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# taz.de -- Palästinenser*innen in Deutschland: „Wir haben es mit Tabus zu t…
> Palästinensische Stimmen fehlen im deutschen Diskurs, sagt die
> Wissenschaftlerin Sarah El Bulbeisi. Das komme systematischer Gewalt
> gegen sie gleich.
Bild: Immer mehr Palästinenser*innen beteiligen sich an Demonstrationen, wie h…
taz: Die Familie Ihres Vaters lebt [1][in Gaza]. Wie geht es Ihnen gerade?
Sarah El Bulbeisi: Es geht okay. Meine Strategie ist, ein bisschen zu
verdrängen, was passiert, weil es sonst einfach nicht auszuhalten ist. Ich
habe ab und zu Kontakt mit meiner Familie und bekomme in Telefongesprächen
die Angst und Verzweiflung mit. Das ist nur ein Warten auf den Tod. Meine
Tante meinte, sie hoffe, dass sie bald erlöst werde. Ich habe stundenlang
gebraucht, um ihr zurückzuschreiben. Ich wusste nicht, was ich antworten
kann.
Wie haben Sie geantwortet?
Dass ich bei ihr bin, dass sie nicht alleine ist.
Wie geht es anderen Menschen in der [2][deutsch-palästinensischen
Community]?
Sie sind schockiert und wütend. Palästinenser*innen fühlen sich
entmenschlicht, weil der ganze politische und mediale Diskurs sie als
Menschen unsichtbar macht. Immer wieder wird das Bild eines symmetrischen
Konflikts gezeichnet und die ganze systematische Gewalterfahrung der
PalästinenserInnen ausgeblendet. Das macht etwas mit der Diaspora: Man
zeigt weniger Kulanz mit der Mehrheitsbevölkerung und ist weniger bemüht,
deren Wegschauen zu entschuldigen. Die Entfremdung wird immer stärker.
Was meinen Sie mit Entmenschlichung?
Dass Palästinenser*innen nicht als Betroffene von systematischer
Gewalt und als betrauernswert wahrgenommen werden. Das geschieht nicht auf
physischer Ebene, wie wir es jetzt in den besetzten Gebieten sehen, sondern
auf der diskursiven Ebene.
Können Sie dafür Beispiele geben?
Abgesehen von der Berichterstattung gibt es darüber hinaus
Versammlungsverbote. 2022 und 2023 hat die Berliner Polizei beispielsweise
anlässlich der Gedenkzeremonien an die Nakba Versammlungsverbote
angeordnet. Man durfte des kollektiven Traumas, das ja auch Teil der
Identität ist, nicht gedenken. Legitimiert wurde dies mit der Antizipation
von Gewaltakten. Also für mich ist das eine Form von Entmenschlichung, dass
man Palästinenser*innen nicht den Raum zugesteht, einen Teil ihrer
Geschichte kollektiv zu betrauern. Sobald Palästinenser*innen in
irgendeiner Form sichtbar werden, werden sie zu staatsfeindlichen
Subjekten, die angeblich die öffentliche Ordnung bedrohen, oder gar zu
antisemitischen Subjekten gemacht.
Meinen Sie, dass Opfer und Täter klar feststehen?
Israel wird mit dem Judentum gleichgesetzt und Israel-kritische Positionen
und palästinensische Stimmen werden mit Antisemitismus gleichsetzt.
Palästinensische Gewalterfahrung wird nicht nur systematisch unsichtbar
gemacht, sie wird durch die Opfer-Täter-Dichotomie immer wieder legitimiert
– durch Medien und den Staat.
Was müsste sich ändern, um den Erfahrungen von Palästinenser*innen
mehr Raum zu geben?
Der Diskurs über die Gewalt an Palästinenser*innen müsste verändert
werden. Begriffe wie Apartheid oder ethnische Säuberung sollten kein Tabu
sein.
Diese Begriffe werden in Bezug auf Israel als antisemitisch gesehen.
Diese Wörter werden immer dargestellt, als relativierten sie die Schoa. Sie
werden als Konkurrenz empfunden. Dadurch wird eine Anerkennung
systematischer Gewalterfahrungen anderer Völker unmöglich gemacht. Auch der
koloniale Rassismus und der strukturelle Rassismus Deutschlands und Europas
werden ausgeblendet.
Die große Angst ist, dass die Schoa und die historische Schuld Deutschlands
in Vergessenheit geraten.
Habe ich gesagt, man soll das vergessen? Die Palästinenser*innen
begreifen die Nakba als Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung, die
bis heute andauert. Wenn man das anerkennt, wird das gleich als Angriff auf
die Katastrophalität der Schoa gesehen. Da muss die deutsche Gesellschaft
ihre Arbeit machen: dass man über die Nakba sprechen kann, ohne dass das
gleich als Antisemitismus gilt.
Was macht die diskursive Gewalt mit den Palästinenser*innen in
Deutschland?
Die Nichtanerkennung ihrer Vertreibungserfahrungen hat die erste
Migrationsgeneration zutiefst marginalisiert. Ich habe mit
Palästinenser*innen verschiedener Migrationszeiten gesprochen: jenen,
die im Zuge der Studien- und Arbeitsmigration in den 60er Jahren nach
Deutschland kamen, und denjenigen, die im Kontext des libanesischen Kriegs
aus den Flüchtlingslagern in den 80er Jahren nach Deutschland geflohen
sind.
Die Palästinenser*innen, die in den 1960er Jahren kamen, haben 1947/48 als
Kinder die Massenvertreibungen von 800.000 bis 900.000
Palästinenser*innen selbst erlebt. Die Nakba wurde lange im
palästinensischen kollektiven Gedächtnis tabuisiert – weil man sich mit
diesem hegemonialen Narrativ identifiziert hat, dass die
Palästinenser*innen freiwillig gegangen seien, dass die Nakba nur ein
Nebeneffekt des Krieges gewesen sei.
Für viele war die eigene Vertreibung und/oder die Vertreibung der Eltern
daher mit Scham besetzt. Ausgerechnet diese Generation durfte im Zuge der
Besetzung des Gazastreifens, der Westbank und Ostjerusalems durch Israel
1967 nicht mehr zurückkehren. Weil Israel am Anfang der Besatzung alle, die
nicht zu Hause waren, als abwesend ins Zivilregister eingetragen hat. Das
war eine indirekte Vertreibung. Sie waren gezwungen, in Deutschland zu
bleiben, ohne dass ihre multiplen Vertreibungserfahrungen von der
Gesellschaft, in der sie lebten, gesehen wurden. Daraus folgten Melancholie
und Isolation. Sie haben sich aus der Gesellschaft und aus der Familie
zurückgezogen und verneinen sich oft selbst.
Bei den Palästinenser*innen, die aufgrund der Vertreibungen von 1947/48
meist in den libanesischen Flüchtlingslagern geboren und aufgewachsen und
in den 80er Jahren aus dem Libanon geflohen sind, kam eine sozioökonomische
Marginalisierung hinzu. Deutschland hat sie nicht als Geflüchtete
anerkannt, und der Libanon nahm sie nicht zurück, aufgrund ihrer
offiziellen Staatenlosigkeit. Dies endete in jahrelangen Kettenduldungen.
Und wie hat sich das auf die zweite Migrationsgeneration ausgewirkt?
Um dem Schmerz zu entgehen, kriminalisiert, statt gesehen zu werden, haben
viele ihren Kindern gesagt: Sagt nicht, woher ihr kommt. Sie haben quasi
ein Doppelleben geführt, bei dem sie nur privat das Palästinensischsein für
sich bewahrt haban.
Es gibt 200.000 Palästinenser*innen in Deutschland. Wo sind ihre
Stimmen im derzeitigen Diskurs?
Es wird schon lauter, es sind ganz viele [3][auf den Demos]. Unsere
Elterngeneration wollte noch Anerkennung von der Mehrheitsgesellschaft.
Jetzt lässt man sich die Gewalterfahrung nicht mehr absprechen.
Fühlen Palästinenser*innen einen starken Druck, die Öffentlichkeit
auf das Leid ihres Volkes aufmerksam zu machen?
Ich spreche jetzt von mir: Das ist so eine Art von Überlebensschuld oder
Bringschuld, weil man nicht in Gaza ist. Meine Tante und Familie dort
machen keinen Druck. Alleine, wenn sie mit mir sprechen und ich ihre Angst
spüre, bringt mich das in eine Schuld. Der Kampf um Leben und Tod in Gaza,
der war auch mit den Militäroffensiven 2014 oder 2021 existent, das kann
ich nicht ausblenden. Dieses bedrückende Gefühl war die letzten Jahre immer
da.
Gibt es Angst, sich öffentlich zu äußern?
Ja, wir haben es mit Tabus zu tun: Siedlerkolonialismus, Vertreibung,
ethnische Säuberung, Apartheid. Wenn man über die eigene Erfahrung sprechen
möchte, braucht man aber Wörter, mit denen man sich identifiziert. Man
weiß, welche Begriffe außerhalb der Norm anzusiedeln sind, und hat das
internalisiert. Um im sagbaren Raum zu sein, müsste man das vorherrschende
Konfliktnarrativ reproduzieren und sich selbst die Erfahrung absprechen.
Man hat nicht das Gefühl, dass die Gesellschaft einem mit Wohlwollen
gegenübersteht und es wirklich darum geht zu verstehen.
Sie sagen, die Deutschen wollen korrekt sein im Diskurs. Warum wird das von
Palästinenser*innen als grausam erfahren?
Für mich ist diese Korrektheit eher Feigheit. Es ist eine Weigerung, sich
mit der Realität auseinanderzusetzen, der eigenen Befindlichkeit zuliebe.
Aber dafür bezahlen Palästinenser*innen den Preis. Wenn der Diskurs
sich nicht ändert, wird die systematische Gewalt gegen sie weitergehen.
Also wenn es einen weniger schuld- und schambesetzten Diskurs seitens der
Deutschen gäbe, hieße das nicht, dass Gewalterfahrungen abgesprochen
würden. Sondern, dass eine Debatte auf Augenhöhe geschaffen werden könnte?
Wenn die Nakba und die Gewalterfahrungen der Palästinenser*innen
anerkannt werden und Palästinenser*innen auch Betroffene sein können
– ohne, dass das gleich bedeutet, das Leid der Jüd*innen zu relativieren,
ja! Niemanden meiner palästinensischen Bekannten würde ich als
antisemitisch bezeichnen. Antisemitismus ist strukturell. Den findet man
auch bei Deutschen, die explizit mit Israel solidarisch sind.
Gewalterfahrungen existieren nebeneinander und ein Sprechen darüber muss
möglich sein. Wenn man von Schuld spricht, müsste man auch sagen: Unser
Nationalsozialismus hat zur Schoa und auch zur Nakba geführt.
Also nicht „Free Palestine From German Guilt“, sondern eine Erweiterung der
deutschen Schuld auch auf die Nakba und eine Verpflichtung, sie ins
kollektive Gedächtnis aufzunehmen?
Ich glaube, der Spruch ist polemisch gemeint. Aber genau. Verantwortung
wäre vielleicht das bessere Wort. Eine erneuerte Form, Verantwortung für
die eigene Geschichte zu übernehmen. Sonst macht man sich zum Opfer der
Schuld.
27 Nov 2023
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## AUTOREN
Julia Neumann
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