| # taz.de -- Experiment in Dänemark: Zwangsumsiedlung mit „Ghettoplan“ | |
| > Mit Zwangsumsiedlungen will Dänemark Brennpunkte auflösen: Gebäude werden | |
| > abgerissen, nicht nur migrantische BewohnerInnen vertrieben. | |
| Bild: BewohnerInnnen von Mjølnerparken protestieren gegen die Umsiedlungspläne | |
| Stockholm taz | Zum Auszug gezwungen habe man ihn und seine Frau, er habe | |
| sich regelrecht erpresst gefühlt, erzählte Arif Mohammed in einer Reportage | |
| der dänischen Tageszeitung Politiken. Eines Tages seien Leute vom | |
| Wohnungsunternehmen gekommen: Das Haus sei verkauft worden, es werde nun | |
| renoviert, sie müssten die Wohnung räumen. | |
| „Ich bin seit 32 Jahren in Dänemark und habe immer gearbeitet“, berichtete | |
| der in Pakistan geborene 55-jährige Taxifahrer. „Ich lebe nicht auf Kosten | |
| des Staates und habe das nie getan. Darauf bin ich sehr stolz.“ Sei denn | |
| der „Ghettoplan“ nicht wegen der Kriminellen beschlossen worden? Und was | |
| hätten er und seine Frau mit denen zu tun? „Ich wurde dafür bestraft, dass | |
| ich am selben Ort wie die lebe: eine grenzenlose Ungerechtigkeit.“ | |
| 2018 hatte die konservative dänische Regierung von [1][Ministerpräsident | |
| Lars Løkke Rasmussen einen „Ghettoplan“ beschlossen]. Eine | |
| Spezialgesetzgebung für Wohngebiete mit einem Bevölkerungsanteil von mehr | |
| als 50 Prozent „nicht-westlicher Einwanderer und ihrer Nachkommen“. | |
| Hintergrund war die wachsende Kriminalität im Kopenhagener Wohnviertel | |
| Mjølnerparken. Dieses wählte der Regierungschef auch deshalb demonstrativ, | |
| um vor einem großen Presseaufgebot die neue Integrationsgesetzgebung als | |
| „unsere letzte Chance“ zu präsentieren. | |
| Das von einer breiten Parlamentsmehrheit von den Sozialisten bis zu den | |
| Rechtspopulisten unterstützte Gesetz macht Zwangsumsiedlungen möglich, wenn | |
| Wohnviertel zwei von vier Kriterien erfüllen: Mehr als 40 Prozent | |
| Arbeitslose, über 60 Prozent der über 30-Jährigen haben nur | |
| Grundschulausbildung, ein durchschnittliches Bruttoeinkommen, das 55 | |
| Prozent niedriger als der regionale Durchschnitt ist, oder eine dreimal | |
| höhere Kriminalitätsrate als im landesweiten Schnitt. | |
| ## Stigmatisierung von Vierteln | |
| Als offizielle Überschrift für diese Politik griff man ausgerechnet auf den | |
| Begriff „Ghetto“ zurück, ein von den Nazis verwendeter Terminus für | |
| jüdische Wohngebiete und Sammellager, die Übergangsstationen vor dem | |
| Transport in Vernichtungslager waren. | |
| Erst ab 2021 wurden aus den jährlich aktualisierten „Ghettolisten“ | |
| „Parallelgesellschaften“, „Transformationsgebiete“ und „gefährdete | |
| Wohngebiete“. Was an der Stigmatisierung natürlich nichts geändert habe, | |
| kommentiert Louise Holck, die Direktorin des Dänischen | |
| Menschenrechtsinstituts. Trotz Auswechseln des Etiketts habe man hier ein | |
| Gesetz, „aufgrund dessen Menschen ihre Wohnungen wegen ihrer ethnischen | |
| Herkunft verlieren können“. Das [2][sei „menschenrechtswidrige | |
| Ungleichbehandlung, ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot“]. | |
| [3][Das offizielle Ziel dieser Politik], Dänemark bis 2030 „frei von | |
| Ghettos“ zu machen, will man dadurch erreichen, dass in diesen vorwiegend | |
| in den 1970er Jahren erbauten Gebieten mit Sozialwohnungen ein zwangsweiser | |
| „Austausch“ von bis zu 60 Prozent der BewohnerInnen stattfinden soll. Neu | |
| in diese aktuell 17 „Transformationsgebiete“ und 67 „gefährdeten | |
| Wohngebiete“ dürfen nämlich dann nur noch Menschen mit dänischer oder | |
| „westlicher“ Staatsangehörigkeit einziehen. | |
| ## Abriss und Neubau | |
| Die Sozialwohnungen sollen zu einem großen Teil verschwinden, bis zu 40 | |
| Prozent in Eigentumswohnungen umgewandelt werden, wodurch der städtische | |
| Wohnungsbau noch mehr dem Markt überlassen wird, [4][kritisieren | |
| ArchitekturprofessorInnen]. Kommunen können außerdem bestimmen, dass Häuser | |
| aus „strategischen Gründen“ ganz abgerissen werden können. KritikerInnen | |
| sprechen von einem umwelt- und klimapolitischen Skandal: Für eine | |
| diskriminierende Wohnungspolitik würden funktionstüchtige Gebäude dem | |
| Erdboden gleichgemacht. Sie verweisen auf Studien, wonach Abrisse und | |
| Neubauten bis zu 300-mal klimaschädlicher sind als Sanierungen. | |
| „Unnötig schlampig und brutal“, nennt Steffen Boel Jørgensen, der | |
| Geschäftsführer eines Immobilienunternehmens, das Gesetz: „So schlecht, | |
| dass es sich jeder Beschreibung entzieht.“ Man überlasse es einfach den | |
| Wohnungsunternehmen, dafür zu sorgen, dass die Hälfte der Menschen ihre | |
| Wohnungen räumen müssen. Für einige dieser Unternehmen wurde das ein | |
| Freibrief, um kurzerhand allen MieterInnen zu kündigen oder die vom Gesetz | |
| bis 2030 befristete Vorgabe schnellstmöglich zu erreichen, um mit | |
| Verkäufen, Luxusrenovierungen und Umwandlung in Eigentumswohnungen ihre | |
| Gewinne zu maximieren. Weshalb von dieser Ghettogesetzgebung keineswegs nur | |
| die MieterInnen mit „nichtwestlicher“ Herkunft betroffen sind. | |
| Wie das Ghettogesetz sie aus ihrer Wohnung geworfen hat, schilderte die | |
| 80-jährige Rentnerin Lisbeth Bjerregaard Saugmann vor einigen Monaten | |
| gegenüber Medien. Kündigung mit dreimonatiger Frist wegen Renovierung und – | |
| weil Dänin – theoretisch eine mögliche spätere Aussicht auf einen neuen | |
| Vertrag. Aber mit einer Miete, die sie mit ihrer kleinen Pension vermutlich | |
| nicht zahlen kann. Die Renovierung sei auch gleich rücksichtslos angegangen | |
| worden. Als Erstes habe man die Gemeinschaftsräume herausgerissen, sodass | |
| die Seniorengruppe, die sie seit elf Jahren mit anderen Älteren gebildet | |
| habe, „keinen Ort mehr für gemeinsame Veranstaltungen und Treffen hatte und | |
| nicht einmal mehr eine Weihnachtsfeier für die Kinder von Mjølnerparken | |
| veranstaltet werden konnte“. | |
| ## Eine „politische Machtdemonstration“ | |
| Natürlich gebe es in den Vierteln, die man nun Ghettos nenne, soziale | |
| Probleme, schildert die Rentnerin. Manche hätten es schwer, ihr Leben auf | |
| die Reihe zu bekommen. Aber es gebe auch viel Gemeinschaftsleben, | |
| Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft und sie selbst habe sich nie unsicher | |
| gefühlt. Das Ghettogesetz sei „ein Übergriff auf uns Bewohner, eine | |
| politische Machtdemonstration“. „Die Befürworter des Gesetzes hatten so | |
| unterirdische Argumente, wie dass es für Kinder gut sei, Erwachsene zu | |
| erleben, die Pausenbrote schmierten und zur Arbeit gehen. Als ob dies bei | |
| uns nicht der Fall wäre“, so die Rentnerin. | |
| In Mjølnerparken und anderen „Ghettovierteln“ organisierte sich die | |
| [5][Initiative „Almen Modstand“] (Dt. „Allgemeiner Widerstand“), gegen … | |
| „gesetzlich formalisierten Rassismus“, mit dem „Bürger aufgrund von | |
| Kategorien wie Bildung und Einkommensniveau sowie stereotypen Vorstellungen | |
| über ethnische Zugehörigkeit und Nationalität stigmatisiert werden“. Es | |
| fanden Protestaktionen statt, zuletzt im Mai. Es soll weitere geben. | |
| Bau- und WohnforscherInnen wie Mette Mechlenborg von der Universität | |
| Aalborg bezeichnen die sogenannte Ghettogesetzgebung, „die für die einen | |
| Ausdruck der allgemeinen Fremdenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft ist, | |
| während andere das Gesamtziel begrüßen, eine gemischtere | |
| Bewohnerzusammensetzung zu schaffen“, [6][als „größtes wohnsoziales | |
| Experiment in der dänischen Geschichte“]. Zwar bemühe man sich seit | |
| Jahrzehnten, in bestehenden Wohngebieten gemischte Quartiere zu schaffen. | |
| Die Frage sei aber, ob sich mit einer Zwangsumgestaltung der physischen | |
| auch die soziale Realität ändern werde. | |
| ## „Negativer Ruf“ der Viertel | |
| „Die Beschreibungen der Wohngebiete in Form quantitativer Daten birgt die | |
| Gefahr, dass die Vielfalt der Wohngebiete aus dem Blickfeld gerät“, | |
| kritisiert sie. Deren negativer medialer Ruf entspreche oft gar nicht dem | |
| Alltagsleben, das die BewohnerInnen selbst empfinden. Begriffe wie Ghettos | |
| und Parallelgesellschaften trügen nur zu weiterer Stigmatisierung bei. | |
| Damit es gelinge, sozial gemischtere Wohnviertel zu schaffen, wäre es viel | |
| wichtiger, „an der Reputation der exponierten Wohngebiete zu arbeiten“. | |
| Völlig ungeklärt sei auch, wie sich die Lebenssituation der BewohnerInnen | |
| gestalten werde, die man einfach umsiedle. | |
| Ohne ein Konzept für diese zwangsumgesiedelten Menschen zu haben, könne ein | |
| solches Programm der Segregation nicht entgegenwirken, meint Emma | |
| Holmqvist, Forscherin für Kulturgeografie an der Universität Uppsala. Was | |
| auch Erfahrungen beispielsweise in Chicago und London bewiesen hätten. Mit | |
| der Zeit werde es dann einfach eine neue und womöglich noch größere | |
| Konzentration marginalisierter Gruppen in Gebieten mit billigen | |
| Mietwohnungen geben. | |
| Für Lamies Nassri, Projektleiterin am Ceda, dem „Zentrum für die Rechte der | |
| Muslime in Dänemark“, ist die unter anderem von der Europäischen Kommission | |
| gegen Rassismus und Intoleranz (Ecri), dem UN-Ausschuss für | |
| wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR) und der | |
| UN-Konvention gegen Rassendiskriminierung (Cerd) kritisierte | |
| Ghettogesetzgebung, „die 155 verschiedene Kulturen in die Kategorie | |
| ‚nichtwestliche Einwanderer und Nachkommen‘ steckt, als Gegensatz zur | |
| ‚dänischen Kultur‘ definiert und ihnen deshalb den Zugang zu bezahlbarem | |
| Wohnraum beschränkt“, nur Teil einer Serie von rassistischen Maßnahmen, mit | |
| denen Kopenhagen vor allem eine Botschaft verbinde: „Ihr sollt weg.“ | |
| ## Klagen gegen das Gesetz | |
| Bei Dänemarks Oberstem Gericht sind mehrere Klagen anhängig. Das Gericht | |
| wartet auf die Grundsatzentscheidung des EU-Gerichtshofs in einem Verfahren | |
| gegen das Königreich Dänemark wegen gesetzwidriger Diskriminierung | |
| „nichtwestlicher“ BürgerInnen. Nassri hofft auf einen Ausgang, der dazu | |
| führt, „dass Dänemark wieder ein Land wird, in dem alle vor dem Gesetz | |
| gleich sind und das Gesetz für alle gleich ist“. | |
| „Und warum liegt der Fokus eigentlich nur darauf, die sogenannten Ghettos | |
| in die Gesellschaft zu integrieren?“, fragt Forscherin Mechlenborg aus | |
| Aalborg. „Wenn unser Ziel gemischtere Wohngebiete sind, können wir genauso | |
| gut fordern, dass die Reichenghettos sich integrieren und wir dort eine | |
| gemischtere Zusammensetzung der Bevölkerung bekommen.“ | |
| 6 Dec 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Ghettoplan-der-daenischen-Regierung/!5488604 | |
| [2] https://menneskeret.dk/nyheder/debat-ghettoloven-stadig-barriere-minoritete… | |
| [3] https://www.regeringen.dk/media/4937/publikation_%C3%A9t-danmark-uden-paral… | |
| [4] https://www.information.dk/debat/2020/11/fem-grunde-ghettoloven-loesningen-… | |
| [5] https://www.almenmodstand.dk/ | |
| [6] https://www.altinget.dk/by/artikel/forskere-parallelsamfundsaftalen-er-danm… | |
| ## AUTOREN | |
| Reinhard Wolff | |
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