# taz.de -- Kinderheiraten in Nepal: Zu jung für Buddha | |
> Ehen von unter 18-jährigen sind ein globales Problem. Ein Besuch bei | |
> jungen Frauen in Nepal – und einer Aktivistin, die mit der Tradition | |
> kämpft. | |
Bild: Migma Diki Sherpa, 21, heiratete als Teenager. Sie lebt mit ihrem Sohn Mi… | |
Migma ist wieder bei der Schamanin gewesen. Sie hat der Frau Geld gegeben | |
und ein Foto von Buddha, ihrem Mann. „Ich schaue, was ich tun kann“, sagte | |
die Schamanin. Migma hofft so sehr, dass ihre Mantras und Rituale endlich | |
wirken. Dass Buddha zurückkehrt. „Ich liebe ihn immer noch“, sagt Migma. | |
„Ich würde ihm verzeihen.“ | |
In einem Monat hat Migma Diki Sherpa ihren 21. Geburtstag. Ihr Sohn Milan | |
wird fünf. Sie leben in Kathmandu, in einem Hinterhaus an einer | |
Ausfallstraße Richtung Osten. Schwere Lastwagen lassen den Boden erzittern, | |
Mopeds sirren, Fußgänger halten die Hand vor die Nase, um sich vor dem | |
Staub zu schützen. Nach Sonnenuntergang leuchten nur die Scheinwerfer der | |
Fahrzeuge. Es ist so finster, dass man ohne Handylampe den Weg zu dem | |
schmalen Durchgang zwischen den Häusern bis zu Migmas Zimmer nicht fände. | |
Der Raum wird fast vom Bett ausgefüllt. Die Matratze ist aus dünnem | |
Schaumstoff, wie ihn Klempner zum Isolieren von Rohren verwenden. In den | |
Ecken wachsen Stockflecken. Milan liegt auf der Matratze und schaut auf | |
Migmas Smartphone Youtube-Videos. Im Nachbarzimmer, wo eine Familie wohnt, | |
hustet jemand. | |
Es gibt ein Foto eines jungen Mannes an der Wand. Ein glattes Gesicht, | |
Undercut-Frisur, betont cooler Blick. Milan deutet darauf, sagt: „Babba!“ | |
Er kennt seinen Vater nur von diesem einen Foto. | |
Es gibt auch das Selfie eines Mädchens mit glattem Gesicht und Schulbüchern | |
unterm Arm. Ihr Gesicht scheint zu sagen: „Hallo Welt, was bringst du mir?“ | |
Das Foto ist nur sechs Jahre alt, aber man erkennt Migma kaum darauf. Heute | |
ist es, als ob ein Schatten auf ihrem Gesicht liegt. Sie lacht nie während | |
des Gesprächs, berichtet nüchtern und tonlos von ihrer frühen Ehe: Als sie | |
15 war, bekam sie einen Anruf. Zuerst sagte der Anrufer: „Oh, falsche | |
Nummer!“ Aber dann begann er ein Gespräch. | |
Der Anrufer gestand, dass er sie auf dem Markt gesehen und ihre Nummer | |
herausgefunden habe. Er heiße Buddha, sei 18, komme aus dem Nachbarort. Er | |
fragte, was sie gegessen habe, wie es in der Schule war, er nannte sie | |
„Kanchi“, das heißt „Jüngere“. Jeden Tag rief er an. Er erzählte, da… | |
tagsüber auf dem Feld war. Seine Familie habe einen Ziziphus-Baum, auf den | |
er klettere, um die runden Samen zu ernten, die auf eine Schnur gefädelt | |
als Gebetsketten verkauft werden. So käme etwas Bargeld ins Haus. Sie | |
sprachen heimlich. Nichts fürchten Eltern in der traditionellen Kultur | |
Nepals mehr, als dass die Teenage-Tochter einen Schwarm hat. Sie fürchten | |
den vorehelichen Sex der Töchter, schon Gerüchte darüber reichen, damit die | |
Gesellschaft die Ehre einer Familie als beschmutzt ansieht, was für die | |
Betroffenen vielleicht deshalb so angsterregend ist, weil sie kaum etwas | |
anderes besitzen als diese angebliche Ehre. Migma war verliebt. Dabei hatte | |
sie Buddha noch nicht gesehen, nicht einmal ein Bild von ihm. Auf ihrem | |
alten Telefon konnte sie keine Fotos empfangen. | |
Dann, auf dem Jahrmarkt, zwischen Essständen und Schaukeln, sprach ein | |
Junge Migma an: „Ich bin Buddha.“ Er sah gut aus. Anständig. „Nicht wie | |
einer, der Drogen nimmt oder Alkohol trinkt“, sagt Migma. Sie war | |
schüchtern. Nervös. Es kribbelte. Buddha sagte: „Komm mit zu meinen | |
Eltern.“ Das Mädchen zierte sich, aber dann setzte sie sich auf sein Moped. | |
Obwohl sie wusste, was das hieß. „Wenn die Eltern ihnen erlauben, das Haus | |
zu betreten, bedeutet das, dass sie vor den Augen des Dorfes verheiratet | |
sind“, sagt Choying Sangmo, die Übersetzerin. Sie übersetzt nicht nur die | |
Sprache, sondern auch die Kultur. Choying Sangmo trägt einen bordeauxroten | |
Rock, eine Jacke in der gleichen Farbe, die Haare sind raspelkurz. Die Frau | |
Anfang 30 ist buddhistische Nonne – eine der wenigen allgemein akzeptierten | |
Lebensentwürfe für eine Frau abseits einer Ehe. | |
Mit dem Schritt über die Schwelle bei Buddhas Eltern wurde Migma eine von | |
jährlich zwölf Millionen Mädchen, die laut Unicef vor ihrem 18. Geburtstag | |
formelle oder informelle Ehen eingehen. Um die schiere Zahl zu begreifen, | |
muss man sie umrechnen: Pro Minute sind das 23 Mädchen. Laut den | |
„Sustainable Development Goals“ der UNO sollen diese Kinder- oder | |
Frühheiraten bis zum Jahr 2030 eliminiert sein. Ein kaum zu erreichendes | |
Ziel, wenn man bedenkt, dass laut Unicef weltweit jede fünfte Frau bei | |
ihrer Heirat noch keine 18 ist und die Gesetze ignoriert werden. Eigentlich | |
sind Kinderheiraten in Nepal schon seit 60 Jahren verboten. Im Jahr 2017 | |
wurde das Gesetz sogar verschärft. Seither dürfen junge Leute offiziell | |
erst ab dem 20. Geburtstag heiraten. Aber die Paragrafen sind das Papier | |
nicht wert, auf dem sie geschrieben stehen, wenn die Traditionen stärker | |
sind und Polizei und Behörden, selbst von althergebrachten Vorstellungen | |
durchdrungen, sie nicht durchsetzen. | |
Viele Teenager verbinden sich wie Migma auf informelle Weise oder mit | |
religiösen Zeremonien, die in den Augen der lokalen Gemeinschaften die | |
gleiche Bedeutung haben wie eine Heiratsurkunde. Laut der Unicef-Statistik | |
heiraten in Nepal so ein Drittel der Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag. Acht | |
Prozent der Mädchen sind beim Eingehen einer Lebenspartnerschaft sogar | |
jünger als 15 Jahre. Manche Paare lassen die Ehe noch auf dem Standesamt | |
legalisieren, wenn beide Partner 20 sind. Manche geben auch ein falsches | |
Alter an, um eine Heirat eintragen zu lassen. Weil die Sitte derart | |
verbreitet ist, schauen die Vertreter der Behörden geflissentlich weg. | |
Im westlichen Klischee stellt man sich unter Kinderheiraten ältere Männer | |
vor, die mit Teenagern Ehen eingehen. In der Wirklichkeit ist auch der | |
Bräutigam oft sehr jung. Und die Paare heiraten aus Liebe – oder der | |
Sehnsucht danach. „Mein Vater hat mich immer wieder geschlagen“, sagt | |
Migma. Nach der achten Klasse hätte er sie gezwungen, die Schule | |
abzubrechen. „Viele Mädchen erleiden häusliche Gewalt“, sagt Choying | |
Sangmo, die Übersetzerin. „Sie sind gerne bereit, ihr altes Leben | |
aufzugeben.“ Ein Junge, der um sie wirbt, erscheint vielen Mädchen als | |
Ausweg. | |
Im Haus der Schwiegereltern wurde Migma sofort schwanger, mit 16 war sie | |
Mutter und erlebte neues Leid. Sie habe nur wenig zu essen bekommen. Die | |
Schwiegermutter habe den Essenschrank abgesperrt. Wenn sie Essen bekam, war | |
es versalzen. Sie sei mit einem Guss kalten Wassers geweckt worden. Die | |
Schwiegereltern hätten sie geschlagen. „Sie waren böse, weil ich Buddha | |
vorgeschlagen hatte, in ein eigenes Haus zu ziehen und von den Eltern ein | |
Reisfeld zu fordern.“ Buddha sei passiv geblieben, habe sich nicht für sie | |
eingesetzt. „Ich denke, er ist ein schwacher Mensch.“ | |
Eines Tages, das Baby war ungefähr sechs Monate alt, war Buddha | |
verschwunden, ohne jede Erklärung. Die Schwiegereltern sagten ihr nicht, wo | |
er war. Sie hörte im Dorf, er wollte als Arbeiter nach Dubai: „Wenn ich ein | |
Flugzeug am Himmel sah, fragte ich mich, ob Buddha drinsitzt und an mich | |
denkt.“ | |
Doch sie hörte nichts mehr von ihm. Auch über Social Media finde sie ihn | |
bis heute nicht. Im Haus der Schwiegereltern wurde es nach Buddhas | |
Verschwinden noch schlimmer. „Zeitweise musste ich wochenlang draußen in | |
der Küchenhütte schlafen, mit Milan, bis die Dorfbewohner die | |
Schwiegereltern überzeugten, mich wieder ins Haus zu lassen.“ | |
Vor 13 Monaten hielt sie es nicht mehr aus, sie brachte Milan zu ihrer | |
Mutter und floh nach Kathmandu. Seither arbeitet sie sieben Tage die Woche | |
als Hausbedienstete bei einer Familie, die eine Hühnerfarm hat. Als der | |
Kindergarten der „Nuns Welfare Foundation of Nepal“ ihr einen Platz | |
zusagte, holte sie Milan nach. Dieses Hilfswerk wird von buddhistischen | |
Nonnen geführt und will besonders benachteiligten Kindern und Frauen | |
helfen. Ein Bus bringt Milan nach Kindergartenschluss zu Migmas | |
Arbeitsstelle, dort verbringt der Junge mit ihr die letzten Arbeitsstunden, | |
bevor sie in ihr Zimmer zurückkehren. | |
Die Details in Migmas Biografie lassen sich nicht überprüfen. Sie stammt | |
aus Surke im Distrikt Bojpur, zwei Tage Busfahrt von Kathmandu entfernt. | |
Die letzten Stunden muss man zu Fuß die Hänge hinauf, es gibt keine Straße | |
in das Dorf. Übersetzerin Ani Choying Sangmo hält Migmas Bericht für | |
plausibel. | |
Milans Rucksack für den Kindergarten hängt an einem Nagel. Er ist mit | |
Disney-Figuren bedruckt. Schneewittchen und Cinderella. Auf ihrem Telefon | |
hat Migma ein Foto von Milan in einem gelben Kleid. „Er zieht sich gerne | |
als Mädchen an“, sagt Migma. Manchmal wünscht er sich lange Haare. Dann | |
bindet sie ihm künstliche Zöpfchen an seinen kurzen Schopf. | |
Einen Monatslohn hat Migma in ihr gebrauchtes Smartphone investiert. „Ich | |
möchte erreichbar sein, wenn Buddha sich meldet“, sagt sie. „Ein halbes | |
Jahr warte ich noch.“ Sie sehne sich nach jemandem, der sie versteht und | |
achtet und mit ihr leben will. „Wenn ich in drei Jahren immer noch allein | |
bin, gehe ich ins Ausland.“ Nach Dubai, nach Zypern, wo ein Onkel sei, egal | |
wo, egal welche Arbeit es dort gäbe. Aber sie könnte nur reisen, wenn ihre | |
Mutter sich um Milan kümmert. Vielleicht könnte die Mutter heimlich nach | |
Kathmandu fliehen, um dem gewalttätigen Ehemann zu entkommen? | |
Das seien die Gedanken, die ihr in den Nächten durch den Kopf kreisen. | |
„Heute Nacht habe ich nur drei Stunden geschlafen“, sagt sie. „Früher war | |
meine Haut makellos. Vielleicht habe ich so viele Pickel, weil ich so wenig | |
schlafe?“ Um sich abzulenken, schaut sie Videos. Tanzshows mit Kindern in | |
festlichen Kostümen und Reality-Dokumentationen von einheimischen | |
Youtubern. „Sie gehen in die Familien und interviewen die Menschen“, | |
erklärt Migma. Oft geht es darum, wie Mädchen und Frauen unter den | |
Traditionen leiden. „Die Videos tun mir gut, sie geben mir das Gefühl, dass | |
ich nicht die Einzige bin.“ | |
Salita Kumari Sada kämpft gegen die Traditionen. Sie lebt sieben | |
Autostunden von Migma und Milan entfernt in der südöstlichen Provinz | |
Madhesh, im Tiefland, wo Nepal an Indien grenzt. Männer reiten auf | |
Wasserbüffeln, Frauen in leuchtenden Saris gehen barfuß über Staubpisten, | |
oft tragen sie ein Kind auf der Hüfte. Salita trägt Sweat-Shirt, Jeans, | |
Lederschuhe. „Auch wenn du dich wie ein Mann anziehst, unter den Hosen | |
wirst du immer eine Frau sein“, sagen sie ihr im Dorf. Sie weiß, dass sie | |
sich das Maul zerreißen, über Sex mutmaßen, wenn Kollegen von der „Janaki | |
Women Awareness Society“ (JWAS) sie im Auto abholen. „Eine Frau mit 27, die | |
nicht verheiratet ist, das ist nicht zu begreifen“, sagt Salita. JWAS setzt | |
sich für die Stärkung der Mädchen ein und gegen schädliche Traditionen. | |
Manche Mädchen brechen nach der Grundschule ab, weil die weiterführende | |
Schule einen Fußmarsch von einer oder zwei Stunden entfernt liegt. Diesen | |
Mädchen stellt JWAS Fahrräder zur Verfügung. Salita coacht in ihrer | |
Heimatgemeinde Khadak jüngere Kolleginnen, wie sie Mädchen aus armen | |
Familien unterrichten können, die die Schule abgebrochen haben: „Wir | |
versuchen den Musahar-Mädchen Life Skills zu vermitteln, wie sie trotz | |
ihrer schlechten Ausgangslage ihr Leben meistern können.“ | |
Salita ist selbst Musahar, wörtlich übersetzt bedeutet das Wort | |
„Ratten-Esser“. Früher lebten viele Musahar davon, die Nager zu fangen. Die | |
Gemeinschaft ist ganz unten in der Hierarchie der Kasten. Heute gibt es | |
offiziell kein Kastenwesen mehr. „Aber viele Menschen denken, wir seien | |
weniger wert. Wir werden ausgegrenzt“, sagt Salita. Die meisten Musahar | |
sind arm und ohne Bildung. Viele Eltern sehen die Schule für Mädchen als | |
unwichtig an: „Sie heiraten sowieso, wichtig ist nur, dass sie unberührt | |
heiraten.“ | |
Wäre es nach dem Willen der Eltern gegangen, trüge auch Salita Saris und | |
schon lange Kinder auf dem Arm. Das erste Heiratsangebot kam nach ihrem 16. | |
Geburtstag. Ihr Vater wollte darauf eingehen. Doch dann forderte die | |
Familie des Bräutigams eine große Mitgift. „Ihr Status war besser als | |
unserer. Sie hatten ein Haus aus Stein in der Nähe des Marktplatzes. Wir | |
haben nur ein Lehmhaus an der Fernstraße“, sagt Salita. „Deshalb verlangten | |
sie 700.000 Rupien“ – damals 6.300 Euro –, „ein Moped und 100 Gramm | |
Goldschmuck.“ | |
Der Vater war verzweifelt. Er kam betrunken nach Hause. Wie sollte er seine | |
anderen Töchter verheiraten, wenn schon die Heirat von Salita sein Vermögen | |
auffraß? Schließlich entschied er sich, für ihre Heirat sein Feld zu | |
verkaufen. Ihre kleine Schwester berichtete Salita davon. „Erst dadurch | |
erfuhr ich von den Heiratsplänen für mich.“ | |
Sie habe nicht daran gedacht, sich der Heirat zu widersetzen. „Aber ich | |
dachte: Es ist ungerecht, dass mein Vater sein Land für mich verkaufen | |
muss.“ Sie fand die Telefonnummer der Familie des Bräutigams heraus. Seine | |
Mutter ging ran, als Salita anrief. Sie sagte: „Wenn mein Vater euch so | |
viel geben soll, dann komme ich nicht zu euch. Dann muss euer Sohn zu mir | |
kommen, damit er sich um meine Eltern kümmern kann.“ Ein unerhörter | |
Vorschlag: „Gibt es die Möglichkeit, dass der Bräutigam ins Haus der Braut | |
zieht?“, fragte die Mutter des Jungen und gab die Antwort selbst: „Nein, | |
die gibt es nicht.“ | |
Der Vater war wütend, als er von dem Anruf erfuhr. „Wenn ihr nur einen | |
Bruchteil der Mitgift für meine Bildung ausgebt, werde ich viel | |
erreichen!“, sagte Salita. „Ich werde nichts Dummes tun, euch keine Schande | |
machen!“ Langsam wurde der Vater weich. Er war zwölf Jahre in Saudi-Arabien | |
gewesen. Nur deshalb konnte er das Reisfeld kaufen. „Im Ausland sah er, wie | |
wichtig Bildung ist“, sagt Salita. „Ich durfte immer zur Schule gehen. | |
Vielleicht hatte ich auch deshalb die Stärke, mich zu widersetzen.“ | |
Aus der Heirat wurde nichts, weitere Anträge folgten, aber jedes Mal lehnte | |
Salita ab. Nach der 12. Klasse begann sie für JWAS zu arbeiten. Jetzt macht | |
sie nebenher einen Bachelor in Pädagogik und engagiert sich in der Partei | |
CPN. „Wir wollen den Sozialismus für Nepal“, sagt Salita. „Wir setzen uns | |
für Arme, Tagelöhner und marginalisierte Gemeinschaften ein. Ich hoffe, | |
dass ich irgendwann Parlamentsabgeordnete werde.“ Unter den Abgeordneten in | |
Kathmandu gab es noch nie einen oder eine Musahar. | |
Früher habe sie manchmal tagelang nichts essen können, weil ihr die | |
sexuellen Gerüchte über sie zu Ohren kamen. „Aber das ist vorbei“, sagt | |
sie. „Die Leute reden eh.“ Und die Vorurteile, die ihr als unverheiratete | |
und selbstbestimmte Frau entgegengebracht würden, würden teils schwächer. | |
„Es gibt Eltern und Mädchen, die mich als Vorbild sehen.“ Sie habe viele | |
Mädchen dazu bewegen können mit der Schule weiterzumachen. | |
„Die Schule schützt vor frühen Ehen. Solange Mädchen in die Schule gehen, | |
können die Eltern dem gesellschaftlichen Druck standhalten und | |
Heiratsangebote ablehnen“, erklärt JWAS-Programmdirektor Nub Raj Bhandari, | |
der über die soziale Stellung der Frauen in Nepal wissenschaftliche | |
Aufsätze publiziert. Eltern würden die frühe Verheiratung einer Tochter als | |
Möglichkeit sehen, ihr soziales Prestige zu steigern. „Religiöse Texte | |
werden falsch interpretiert oder einzelne Stellen überbewertet“, sagt er. | |
So vermittle das „Gesetzbuch des Manu“ – eine wichtige Schrift im | |
Hinduismus – den Eindruck, dass Frauen nicht unabhängig sein könnten. | |
„Dies wird unterstrichen durch Aussagen wie: Ein Vater beschützt sie in der | |
Kindheit, ein Ehemann beschützt sie in jungen Jahren und ihr Sohn beschützt | |
sie im Alter.“ Dieser Blick sei so verfestigt, „dass selbst Eltern ihre | |
Tochter nach der Heirat vor allem in ihrer Rolle als Frau des | |
Schwiegersohns wahrnehmen.“ | |
Eine verheiratete Frau müsse immer eine Doppelrolle ausfüllen: Als Ehefrau | |
und als Schwiegertochter würden ihr Pflichten auferlegt. „Die | |
Verinnerlichung geschlechtsspezifischer Einstellungen ist bei verheirateten | |
Frauen, die dann dieselben Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber | |
anderen, jüngeren Frauen an den Tag legen, keine Seltenheit“, schreibt der | |
Wissenschaftler. „Auf diese Weise schließt sich der Kreislauf.“ Auch die | |
Frauen wirkten am Fortbestand der patriarchalen Gesellschaft mit. | |
Nur Bildung und Aufklärung können diesen Kreislauf durchbrechen. „Die | |
Kommunalverwaltungen könnten von Tür zu Tür gehen und Kampagnen in den | |
sozialen Medien durchführen“, fordert die Kathmandu Post in einem | |
Leitartikel. Auch Stipendien und wirtschaftliche Anreize für Mädchen | |
könnten sie von Frühheiraten abhalten. So gab die Gemeindeverwaltung im | |
Bezirk Banke in Lumbini bekannt, dass junge Frauen, die erst nach ihrem 20. | |
Geburtstag heiraten, einen Gasherd mit Gasflasche geschenkt bekommen. | |
Für Anjali aus Salitas Nachbarfamilie kamen diese Ideen zu spät. Vor einem | |
Jahr verliebte sie sich. Im Geheimen schrieb die 15-Jährige auf ihrem Handy | |
mit Binod, einem Jungen aus dem Dorf. Als das herauskam, war die Aufregung | |
groß. Zwar sagte Anjali ihren Eltern: „Es ist nichts passiert.“ Aber die | |
waren sich einig: Die Tochter müsse heiraten. | |
Salita ging zu der Nachbarsfamilie. Sie sprach mit Anjali und ihrer Mutter | |
Sushila über die Konsequenzen von frühen Ehen: „Die Mädchen bekommen bald | |
Kinder, die Armut wird weitervererbt.“ Doch die Mutter sagte: „Das geht | |
dich nichts an!“ Danach sprachen sie drei Monate lang nicht mehr | |
miteinander und Anjali heiratete Binod. Er ist nach Kathmandu gegangen, um | |
dort als Bauhelfer Geld zu verdienen für seine kleine Familie. Vor Binods | |
Abreise wurde Anjali schwanger. Sie ist im dritten Monat. | |
Salita und Anjalis Mutter Sushila haben sich ausgesöhnt, sie besuchen sich | |
wieder. Sushila ist Mitte dreißig, bald ist sie Großmutter. „Anjali wollte | |
nicht mehr zur Schule“, erklärt Sushila. „Sie brach sie nach der 6. Klasse | |
ab.“ Anjali hätte gesagt, sie wolle Binod haben. „Sie wären möglicherwei… | |
durchgebrannt! Das war unsere große Sorge“, erklärt Sushila. | |
Es ist eine verbreitete Sitte: Teenager, denen eine Beziehung verwehrt | |
wird, nehmen den Bus und verschwinden in die nächste Stadt, schaffen so | |
Tatsachen. Dadurch wäre die Familie geächtet, müsste eine Buße an die | |
Gemeinschaft zahlen. Das Geld würde dann für ein Festmahl ausgegeben. | |
Anjali wäre verstoßen worden und hätte noch nicht einmal mehr zu Besuch | |
kommen dürfen. „Wir hatten keine andere Wahl als die Heirat“, sagt Sushila. | |
„Aber ich ahne: Ihr Leben wird so hart wie mein eigenes. Ich bin voller | |
Kummer.“ | |
Anjali hat eine kleine Schwester. Aarti ist zehn, sie geht jeden Tag zur | |
Schule, nicht wie Anjali, die oft schwänzte. Sie ist eine der Besten in der | |
Klasse. | |
Was sie werden will? | |
„Polizistin. Ingenieurin. Oder Ärztin“, sagt Aarti. „Ich werde auf keinen | |
Fall früh heiraten.“ | |
13 Jan 2024 | |
## AUTOREN | |
Bernd Hauser | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Nepal | |
Kinderrechte | |
Kinderehe | |
GNS | |
Menschenrechte | |
häusliche Gewalt | |
Migration | |
Gletscher | |
Annalena Baerbock | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Zwangsverheiratung: „Gegenwehr braucht viel Kraft“ | |
In den Sommerferien steigt für junge Frauen aus streng patriarchalischen | |
Verhältnissen die Gefahr der Zwangshochzeit. Dazu eine Expertin im | |
Gespräch. | |
Klimakrise im Himalaja: Rasante Gletscherschmelze | |
Im Himalaja verlieren die Gletscher schneller Eis als jemals zuvor. Bis | |
Ende des Jahrhunderts könnten 80 Prozent des Volumens weg sein, warnen | |
Forscher. | |
Baerbock präsentiert neue Leitlinien: Feminismuscheck im Auswärtigen Amt | |
Zwei Drittel des Gesamtetats sollen „gendersensibel“ ausgegeben werden, | |
Mitarbeitende einen „feministischen Reflex“ ausbilden. Frauen sollen zudem | |
mehr in Friedensverhandlungen involviert sein. |