| # taz.de -- Filmrezension „Nur eine Frau“: Nicht nur ein Mord | |
| > „Nur eine Frau“ erzählt die Geschichte von Hatun Aynur Sürücü, die 20… | |
| > in Berlin von ihrem Bruder erschossen wurde, der die „Familienehre“ | |
| > wiederherstellen wollte | |
| Bild: Gedenken an Hatun Aynur Sürücü im Jahr 2013 | |
| Der Film beginnt mit Aufnahmen von jungen Frauen, die am Kottbusser Tor in | |
| Berlin unterwegs sind. Vielleicht gehen sie in die Schule, vielleicht | |
| treffen sie sich mit Freunden oder sie sind auf dem Nachhauseweg. Eine | |
| Frauenstimme aus dem Off kommentiert jede von ihnen mit: „Das könnte ich | |
| sein“. Dann sieht man Aufnahmen, deren Qualität verrät, dass sie älter | |
| sind: Polizisten stehen auf dem Gehweg vor einem Gebüsch, sie stehen um | |
| eine Leiche, die bedeckt ist mit einem weißem Tuch. „Das bin ich“, sagt die | |
| Stimme, „Ich bin ein Ehrenmord“. | |
| In „Nur eine Frau“ erzählt Hatun Aynur Sürücü ihre Geschichte selbst. S… | |
| wurde am 7. Februar 2005 an einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof in der | |
| Nähe ihrer Wohnung erschossen, von ihrem eigenen Bruder. Der damals | |
| 19-Jährige fragte sie erst, ob sie ihre Sünden bereue, dann schoss er ihr | |
| drei Mal in den Kopf. Die Moderatorin Sandra Maischberger produzierte den | |
| Spielfilm, für die Regie suchte sich sich Sherry Hoffmann aus, die für | |
| thematisch ähnliche Filme bekannt ist: In „Wüstenblume“ zeichnet Hoffmann | |
| den Weg von Waris Dirie nach, die in Somalia vor einer Zwangsheirat flieht | |
| und in London zum Starmodel wird, „3096 Tage“ ist ein Film über Natascha | |
| Kampusch, die entführt und acht Jahre lang in einem Keller festgehalten | |
| wird. | |
| Die Bilder vom Tatort bleiben nicht die einzigen Originalaufnahmen in „Nur | |
| eine Frau“. Immer wieder speisen die Macherinnen Videoaufnahmen und Fotos | |
| von Hatun Sürücü ein, die sich im Film konsequent Aynur nennt: mit ihrem | |
| Sohn, mit ihrem deutschen Freund, in ihrer Berufskleidung, einem blauen | |
| Arbeitsanzug. Die Schauspielern Almila Bağrıaçık, bekannt aus der Berliner | |
| Gangster-Serie „4 Blocks“ (2017), sieht der Ermordeten, die sie spielt, zum | |
| Verwechseln ähnlich. Nicht nur deshalb führt sie überzeugend durch die | |
| Stadien der familiären und kulturellen Entfremdung. | |
| Aynur Sürücüs Eltern sind konservative sunnitische Kurden. Sie verheiraten | |
| ihre Tochter mit einem Cousin in der Türkei. Der schlägt sie. Hochschwanger | |
| kommt Aynur zurück nach Berlin. Als ihre Mutter sie im Treppenhaus der | |
| Wohnung am Kottbusser Damm sieht, bemüht sie sich darum, ihre Enttäuschung | |
| zu verbergen. Schon bald gibt sie sich keine Mühe mehr. Ihre Brüder rasten | |
| bei ihrem Anblick aus. Die Familie versucht Aynur zur Rückkehr zu bewegen, | |
| sie sagt, sie kann nicht. Sie versuchen es weiter. Sie bleibt. | |
| ## Der patriarchale Abgrund verdichtet sich in einzelnen Szenen | |
| Aber das Leben in der Familie, nun mit eigenem Kind, wird für Aynur | |
| unerträglich: psychischer Terror der Brüder, die Ignoranz ihres Vaters, die | |
| Bevormundung ihrer Mutter, der ständige Hinweis auf ihr Dasein als Schande. | |
| Aynur wagt den radikalen Schritt: Mit amtlicher Hilfe kommt sie in einem | |
| Heim unter, später in einer eigenen Wohnung. Sie beginnt eine Ausbildung | |
| als Elektroinstallateurin. Sie zieht ihr Kind auf. Sie verliebt sich. Sie | |
| ist traurig über den Verlust ihrer Familie, sie hat vier jüngere Schwestern | |
| zurückgelassen. Aber sie bleibt tapfer. Sie schafft das alles irgendwie. | |
| Wären da nicht ihre Brüder, die sie immerzu mit Anrufen terrorisieren. | |
| Brüder, in deren Augen sie mit dem Auszug die Familienehre endgültig | |
| verspielt hat, die in die Moschee gehen und dort aufschnappen, was zu tun | |
| ist, die den Jüngsten darauf vorbereiten. | |
| „Nur eine Frau“ ist erschreckend, wenn sich der patriarchale Abgrund in | |
| einzelnen Szenen verdichtet: Wenn Aynurs Mutter sie vor der Hochzeit darauf | |
| einschwört, ihrem Mann zu gehorchen, ihn glücklich zu machen, komme, was | |
| wolle. Und ihr dann eine Rasierklinge unter den Rock bindet, mit dem sie | |
| sich selbst verletzen solle, damit sie ihre „Entjungferung“ markieren kann, | |
| falls der Bräutigam keine Erektion bekommt. Oder wenn Aynur mit ihrem Kind | |
| keinen ruhigen Platz in der Wohnung der Familie findet, deshalb in der | |
| Besenkammer schläft, und einer ihrer Brüder sie dort sexuell missbraucht. | |
| Die Macherinnen haben den Anspruch, sich bei ihrer Erzählung nahe am | |
| Überlieferten des Falls Sürücü fortzubewegen. Das tun sie möglicherweise | |
| auf Kosten der Eindimensionalität, mit der sie dem System Patriarchat | |
| begegnen. Frauenmorde sind die Konsequenz eines solchen Systems, einer | |
| gesellschaftlichen Struktur, genährt und legitimiert durch eine Ideologie. | |
| Sie sind keine individuell verhandelbaren Verbrechen. | |
| In dieser Geschichte bahnt sich der Mord an Sürücü jedoch ausschließlich | |
| innerhalb der vier familiären Wände an. Das Systematische kommt nicht in | |
| den Blick. Was man kaum erfährt: In welchem gesellschaftlichen Milieu | |
| bewegt sich die Familie? Wie werden Frauen- und Männerbilder dort | |
| verhandelt? Wie funktioniert die misogyne Ideologie, weshalb ist sie in | |
| dieser Familie so wasserdicht? | |
| ## Ein Denkmal für Hatun Aynur Sürücü | |
| Diese Fragen werden angerissen, etwa mit kurzen Sequenzen von | |
| Moscheebesuchen der Brüder, aber ihnen wird nicht konsequent nachgegangen. | |
| Die Unterkomplexität weist wiederum auf ein Ungleichgewicht in deutschen | |
| Filmen und Medien hin: Weiße Täter werden psychologisiert, während | |
| migrantische Täter schablonenhaft bleiben. Ermordet ein weißer Täter eine | |
| Frau, ist oft die Rede von [1][„Beziehungstat“ oder „Familientragödie“… | |
| während bei migrantischen Tätern alles mit dem Wort „Ehrenmord“ erklärt | |
| scheint. | |
| Der Film „Nur eine Frau“ ist trotzdem wichtig für Deutschland. Denn er | |
| setzt ein Denkmal für Hatun Aynur Sürücü. | |
| Ayhan Sürücü wurde zu neun Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Nach | |
| seiner Haft wurde er in die Türkei abgeschoben. Seine beiden mitangeklagten | |
| älteren Brüder, Mutlu und Alpaslan Sürücü, wurden im April 2006 wegen | |
| fehlender Beweise freigesprochen. Im August 2007 wurden die Freisprüche | |
| jedoch vom Bundesgerichtshof kassiert. Die Männer hatten sich zu diesem | |
| Zeitpunkt in die Türkei abgesetzt. Im Januar 2016 machte ihnen dann ein | |
| türkisches Gericht den Prozess. Auch in der Türkei wurden sie | |
| freigesprochen. | |
| 16 May 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Volkan Ağar | |
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