Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Kunst von James Ensor aus Ostende: Seine Tochter ist das Licht
> James Ensor kommentierte mit seiner bitterbösen Malerei die Gesellschaft
> Belgiens um 1900. Zu seinem 75. Todesjahr wird er im Land groß gefeiert.
Bild: Eine Art Selbstporträt: James Ensor, „Der Skelettmaler“ (Het schilde…
Dieser Rochen hat schon was. Gleitet nicht durch tiefe Wasser, sondern
sitzt da und guckt einen mit hängenden Mundwinkeln an; traurig und
ermattet. Die Schwanzflosse, die zwischen seinen Beinen hervorbaumelt,
wirkt wie ein erschlaffter Penis. Links daneben eine große Muschel,
geöffnet, saftig und rosig-rot. „Vulva-Muschel“, raunt ein Betrachter. „…
das hat schon eine sexuelle Konnotation“, sagt Museumsführerin Christa. Und
noch mehr: „Diese Muscheln dienten Seeleuten damals bei langer einsamer
Zeit auf See, na, Sie wissen schon …“
All das habe James Ensor (1860–1949), der Maler dieses kühnen Stilllebens
aus Rochen, Muschel und dem Fischgetier dazwischen, sehr wohl gewusst.
Wir sind im Ensor-Haus in Ostende, heute sein Museum. In einem kleinen Teil
des Hauses hatte Ensors Mutter ein Krimskrams-Geschäft, frühe Souvenirs,
besondere Muscheln, seltene asiatische Pretiosen. Das hat den kleinen James
immens inspiriert.
Ensor ist einer der ganz großen Maler Belgiens. Längst wird sein Name in
einer Linie genannt mit [1][René Magritte], Paul Delvaux, dazu die großen
Klassiker van Eyck, Vater und Sohn Breughel, Rubens. Ensor war einmalig
böse, anarchisch und satirisch, Ende des 19. Jahrhunderts, als noch kaum
jemand so offensichtlich tabulos den Pinsel einsetzte. In der
Kunstgeschichte bekommt er die Etiketten [2][Symbolist,] früher
Expressionist und Wegbereiter der Moderne. Die Museumsführerin nennt ihn
schlicht „Generalist“. Denn: „Der konnte alles, wenn er wollte.“ Zu Ens…
75. Todesjahr stehen 2024 in Belgien diverse Ausstellungen an.
## Ostende: Vom Fischerdorf zum Seebad mit Kolonialgold
Bis in die 1870er Jahre war Ostende Garnisonsstadt, Fischerdorf. Dann ließ
König Leopold II. den Ort mit seinem unermesslichen Reichtum aus der
brutal ausgebeuteten Kolonie Kongo zum mondänen Seebad ausbauen:
Prachtbauten, ein gigantischer Sommerpalast, die Pferderennbahn Hippodrom
Wellington, riesiger Kursaal, allfälliger Luxus. Adel und Großbürgertum
trafen sich in diesem „Nizza des Nordens“. Im Casino sang Caruso, Paul
Delvaux hinterließ im Innern ein riesiges Fresko.
Im Sommer 1936 trafen sich in Ostende viele Prominente auf der Flucht vor
der Nazi-Barbarei: Die österreichischen Schriftsteller [3][Stefan Zweig]
und Joseph Roth zum Beispiel. Im Schankraum des Restaurants Hotel Au Parc
stehen heute Bilder der beiden beim Trinkgelage. Im Nobelort de Haan sitzt
auf einer Parkbank eine lebensgroße Figur von Albert Einstein, der auch ein
halbes Jahr an der belgischen Küste lebte, vor seiner Überfahrt nach
Amerika. Ensor und Einstein haben sich getroffen, wie Fotos belegen.
1889 sind auf Ensors Wimmelbild vom Ostender Strandleben zu sehen: vögelnde
Hunde, zwei Menschen im innigen Zungenkuss zugetan, Bordellbetrieb
inklusive Spanner mit Fernrohr. Lauter Ungeheuerlichkeiten für die Zeit.
Eine Replika hängt im Eingangsraum des Ensor-Hauses, interaktiv, mit
animierbaren Motiven. Überaus beliebt bei Besuchern.
Typisch für Ensors Bilder sind Masken, böse Fratzen, Totenköpfe,
schelmische Visagen. Er malte sich auch mal selbst als Skelett. Das bunte
„Selbstporträt mit Blumenhut“ ist eine parodistische Anspielung auf das
ikonische Rubens-Bildnis.
## „Der Einzug Christi in Brüssel“
Ensors berühmtestes Werk heißt „Der Einzug Christi in Brüssel“: Eine
gemalte Groteske, bunt und schrill wie ein Karnevalsumzug, mit Hunderten
Fratzenfiguren und Jesus als Sessionsprinz. Oder ist das Ensor selbst als
Karikatur des Erlösers? Im Hintergrund kotzen zwei Figuren die Veranda
herunter. Ja, Ensor war manchmal wenig feinschlächtig. Das Œuvre ist 4
Meter breit und gut 2,50 Meter hoch, höher als Ensors Atelier damals war.
Also hat er es in Etappen gemalt: malen, trocknen lassen, ein Stück
aufrollen, weitermalen, weiterrollen etc.
Seit 1987 hängt das Original im Paul Getty Museum in Los Angeles. Zehn
Millionen Dollar war es den Amerikanern damals wert. Gern hätte es Belgien
zum Ensor-Jahr ausgeliehen. Aber ohne massive Beschädigungen ist das alte
Werk nicht mehr von den Getty-Wänden abnehmbar, heißt es, und schon gar
nicht transportabel.
Ensor gilt als Rebell, Provokateur, Sozialist und Anarchisten-Bewunderer,
Avantgarde sowieso, zugleich war er ein spitzzüngiger Tischredner. Er malte
schimpfende Hexen, blutrünstige Chirurgen, keifende Juristen, alles gern
umrahmt von Schreckensfratzen. „Und mit Priestern hatte er es auch nicht
so“, sagt die Führerin, er sei höchstens „ein Salon-Katholik“ gewesen.
Auf seinen Bildern residieren Engel in der lodernden Hölle. Oder Pfaffe,
Offizier und König scheißen von einer Mauer einträchtig auf das Volk;
Titel: „Doktrinäre Ernährung“. Statt Jesus ist auch mal ein Hund ans Kreuz
genagelt. Ensor hatte drei Möpse.
Sein Vater, ein stadtbekannter Trunkenbold, war Engländer, daher der
Vorname und wohl auch sein schwarzer Humor. Misanthrop und Menschenfreund
sei James Ensor zugleich gewesen, sagt Xavier Tricot, Belgiens
renommiertester Ensor-Forscher und Ausstellungskurator. „Und er mochte die
Figur Jesus als geschundenen Revolutionär.“
## Gerüchte um den lebenslangen Junggesellen
Über Ensors Privatleben weiß man wenig. Angeblich hatte er eine heimliche
Freundin in Ostende. Lebenslang unerfüllt bleib sein Liebeswerben um die
Tochter des Rektors der Uni Brüssel, wo er in frühen Jahren eine Weile
lernte. Wer lebenslang Junggeselle ist, lockt schnell Gerüchte an. Ob er
wohl was mit seinem jahrzehntelangen Haushälter Auguste hatte?
„Ich habe keine Kinder“, hat Ensor mal gesagt, „meine Tochter ist das
Licht.“ Das breite Leuchten am Meer war seine Antriebsfeder, sein heller
Musenkuss. Egal welches Motiv, der perfekte Winkel zum Licht, der
punktgenaue Sonnenstrahl, das ist Ensor-Bildern immer eigen.
Zum Ensor-Jahr 2024 gibt es reichlich Devotionalien: bunte
Ensor-Papierservietten, Masken-Pralinen (mit Meersalz), mehrsprachige
Ensor-Comics (im Comic-Land Belgien ein Muss), ihm gewidmete Musik
belgischer KünstlerInnen („My friend James“), darunter auch ein Lied des
kürzlich verstorbenen Rock-Chansonniers Arno („Ensor, mein Mentor“). Das
Ganze auf Schallplatte, passender Tonträger zu Ensors Epoche. Statt eines
Grammofons reicht allerdings ein handelsüblicher Plattenspieler. Indes muss
die LP, kleiner analoger Gimmick, mit schnellen 45 Umdrehungen pro Minute
abgespielt werden.
Die meisten seiner Bilder hat James Ensor bis 1900 gemalt. Größere
Ausstellungen gab es erst ab den 1920er Jahren, als die Kunstkritik diesen
lange unbekannten, seltsamen Typen vom Ende der belgischen Welt entdeckte
und vorsichtig zu würdigen begann. „Das Bürgertum sah ihn lange als
Nestbeschmutzer und Ungläubigen“, erklärt Xavier Tricot. 1945 habe René
Magritte seinen Kollegen bei einer Ausstellung in Brüssel mal vergiftet
gelobt: „Jetzt liebt die Bourgeoisie deine Bilder.“ Was sagte Ensor dazu?
Tricot lächelt: „Er war zu alt, um zu antworten.“
## Eine Oper für Marionetten
Der späte Ensor, längst mit markantem, kantigem Vollbart in
lichtstrahlendem Weiß, hat auch komponiert, ohne Notenkenntnis übrigens.
Ausdauernd hat er am Klavier oben im blauen Salon seines Hauses gesessen,
der heute so hergerichtet ist, wie es damals war. 1933 war Ensors Oper „La
gamme d’amour“ (Bandbreite der Liebe) fertig, ein Opus für Marionetten, das
von Ballett-Tänzern gespielt und auch ein paar mal aufgeführt wurde.
Im Alter glaubte sich Ensor als Komponist noch bedeutender denn als Maler;
eine recht exklusive Einschätzung. Er habe halt ein „sehr großes
Selbstbewusstsein gehabt“, lächelt Museumsführerin Christa. Biograf Tricot
ergänzt: „Er war schon etwas narzisstisch.“
Ganz Ostende ist in diesen Tagen Ensor. [4][Das städtische Museum Mu.Zee]
zeigt seit Ende Dezember seine Stillleben (auch das Rochen-Original) im
Kontrast mit anderen belgischen KünstlerInnen dieses Genres. Es sind Ensors
erste Ausflüge in seine fantastische Welt: Nur bei ihm ist die
Schnapsflasche doppelt so groß wie eine Frauenfigur daneben. Eine Kerze
ersetzt einen Ruderer in einem Boot, Hände wuchern aus einem Eimer. Und
überall Farbexplosionen in Pastell.
Bei der englischsprachigen Führung klingt der Name Ensor immer wie other
oder sogar wie answer. Anders? Sicher. Aber Antwort – worauf? „Er war
jenseits der Realität, weiter als die Wirklichkeit“, sagt die Guide Sabine.
Und: „Er hat die Energie des Lichts gemalt.“
Die Recherchen wurden unterstützt von Visit Flanders.
5 Jan 2024
## LINKS
[1] /Herge-und-Magritte-in-Paris/!5358815
[2] /Ausstellung-zum-belgischen-Symbolismus/!5760426
[3] /Regisseur-Stoelzl-ueber-Schachnovelle/!5798095
[4] /Futurismus-Ausstellung-in-Belgien/!5364221
## AUTOREN
Bernd Müllender
## TAGS
Malerei
Satire
Belgien
Ausstellung
Schwerpunkt Coronavirus
Hamburger Kunsthalle
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ausstellung zum belgischen Symbolismus: Ein Spiel mit der Endzeit
Was coronabedingt nur wenige sehen durften, kann nun virtuell nachgeholt
werden. Ein Rundgang durch die Schau „Dekadenz und dunkle Träume“.
Ausstellung in Hamburg: Mit dunklem Herzblut
Verzweifelt-existenzielle Kunst-Achterbahnfahrt: Die Kunsthalle präsentiert
in der ersten Museumsschau überhaupt den belgischen Maler Philippe
Vandenberg.
Zeitgenössische Kunst in Wien: Bilder vom Suchen
"Form und Grund": Die Künstlerinnen Amelie von Wulfen und Monika Baer und
der Künstler Thomas Eggerer in der Augarten-Contemporary- Ausstellung in
Wien.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.