# taz.de -- Der Hausbesuch: Die Träume der Minetu Handi | |
> Minetu Handi wuchs in einem Flüchtlingslager in Algerien auf. Heute setzt | |
> sie sich in Berlin für die Unabhängigkeit der Westsahara ein. | |
Bild: Minetu Handi in ihrem Wohnzimmer. Sie liebt die Gitarre, kann sie aber ni… | |
Minetu Handi ist Sahraui, sie gehört zur maurischen Ethnie der Westsahara. | |
Vor der Kolonisation durch Spanien lebten ihre Vorfahren als Nomaden. Heute | |
kämpft Handi für die Rechte ihres Volkes und tut dies inzwischen von Berlin | |
aus. Denn ihr Land, die Westsahara, ist seit 1975 völkerrechtswidrig von | |
Marokko besetzt. | |
Draußen: Vor der U-Bahn-Station Berlin Hellersdorf ist ein kleiner Markt | |
mit Ständen und einem Karussell aufgebaut. Von dort führt der Weg in die | |
Wohnsiedlung, in der Minetu Handi lebt. Die mehrstöckigen Häuser sind | |
rot-orange gestrichen und U-förmig angeordnet, sodass in der Mitte Platz | |
für einen kleinen Spielplatz ist. | |
Drinnen: Vom Flur gehen die Schlafzimmer von ihr und ihren drei Kindern ab. | |
Im Wohnzimmer stehen zwischen niedrigen schwarzen Sofas vier kleine | |
Tischchen. Darauf neben Nüsse und Keksen auch mehrere silberne Teekännchen | |
und ein großer Strauß Minze. All das braucht sie später für die | |
Teezeremonie. Auf dem Bücherregal liegt eine Gitarre. „Ich liebe Musik, | |
spielen kann ich leider nicht.“ | |
Das Tee-Ritual: „Den Tee trinken wir immer, wenn wir zusammenkommen.“ Handi | |
kocht ihn in einem kleinen schwarzen Kännchen auf einer Mini-Herdplatte. | |
Dreimal gießt man den Tee auf, und jedes Mal verändert sich der Geschmack. | |
Man sagt, „der erste Tee ist bitter wie das Leben, der zweite süß wie die | |
Liebe und der dritte sanft wie der Tod“. | |
Kleidung: Während sie den Tee zwischen den Gläschen hin und her gießt, um | |
den Schaum abzuschöpfen, spricht sie über die traditionelle sahrauische | |
Kleidung, die Melhfa, die sie anhat. „Ich trage sie bei Protesten oder wenn | |
ich vor Leuten spreche, so wie jetzt.“ Auf ihrer Melhfa ist das Logo der | |
Organisation Asociación Hijas de Saguia y el Río, die sie 2017 mitgründete. | |
Deren Ziel: das mediale Schweigen in Europa über die | |
[1][völkerrechtswidrige Besetzung der Westsahara durch Marokko] zu brechen. | |
1991 beschlossen die Vereinten Nationen, ein Referendum abzuhalten, bei dem | |
die Sahrauis über die Unabhängigkeit der Westsahara abstimmen sollten. | |
Stattgefunden hat es bis heute nicht. Die Westsahara ist immer noch ein | |
Territorium ohne Selbstverwaltung, die Exilregierung sitzt in Algerien. | |
Mut, Nachdruck und Ausdauer: Inspiriert ist ihr Aktivismus von den Müttern | |
vom Plaza de Mayo in Argentinien. Deren Mut, Nachdruck und Ausdauer, mit | |
dem sie nach ihren verschwundenen Kindern suchen, gefällt Handi. „Die | |
Frauen in der [2][besetzten Westsahara] suchen auch nach ihren | |
verschwundenen Kindern und Männern.“ Dort leben heute, meint sie, | |
marokkanische Siedler*innen neben Sahrauis, die ihrer Selbstbestimmung | |
beraubt seien. Protesten der Sahrauis begegnet das marokkanische Militär | |
mit Gewalt. Einmal im Jahr demonstriert Handi mit ihrer Organisation vor | |
dem Büro der Vereinten Nationen in Genf, unter anderem für die Freilassung | |
politischer Gefangener. | |
Kindheit unter starken Frauen: Minetu Handi wurde 1978 in einem | |
Geflüchtetencamp bei Tindouf, in Algerien, geboren. Während die Männer in | |
der Frente Polisario, der Volksfront zur Befreiung von Saguía el Hamra und | |
Río de Oro, gegen Marokko und Mauretanien für die Unabhängigkeit der | |
Westsahara kämpften, flohen Frauen, alte Männer und Kinder. Handis Heimat | |
ist das Camp. Sie war ein glückliches Mädchen. Das Camp war ihre Welt, dazu | |
gehörten „Jaimas, die Wüste, und Mangel an Essen“. Es war bitter und süß | |
zugleich. | |
„Als Kind kennst du nichts anderes, dir erscheint auch Schreckliches | |
schön.“ Als sie klein war, dachte Handi, alle Kinder würden so aufwachsen | |
wie sie. „Die Stärke der sahrauischen Frauen ist unglaublich.“ Während sie | |
Kinder großzogen und von humanitärer Hilfe lebten, etablierten sie | |
gleichzeitig nachhaltige Strukturen für den Alltag in den Camps. Sie waren | |
Ärztinnen, Krankenschwestern und Lehrerinnen. Alle Kinder konnten zur | |
Schule gehen, einen Beruf erlernen. „Dank der Frente Polisario hatten alle | |
Menschen im Camp Zugang zu Bildung.“ | |
Familie: Handi hat fünf Geschwister. Sie ist die Erste, die im | |
Flüchtlingslager geboren wurde, dann kam noch eine jüngere Schwester. Nach | |
der Ankunft im Camp wurden ihre älteren Geschwister zum Studieren in andere | |
Länder geschickt. Zwei Brüder und eine Schwester gingen nach Kuba und kamen | |
elf Jahre lang nicht zurück. Die andere Schwester studierte in Algerien, | |
danach ging sie nach Deutschland. In den Ferien besuchte sie öfter die | |
Familie. Handi war aber nie mit all ihren Geschwistern und Eltern gemeinsam | |
an einem Ort zusammen. Erst als 2001 Handis Vater im Sterben lag, | |
versammelten sich alle um ihn. | |
Spanien: Mit 17 ging Handi nach Spanien, weil sie an einem Magengeschwür | |
erkrankt war. Damals gab es die Möglichkeit für Menschen im Camp, in | |
Gruppen nach Spanien zu gehen, um dort Krankheiten behandeln zu lassen. | |
Danach lebte sie für eine Weile bei einer Familie in Sevilla. Umgezogen | |
nach Asturien, beginnt sie eine Ausbildung zur Friseurin. „Damals war das | |
für meine Freundinnen und mich das Tollste, wir wollten alle Friseurinnen | |
sein.“ | |
Nomadin: Handi gefiel der Beruf, und weil sie überall Arbeit finden konnte, | |
„lebte ich wie eine Nomadin in Spanien“. Sie nimmt sich vor, das ganze Land | |
kennenzulernen. „Überall in Spanien leben die Menschen unterschiedlich und | |
ich wollte die Kultur und die Menschen erleben.“ Dabei trifft sie auch | |
ihren Mann, der halb Sahraui, halb Spanier ist. Zwanzig Jahre ging das so. | |
Jetzt aber möchte sie nicht mehr als Friseurin arbeiten. Um ihren Abschluss | |
in Deutschland anerkennen zu lassen, müsste sie ein paar Monate lang einen | |
Kurs belegen. Doch der Friseurberuf sei eine anstrengende und schlecht | |
bezahlte Arbeit, sagt sie. | |
Berlin: 2014 zieht Handi nach Berlin. Sie folgt ihrem Mann, der schon vor | |
ihr nach Deutschland gezogen war. Das gemeinsame Restaurant in Murcia, das | |
sie zuletzt hatten, war wegen der Finanzkrise nicht mehr rentabel; sie | |
mussten es schließen. Ihre Schwester wohnte damals schon in Berlin. „Die | |
Stadt hat mir immer gut gefallen.“ | |
In Berlin arbeitet der Mann in der Gastronomie, sie muss zu Hause bleiben, | |
die Kinder sind klein. Aber die Ehe geht auseinander, jetzt lebt sie | |
alleinerziehend. Die Kinder hätten, meint sie, in der Siedlung und an der | |
Schule viele Freund*innen. Die Tochter eines benachbarten Ehepaars | |
übernachte häufig bei ihnen. Vor allem an Wochenenden. „Ihre Eltern sind | |
noch jünger und gehen gerne aus.“ | |
Wohlfühlen trotz Einsamkeit: Das Leben in Deutschland sei gut, nur hin und | |
wieder etwas kalt. Sie fühle sich auch oft alleine, weil sie nicht so viel | |
rausgehe. Doch ihr Leben sei besser als an anderen Orten. „Ich fühle mich | |
ruhig.“ Sie habe nicht viel mit den anderen Menschen aus der Siedlung zu | |
tun. „Dort drüben“, sagt sie und zeigt auf den Balkon nebenan, habe einmal | |
auch eine alleinerziehende Mutter gewohnt, mit der sie sich gut verstanden | |
und Zeit verbracht habe. Die ist inzwischen weggezogen. | |
Wichtig aber sei ihr vor allem, dass die Kinder zur Schule gehen und | |
Deutsch lernen können. Sie spricht mit ihnen Spanisch und Hassania, einen | |
arabischen Dialekt. „Sie sprechen alle drei Sprachen sehr gut“, das freue | |
sie. | |
Universität: Seit vergangenem Jahr kommt Handi an der Freien Universität | |
als Gastdozentin in den Spanischunterricht. Sie hängt die Flagge der | |
Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS) ans Pult und erzählt | |
[3][die Geschichte der Westsahara und vom Leben der Sahauris in | |
Flüchtlingslagern und im Exil]. Sie erklärt, dass die Westsahara große | |
Phosphatvorkommen hat, „sobald man Geld verdienen kann, geht es nicht mehr | |
um Menschen“. Ihr Wunsch ist die Unabhängigkeit und Freiheit ihres pueblos, | |
ihres Volkes. | |
Kraft: An jedem letzten Freitag im Monat trifft sie sich mit der Gruppe La | |
Jaima de Tiris, die sich für die Kultur des sahrauischen Volkes einsetzt. | |
Sie freue sich immer darauf. Gemeinsam kochen und essen sie, manchmal | |
veranstalten sie Filmabende. „Jedes Mal wird die Gruppe größer.“ Dass sie | |
so für ihr Land aktiv sein kann, gebe ihr Kraft, sagt Handi. „Wenn ich nur | |
eine Person wissen lassen kann, dass es in der besetzten Westsahara | |
politische Gefangene gibt, ist das ein Erfolg.“ | |
Träume: Als die jüngste Tochter die Schule beginnt, fängt sie selbst einen | |
Sprachkurs an. Sie möchte eine Ausbildung machen. „Ich habe zwei Träume“, | |
sagt Handi. Der eine ist, Grafik- oder Webdesignerin zu werden. „Das würde | |
viel Zeit und Geld für meine aktivistische Arbeit sparen.“ Der andere ist, | |
Fotografin zu werden. „Ein Foto sagt mehr als tausend Worte.“ Um die | |
Situation der Sahrauis zu verstehen, um zu erfahren, wie die Kinder in den | |
Camps leben, müsse die Welt Fotos sehen, meint sie. | |
14 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Anaïs Agudo Berbel | |
Luciana Ferrando | |
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