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# taz.de -- Historiker über die Deutschen: „Andere sind da eher gelassener“
> Sind die Deutschen moralischer als andere? Der Historiker Frank Trentmann
> hat eine Geschichte des deutschen Gewissens von 1942 bis heute
> geschrieben.
Bild: Wiedergutmachung gleich Wiedergutwerdung? Bundeskanzler Konrad Adenauer 1…
wochentaz: Herr Trentmann, sieben Jahre haben Sie an ihrem monumentalen,
900-seitigen Buch über Deutschland und die Deutschen gearbeitet. Haben Sie
nun herausgefunden, was deutsch ist?
Frank Trentmann: Deutsch zu sein, bedeutet, ständig mit moralischen Fragen
zu ringen. Die moralischen Themen ändern sich im Laufe der Zeit, aber es
gibt ein ständiges Tauziehen, und dabei wird aus verschiedenen Richtungen
gezogen. Nur wenige Deutsche machen sich gar keine Gedanken über Gut und
Böse. Ich denke, die Deutschen tragen eine Art Spiegel mit sich herum, in
den sie schauen und sich ständig vergewissern wollen, auf dem richtigen
Pfad zu sein. Und wenn sie denken, dass sie das nicht sind, dann machen sie
sich Sorgen darüber. Andere sind da eher gelassener.
Sie selbst sind in Hamburg geboren und Mitte der 1980er zum Studium nach
England gezogen. Heute lehren Sie, nach einer längeren Station in den USA,
als Professor für Geschichte in London. Blicken Sie als langjähriger Expat
auf die Deutschen aus einer besonderen Erkenntnisposition?
Sicherlich nehme ich vieles, über das ich in meinem Buch schreibe, mit
einer Mischung aus Nähe und Distanz wahr. Ich begreife mich als
historischer Anthropologe. Das Buch richtet sich dezidiert an ein deutsches
wie auch an ein nichtdeutsches Publikum. Es ist teilweise erschreckend, wie
wenig etwa die Briten über Deutschland und seine Geschichte abseits der
Person Hitler wissen. In Deutschland hingegen hält man vieles aus der
eigenen Geschichte unhinterfragt für selbstverständlich. Das wird gerade
aus einer gewissen Distanz und beim Blick auf einen längeren Zeitverlauf
deutlich. Dabei gibt es so viel Spannendes, was man neu sehen und erzählen
kann.
„Aufbruch des Gewissens“ ist weder eine unilineare Erfolgsgeschichte noch
eine polemische Abrechnung mit den Deutschen. Sie schildern immer wieder
auch die Ambivalenzen, Widersprüche und Spannungen der Deutschen im Umgang
mit moralischen Fragen. Können Sie ein Beispiel dafür nennen?
Als Startpunkt meiner Studie habe ich den Winter 1942/43 gewählt, mit der
vernichtenden Niederlage von Stalingrad. Zusammen mit der dann immer
umfassenderen Bombardierung der „Heimatfront“ wirft dies für eine
zunehmende Zahl von Deutschen Fragen auf über frühere Gewissheiten: etwa
dass man einen „gerechten Krieg“ kämpft oder diesen letztlich auch gewinnen
wird. In dieser nun für einen selbst schrecklichen Realität beginnen einige
Deutsche sich die ersten Gedanken über eine mögliche Mitschuld an der
Ermordung von Juden, Kriegsgefangenen und Zivilisten zu machen. Andere
dagegen ziehen den genau umgekehrten Schluss und fühlen sich bestärkt in
ihrer paranoiden, antisemitischen Fantasie, dass die Juden angeblich
Deutschland vernichten wollen, und fordern selbst ihre totale Vernichtung.
Gleichzeitig versuchen alle ein Selbstbild vom eigenen Gut-Sein
aufrechtzuerhalten.
Die Adenauer-Ära gilt heute vor allem als graue, biedere Zeit der
Restauration. Sie teilen diese Einschätzung nur zum Teil. Warum?
In den 1950er Jahren gab es auch viele radikale Entwicklungen, in der die
moralische Lage des Landes getestet und neu ausgerichtet wurde:
Lastenausgleich, Rentenreform und Generationsvertrag, Westorientierung und
Wiederbewaffnung und auch die vielen Massendemonstrationen dagegen.
Bemerkenswert ist insbesondere, wie Adenauer die mit Israel und der Jewish
Claims Conference ausgehandelte „Wiedergutmachung“ durch diplomatisches
Geschick nicht nur gegen die Widerstände der vielen Ex-Nazis und Mitläufer
durchgesetzt hat. Gegenwind hat Adenauer auch von seinen
christdemokratischen Parteigenossen und seinem liberalen Justizminister
Thomas Dehler erhalten. Dehler vertrat die Überzeugung, dass man moralische
Verpflichtungen nicht mit Geld abzahlen könne. Insgesamt war die
Wiedergutmachung ein Schritt von historischer Bedeutung, der die deutsche
Verantwortung für Verbrechen anerkannte. Sie wurde aber auch als „Blutgeld“
kritisiert und schloss viele Opfergruppen aus. Für die deutsche
Mehrheitsgesellschaft bot die „Wiedergutmachung“ zudem die Chance, die
eigene Mitverantwortung für und in der NS‑Zeit auf den Staat abzuwälzen.
Im Ausland galt Deutschland in Bezug auf die Aufarbeitung der
NS-Vergangenheit lange Zeit als vorbildlich – trotz aller Versäumnisse und
der häufig auch anzutreffenden Doppelmoral. Inzwischen sind jedoch immer
mehr Stimmen gerade aus dem linksliberalen Milieu zu hören, die den
Deutschen einen „Schuldkomplex“ attestieren. Wie ordnen Sie diese
Entwicklung ein?
Der postkoloniale Diskurs, aus dem diese Form der Kritik an der deutschen
Erinnerungspolitik kommt, hat in Großbritannien oder in den USA seit Langem
eine viel größere Bedeutung. Es überrascht nicht, dass diese Art der Kritik
inzwischen auch in Deutschland präsenter geworden ist und ein Licht auf
dortige Defizite geworfen hat. Denn in der Tat hinkte die Aufarbeitung der
eigenen Kolonialgeschichte in Deutschland lange Zeit weit hinterher und hat
noch heute etwa in Schulbüchern keinen angemessenen Platz. Doch diese
Defizite kausal darauf zurückzuführen, [1][dass die Deutschen zu viel über
den Holocaust reden, ist geschichtswissenschaftlich und politisch einfach
Unsinn.] Darüber hinaus sollten wir nicht vergessen, dass man in den
heutigen Debatten zu Israel auch in anderen Ländern sehr viel um sich
selbst kreist. [2][In Großbritannien etwa werden aktuell die zivilen Opfer
in Gaza von vielen Menschen symbolisch so stark aufgeladen], weil darüber
auch der eigene Status in einer multiethnischen und multireligiösen
Gesellschaft oder allgemein die Themen Kolonialismus und Rassismus
verhandelt werden. Auch woanders gibt es eine Vergangenheit, die in
Debatten zu aktuellen Themen nachwirkt.
In ihrem Buch schildern Sie, wie sich gerade in den 1960ern und 70ern viele
Deutsche stark für die „Verdammten dieser Erde“ in der weiten Ferne
interessiert haben – nicht aber für den [3][Rassismus gegenüber den
sogenannten Gastarbeitern im eigenen Land]. Hängt das auch damit zusammen,
dass sich die Deutschen so lange nicht als „Einwanderungsgesellschaft“
begriffen haben?
Die Sturheit, mit der so lange an der Illusion festgehalten wurde,
Deutschland sei kein Einwanderungsland, ist schon sehr beachtlich. Erst
recht auch, weil schon lange vor der Ankunft der sogenannten Gastarbeiter
die Gesellschaft von Migration geprägt war. Bereits um die Jahrhundertwende
hatten sich etwa viele Polen gerade im Ruhrgebiet angesiedelt. Allerdings
haben sich schon zu Zeiten der Gastarbeiteranwerbung auf lokaler Ebene
viele Wohlfahrtsorganisationen und Behörden stärker für Integration und
gegen Diskriminierung eingesetzt. Insgesamt beobachte ich in Deutschland
noch heute eine Tendenz, das Fremde und Anderssein nicht als Ressource oder
Bereicherung zu sehen, sondern vor allem als Problem. Dazu kommt die
Haltung, Probleme häufig nur bei „den anderen“ zu verorten – siehe etwa …
Idee eines bloß aus muslimisch geprägten Ländern importierten
Antisemitismus. Im Ausland wird all das wahrgenommen und häufig als
Selbstbezogenheit und mangelnde Öffnung und Dialogbereitschaft kritisiert.
Im Juli nächsten Jahres wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Einige Monate
später finden in Sachsen, Brandenburg und Thüringen Landtagswahlen statt –
mit düsteren Aussichten angesichts der hohen Umfragewerte der AfD. Was
verrät diese Parallelität über die Deutschen?
Es gibt eine lange Geschichte von antiliberalen Tendenzen und Mentalitäten
in Deutschland. Damit beziehe ich mich nicht nur auf die DDR, sondern auch
auf die Bundesrepublik. An der AfD ist vieles neu, aber sie baut auch auf
einem historischen Fundament auf. Dazu gehören unter anderem die regionalen
Erfolge der rechtsextremen Schill-Partei in Hamburg oder der Republikaner
etwa in Bayern. Viele AfD-Positionen wurden in der Zeit vor Merkel von der
CDU vertreten. So etwa die Idee einer unerschütterlichen heterosexuellen
„Normalfamilie“, die heute durch den „Gender-Wahnsinn“ bedroht werde. In
den sogenannten neuen Bundesländern kommt ein tief verankertes Gefühl der
mangelnden Anerkennung und des eigenen Nicht-gehört-Werdens hinzu. Dort ist
das Verständnis von Demokratie stärker plebiszitär und gegen die Eliten
gerichtet. Auf den Punkt gebracht wird das durch den Slogan „Wir sind das
Volk“. Rückblickend kann man sagen, dass die Idee, die AfD durch
Ausgrenzung zum Einschlafen zu bringen, nicht funktioniert hat. Dafür
braucht es andere Strategien. Erst recht, wenn sie über 30 Prozent der
Stimmen erhält, wie das bei den kommenden Landtagswahlen wahrscheinlich
ist.
1 Jan 2024
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## AUTOREN
Till Schmidt
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