem Jahr ein Palliativgarten am Charité-Krankenhaus | |
| eröffnet. Er wurde aus Spendengeldern finanziert. Bei den vielen positiven | |
| Effekten, die Sie in Ihrem Buch nennen, scheint es erstaunlich, dass | |
| Krankenhäusern solche Investitionen so schwerfallen. Wie ist das in | |
| Großbritannien? | |
| Bei [1][Hospizen gibt es eine gewisse Gartentradition]. Bei Krankenhäusern | |
| ist das weniger der Fall. Die Wohltätigkeitsorganisation Horatio’s Garden | |
| kreiert jedoch Rollenmodelle und hat viel in dieser Richtung bewegt. Ja, | |
| ich kenne die Argumentation, dass Krankenhausgärten– trotz Erhebungen, dass | |
| sie unter anderem zu relevant früheren Entlassungen führen können – zu | |
| teuer zu unterhalten seien. In dieser Beziehung müsste zirkulärer gedacht | |
| werden. Bei Horatio’s zum Beispiel gibt es nur einen angestellten Gärtner, | |
| alle anderen sind Freiwillige. Dies sind Menschen, die keinen eigenen | |
| Garten haben, aber gerne einmal in der Woche darin arbeiten möchten. Dieses | |
| Prinzip wäre ausbaufähig. Statt öffentliche Grünflächen so billig wie | |
| möglich im Unterhalt zu machen, könnten sie durch Beteiligungsprinzipien | |
| funktionieren. Die Fürsorge könnte der Bürgerschaft übergeben werden! Klar, | |
| es erfordert Reife, Organisation und Logistik, aber ich glaube, diese | |
| Qualitäten wären bei einer Veränderung der Denkweise verfügbar. | |
| Was braucht es, um Respekt für eine Grünanlage zu erzeugen beziehungsweise | |
| das Auge für deren Schönheit zu öffnen? | |
| Ich finde, es gilt hier etwas, was auf andere Bereiche des Lebens auch | |
| zutrifft: Je größer die Diversität und Komplexität einer Grünanlage ist, | |
| desto interessanter wird sie. Wenn immer dieselben, günstigen und | |
| widerständigen Pflanzen angebaut werden, dann ist das nicht nur langweilig, | |
| sondern ästhetisch gesehen ein Prinzip nach dem Motto: Wir bieten den | |
| Bürgerinnen eine Schuhgröße, die allen passen muss … | |
| Schönheit ist ein wesentlicher Aspekt, sie hat, auch in anderen | |
| Erscheinungsformen, einen transformativen Effekt. Die Philosophin und | |
| Autorin Iris Murdoch schrieb das Buch „Die Souveränität des Guten“, in dem | |
| sie der Schönheit einen Effekt von Selbstlosigkeit oder Selbstentgrenzung | |
| („un-selfing“) zuspricht, sodass wir mit dem Gegenüber verschmelzen können | |
| und aus dieser Erfahrung revitalisiert hervorgehen. Schönheit ist | |
| emotionale Nahrung. | |
| Sie nennen den Garten eine Co-Kreation von menschlichen und Natur-Energien, | |
| Sie betonen, dass es darüber hinaus um ein reziprokes Gestaltungssystem | |
| geht: Nicht nur wir gestalten den Garten, sondern er auch uns. Würden Sie | |
| Gärtnern als Kunst bezeichnen? | |
| Es kann definitiv eine Kunstform sein. Es kommt natürlich darauf an, | |
| inwieweit jemand kreativ ausdrücken kann, und auch darauf, ob das | |
| wahrgenommen wird. Das Komplexe daran ist, [2][dass der Kunstbegriff] sehr | |
| auf menschliche Kreativität gerichtet ist. In Hinblick auf den Garten | |
| müssen wir anders darauf schauen: Es geht im Tun und im Wahrnehmen um eine | |
| Beziehungsfähigkeit. Wenn die hergestellt ist, kann Gärtnern auch eine | |
| niederschwellige Kunstform sein, gerade, weil man die Wirkung nicht alleine | |
| hervorbringen muss und kann. Man setzt Dinge in Bewegung, man formt sie, | |
| passt sie an, bekommt eine Antwort, beobachtet usw. Um diesen kreativen | |
| Dialog auf einem hohen Niveau künstlerisch zu gestalten, gibt es noch viele | |
| unausgeschöpfte Möglichkeiten. | |
| In „Vom Wachsen und Werden“ schildern Sie auch ethnologische Forschungen. | |
| Sie zitieren zum Beispiel Ethnologen, die die Nutzgärten des | |
| Trobriand-Stammes auf Neuguinea für Kunst halten. Auch können Sie sich | |
| vorstellen, dass Kunst und Gärtnern eine gemeinsame Wurzel in Ritualen | |
| haben. | |
| Zwar werden inzwischen teilweise Maschinen für das Gärtnern benutzt, aber | |
| im Grunde sind die Mechaniken und Techniken fast dieselben geblieben. Sie | |
| sind Jahrtausende alt. Es gibt keinen Grund, daran etwas zu ändern. Auch | |
| können in unserem Jahrhundert so viele Dinge vollkommen unabhängig von der | |
| Jahreszeit gemacht werden; beim Gärtnern jedoch geht das nicht. Es ist eine | |
| der wenigen Tätigkeiten, die wir nicht sinnvoll automatisieren können. | |
| Rituale sind untrennbar mit dem Gärtnern verbunden, da es uns für die | |
| Zyklen und Dynamiken des Lebens sensibilisiert, und uns, indem es sie | |
| bestätigt, stabilisiert. Und ja, es gibt die Theorie, dass der Garten | |
| selbst das Ergebnis eines Rituals ist. So wurden in verschiedenen Kulturen | |
| die ersten Wildfrüchte eines Baumes den Göttern geopfert. An den | |
| Opferplätzen könnten die Samen der Früchte dann gekeimt haben, die | |
| Grundlage für das Entstehen eines Gartens. | |
| Die europäische Vorstellung vom Garten ist noch kaum durch einen | |
| Dekolonialisierungsprozess gegangen. Was könnten wir lernen, wenn wir uns | |
| darum bemühten? | |
| Vieles! Ich glaube, [3][das Wissen über Natur und Gärten], das in Teilen | |
| der Welt bestand, bevor sie kolonisiert wurde, war ein sehr ausgeprägtes, | |
| das viel mehr in Resonanz mit der Umwelt war. Es wurde von der | |
| agrokulturellen Ideologie der Kolonisten als Wert komplett übersehen. | |
| Was gäbe es an Lösungen? | |
| Ein ausdifferenzierteres Verständnis des Gartens würde uns viele | |
| Lösungswege in Bezug auf die derzeitige ökologische Situation aufzeigen. | |
| Pädagogische Konzepte zu entwickeln, anhand derer bereits kleine Kinder an | |
| ein eigenes Verhältnis mit der Natur herangeführt werden, könnte vieles | |
| verändern. Ich mache mir Sorgen, über den Grad von Niedergeschlagenheit, | |
| mit der sie im Verhältnis zum Zustand unseres Planeten aufwachsen. Es muss | |
| sich für sie oft so anfühlen, als sei schon alles zu spät, als könne man | |
| ohnehin nichts mehr tun. Wer in direkten Kontakt mit lebendigen Prinzipien | |
| kommt, spürt dagegen auch Möglichkeiten und die Weisheit der Regeneration, | |
| die in der Natur – und damit letztlich in uns allen – steckt. | |
| 18 Jan 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Astrid Kaminski | |
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