| # taz.de -- Coming-of-Age-Film „Elaha“: Furchtlos in die Hochzeitsnacht | |
| > Die Regisseurin Milena Aboyan erzählt in „Elaha“ vom Kampf einer jungen | |
| > Kurdin für Selbstbestimmung. Das gelingt mit einer beeindruckenden | |
| > Intensität. | |
| Bild: Das weiße Kleid droht für Elaha (Bayan Layla) zum Korsett zu werden | |
| Eine junge Frau tanzt mit fröhlicher Ausgelassenheit bei einer | |
| Familienfeier. Doch schon nach wenigen Sekunden wird sie von ihrer jüngeren | |
| Schwester von der Tanzfläche gezogen und zu einem Tisch geführt, an dem | |
| ihre Mutter ihr befiehlt: „Nimm dich zurück!“ So lernen wir die | |
| Protagonistin und Titelheldin des Films „Elaha“ kennen, und so unbeschwert | |
| wie in diesen ersten Bildern des Films wird sie in dessen 110 Minuten nie | |
| wieder sein, denn als nächste Feierlichkeit ist ihre Hochzeit geplant, und | |
| Elaha ist keine Jungfrau mehr. | |
| Da Elaha zu einer Kurdenfamilie gehört, ist dies ein großes Problem, das | |
| sie unbedingt geheim halten muss. Denn in den Augen der anderen ist die | |
| 22-Jährige entweder „ein gutes Mädchen“ oder eine „Schlampe“, und eine | |
| solche würde ihr Verlobter, ein stolzer Jungunternehmer, wohl nicht mehr | |
| heiraten, und damit wäre Elahas Familie [1][entehrt]. | |
| Milena Aboyan erzählt in ihrem Abschlussfilm an der Filmakademie | |
| Baden-Württemberg von einer jungen Frau, die um das Recht kämpft, selbst | |
| über ihren Körper zu bestimmen. Bemerkenswert daran ist, dass sie dies aus | |
| einer Innensicht heraus tun kann. Als jesidische Kurdin, in Armenien | |
| geboren, kennt die Filmemacherin das Milieu, in dem „Elaha“ spielt. | |
| Das sorgt dafür, dass es in ihrem Film auch keine einfachen | |
| Schuldzuweisungen und keine Klischees gibt. Stattdessen zeigt sie mit einem | |
| genauen Auge für Details die Lebenswelt von Elahas Familie. Sie sind Teil | |
| einer festgefügten kurdischen Gemeinde, die nur wenig Berührungspunkte mit | |
| der deutschen Gesellschaft hat. Die Familie lebt in prekären Verhältnissen | |
| und Elaha arbeitet als Aushilfskraft in einer Textilreinigung. | |
| So treten in diesem Film kaum sogenannte Biodeutsche auf. Stattdessen | |
| werden sowohl die Lehrerin in Elahas Fortbildungskurs als auch eine Ärztin, | |
| die beide Elaha unter ihre Fittiche nehmen, von Schwarzen Frauen | |
| verkörpert. Auf diese Weise umgeht Aboyan elegant das sonst wohl | |
| unvermeidliche Thema des [2][alltäglichen Rassismus]. | |
| Stattdessen konzentriert sie sich ganz darauf, die Geschichte von Elahas | |
| Selbstermächtigung zu erzählen. Diese erweist sich dabei auch als eine der | |
| im Medium Film so beliebten Coming-of-Age-Geschichten, die allerdings | |
| dadurch mehr Dringlichkeit als sonst in diesem Genre üblich gewinnt, dass | |
| Elaha ihren Kampf um Selbstbestimmung auch direkt mit ihrem eigenen Körper | |
| austrägt. | |
| Milena Aboyan hat ihren Film mit einer in einigen Szenen schockierenden | |
| Körperlichkeit inszeniert. So gibt es etwa in einer kurzen Sequenz | |
| Nahaufnahmen von [3][einer Operation, bei der das Hymen einer Frau | |
| „restauriert“ wird]. In einer Sequenz greift Elahas Verlobter ihr auf | |
| offener Straße in die Hose und riecht an seinen Fingern, um zu überprüfen, | |
| ob sie gerade Geschlechtsverkehr hatte. | |
| Diese Grenzüberschreitung ist einer der Schlüsselmomente des Films, aber es | |
| gibt auch andere Sequenzen, in denen eher beiläufig deutlich wird, wie | |
| fremdbestimmt das Dasein der Protagonistin in der engen Wohnung ist. In der | |
| lebt sie zusammen mit ihren Eltern, ihrer Schwester und einem | |
| gehbehinderten kleinen Bruder. Sie hat dort beispielsweise so gut wie keine | |
| Privatsphäre. Sogar wenn sie sich auf die Toilette zurückzieht, vertreibt | |
| ihre Schwester sie durch Drängeln bald von diesem einzigen Rückzugsort. | |
| „Elaha“ ist einer von den wenigen Filmen, bei denen es gelingt, konsequent | |
| und glaubwürdig aus einer einzigen Perspektive, also in der filmischen | |
| „Ich-Form“ zu erzählen. Die Kamera folgt in jeder Einstellung der | |
| Protagonistin. Die Schauspielerin Bayan Layla ist gebürtige Syrerin und | |
| musste für den Film lernen, Kurdisch zu sprechen. | |
| Sie verkörpert Elaha mit einer beeindruckenden Intensität und | |
| Furchtlosigkeit. Anders als in islamischen Kulturen kennt das | |
| [4][Jesidentum] kein Bilderverbot und so scheut sich Milena Aboyan nicht, | |
| auch intime Bilder von Elahas Körper zu zeigen, ohne dabei je voyeuristisch | |
| zu wirken. | |
| Auch sonst zeigt die junge Regisseurin, wie souverän sie sich in der | |
| Filmsprache ausdrücken kann. So ist die erste Einstellung des Films eine | |
| minutenlangen Plansequenz, also eine lange, ungeschnittene Einstellung, in | |
| der mit musikalischem Schwung Elaha, ihre Familie, ihr Verlobter, ihre | |
| Freundinnen und das Milieu, in dem sie lebt, vorgestellt werden. | |
| Am Ende des Films gibt es dann eine Einstellung, in der Elaha direkt in die | |
| Kamera blickt, also die vierte Wand durchbricht und so das Publikum direkt | |
| anspricht. Auch dieses Stilmittel ist stimmig eingesetzt, denn im Laufe des | |
| Films haben die Zuschauer*innen miterlebt, wie diese junge Frau lernt, | |
| sich in ihrer Welt zu behaupten und warum sie immer noch sagen kann: „Ich | |
| liebe meine Familie und meine Tradition. Ich bin nur manchmal nicht mit | |
| ihren Regeln einverstanden.“ | |
| 23 Nov 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Wilfried Hippen | |
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