# taz.de -- Schizophrener 81-Jähriger verurteilt: Mord im Wahn | |
> Im Frühjahr erschoss ein 81-Jähriger im niedersächsischen Bramsche einen | |
> 16-jährigen Nachbarn mit einer Sportpistole. Nun wurde er verurteilt. | |
Bild: Der Tatort nach den tödlichen Schüssen: Einsatzkräfte sichern Spuren a… | |
Osnabrück taz | Die Atmosphäre im Schwurgerichtssaal 272 des Landgerichts | |
Osnabrück ist angespannt an diesem Montagnachmittag. Die Urteilsverkündung | |
zu einem Tötungsdelikt steht an, und es ist eine Tat, die tief verstört: Im | |
Februar erschoss der damals 81-jährige Angeklagte einen Schüler. | |
Giuseppe D. wird in Handschellen hereingeführt, flankiert von | |
Uniformierten. Er ist 82, wirkt aber jünger. Eine Regung zeigt er anfangs | |
nicht. Später nickt er zuweilen knapp oder schüttelt abwehrend den Kopf. | |
Die Dolmetscherin, die für ihn ins Italienische übersetzt, signalisiert | |
ihm, nicht zu sprechen, während der Richter spricht. Er tut es trotzdem. | |
Im Februar 2023 feuerte Giuseppe D. im niedersächsischen Bramsche vier | |
Schüsse auf den 16-jährigen Schüler Sinan F. ab, teils von hinten, in die | |
rechte Wade. Dann von vorn in die linke Hand, in die rechte Oberlippe, in | |
die Stirn. Danach hat er, direkt neben seinem Opfer, einen Suizidversuch | |
unternommen. | |
Das Urteil der 6. Großen Strafkammer entspricht den [1][Anträgen von | |
Staatsanwaltschaft und Nebenklage]: 13 Jahre Freiheitsstrafe wegen | |
heimtückischen Mordes, zudem Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik | |
wegen paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie und der Gefahr weiterer | |
Taten. Das Gericht erkennt eine verminderte Schuld-, aber keine verminderte | |
Erkenntnisfähigkeit. Das heißt, er war sich der Tragweite seines Tuns | |
bewusst. | |
Die Tat sei geplant gewesen, es habe Tötungsabsicht bestanden, sagt Ingo | |
Frommeyer, der Vorsitzende Richter. Dass vom Opfer eine Bedrohung | |
ausgegangen sei, wie D. behauptet hat, sei ausgeschlossen. Beim Täter habe | |
eine „zunehmende Wahndynamik“ vorgelegen. | |
Saal 272 weist eine Ungewöhnlichkeit auf: Auf dem riesigen Wandbild über | |
der Richterbank trägt die römische Göttin Justitia nicht, wie üblich, eine | |
Augenbinde, die zeigen soll, dass ohne Rücksicht auf Rang und Herkunft | |
Recht gesprochen wird. Die offenen Augen der Osnabrücker Justitia, erklärt | |
das Landgericht, zeigen, „dass das Recht nicht blind vor der Wirklichkeit | |
ist, sondern sich den Problemen und Hintergründen des Verfahrens zuwendet“. | |
Frommeyer tut genau das, und das Bild, das er zeichnet, ist beklemmend. D. | |
fühlt sich von Familie F., mit der er im selben Mehrparteienhaus lebt, | |
durch absichtlichen Lärm schikaniert; Tag und Nacht, unerträglich laut. Er | |
fühlt sich zudem beobachtet, bedroht. Er baut Wut auf, seine innere | |
Ausweglosigkeit wächst. Das Problem: Nichts davon ist real. Was er als | |
Übergriff wertet, spielt sich nur in seinem Kopf ab. | |
Giuseppe D. holt den Vermieter. Einmal weckt er Familie F. mitten in der | |
Nacht, weil es bei ihr angeblich so laut ist. Der sozialpsychologische | |
Dienst des Landkreises Osnabrück wird hinzugezogen, die Polizei, eine | |
Hausärztin – ohne Ergebnis. | |
Am Morgen der Tat will Sinan F. zur Schule. Er ist spät dran, in Eile. Sein | |
Nachbar wartet auf ihn, mit seiner Sportpistole Walther GSP.22 l.r., | |
geladen mit fünf Patronen. Kurz nachdem Sinan F. seine Wohnung verlassen | |
hat, fallen Schüsse. „Da sollte nicht gesprochen werden“, sagt Frommeyer. | |
„Da wurde direkt geschossen.“ | |
Das Gericht ist überzeugt: Ohne die Schizophrenie wäre die Tat nicht | |
geschehen. Sinan F. sei arglos gewesen, wehrlos, und D. habe das | |
ausgenutzt. Heimtücke ist ein Mordmerkmal. | |
Ein Junge ist tot, grundlos, schuldlos. Ein Mann kommt in die Psychiatrie, | |
vielleicht ins Gefängnis, weil er nicht erkennen konnte, dass sein Leid nur | |
eingebildet war. Größer kann eine Sinnlosigkeit nicht sein. | |
## Stimme im Kopf | |
In D. hat sich der Wahn übrigens schon ein neues Objekt gesucht. Da sei ein | |
Mann, sagt er. Er könne ihn nicht sehen, aber er höre ihn, als eine Stimme | |
in seinem Kopf. | |
D. war geständig, hat sich entschuldigt, ist nicht vorbestraft. Das sprach | |
zu seinen Gunsten. Aber sein Versuch, der Polizei eine Mitschuld zu geben, | |
oder Sinans Mutter, der Hausärztin, ist fehlgeschlagen. Frommeyer stellt | |
klar: Die Schuld liegt bei D. allein. | |
Es bleibt die Frage nach der Legalität der Waffe. D. war Sportschütze, | |
wenngleich nicht mehr aktiv. Der Landkreis Vechta hatte ihm 1982 eine | |
Waffenbesitzkarte ausgestellt, unbefristet. Mitte der 1980er verlor die | |
Waffenbehörde ihn jedoch aus dem Blick: Er zog ins Ausland, Verbleib | |
unbekannt. Als er ein paar Jahre später nach Deutschland zurückkam, meldete | |
er seine Waffen bei der Stadtverwaltung Bramsche nicht an. Ein nationales | |
Waffenregister gab es damals noch nicht. | |
Vor der Tat ging D. in den Keller an seinen Waffentresor. Er lud seine | |
Walther und tötete einen Menschen. Der Mord lehrt auch: Streng genug können | |
Waffenkontrollen nicht sein. | |
13 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Harff-Peter Schönherr | |
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