# taz.de -- Jahrestag Ermordung Hatun Sürücü: Besser tot als frei | |
> Die meisten Frauen werden hierzulande von Deutschen ohne | |
> Migrationshintergrund umgebracht. Die Öffentlichkeit verdrängt diese | |
> Tatsache gern. | |
Bild: 10. Jahrestag des Mordes: Gedenken an Hatun Sürücü | |
Deutschland, 2005: Die Berlinerin Hatun Sürücü ist noch minderjährig, als | |
sie zwangsverheiratet wird. Sie verlässt ihren Mann, absolviert eine | |
Ausbildung und baut sich mit ihrem Sohn eine eigene Existenz auf. Sie hat | |
einen deutschen Freund; im Februar 2005 steht sie kurz vor ihrer | |
Gesellenprüfung. In der Nähe ihrer Wohnung im Stadtteil Tempelhof | |
[1][schießt einer ihrer Brüder ihr am Abend des 7. Februar drei Mal ins | |
Gesicht]. Hatun Sürücü stirbt im Alter von 23 Jahren auf dem Bürgersteig | |
vor einer Bushaltestelle. | |
Eine Debatte um Zwangsverheiratungen, Geschlechterrollen in muslimischen | |
Familien und sogenannte Ehrenmorde kocht hoch – also die Tötung von meist | |
weiblichen Familienmitgliedern, um eine vermeintliche Schande von der | |
Familie abzuwenden. Der Begriff „Ehrenmord“ macht Stimmung, er dämonisiert | |
eine religiöse und ethnische Minderheit, die offenbar archaische Praktiken | |
nutzt. Für die Deutschen aber ist er bequem: Er ermöglicht es, sich selbst | |
als Frauenrechtler:innen zu gerieren. Und er weist das Problem, dass | |
Männer Frauen umbringen, anderen zu. | |
Deutschland, 2018: [2][Ein Mann bringt seine Frau in Bad Peterstal mit 32 | |
Messerstichen um] – der Fall spielt in überregionalen Medien keine Rolle. | |
[3][Ein Mann ersticht seine Frau im gemeinsamen Keller in Laichingen] – der | |
Skandal bleibt aus. [4][Ein Mann tötet seine Frau in Mühlacker] und erklärt | |
danach, die Tat sei als Nachricht an alle Frauen zu verstehen, die ihre | |
Männer rausschmeißen – der Fall wird nicht im kollektiven Gedächtnis haften | |
bleiben. | |
Die Zeit berichtete jüngst über diese Fälle, die Nationalität der Täter | |
nannte sie nicht. Aber Tötungen wie diese, weil Frauen sich von ihren | |
Männern trennen wollen oder getrennt haben, machen den weitaus größten Teil | |
von Frauenmorden in Deutschland aus. Die weitaus meisten Täter sind | |
Deutsche. Doch das Ausmaß dieser Gewalt ist im öffentlichen Bewusstsein | |
nicht verankert. | |
## Jeden Tag ein versuchter Mord an eine Frau | |
Deutsche töten ihre Frauen häufig. Zwar sollte es nach Hatun Sürücüs Tod | |
noch mehr als zehn Jahre dauern, bis das Bundeskriminalamt zum ersten Mal | |
Zahlen zu Gewalt in Partnerschaften veröffentlicht. Doch seitdem bewegen | |
sich diese auf gleichbleibend hohem Niveau: jeden Tag versucht ein Mann in | |
Deutschland seine Frau umzubringen, jeden dritten Tag schafft er es. Eine | |
Studie im Auftrag des BKA schätzt hingegen die mögliche Gesamtzahl von | |
Ehrenmorden in Deutschland auf etwa zwölf pro Jahr. Die Berichterstattung, | |
das Framing und sogar das juristische Urteil über die Taten aber klaffen | |
weit auseinander. | |
Anders als beim „Ehrenmord“ verschleiern Begriffe wie „Familientragödie�… | |
oder „Beziehungsdrama“, dass es hier um Mord geht. Und in der deutschen | |
Justiz werden Frauenmorde in deutschen Kontexten nicht nur unkenntlich | |
gemacht, sondern systematisch entschuldigt: „Ehrenmorde“ werden härter | |
bestraft als andere Tötungen von Partner:innen. | |
Bei „Ehrenmördern“ wird nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs seit dem | |
Jahr 2002 in der Mehrheit „Mord aus niedrigen Beweggründen“ angenommen. | |
Anders bei der Tötung von Partner:innen in deutschen Kontexten: 2008 | |
entschied ebenfalls der Bundesgerichtshof, dass ein niederer Beweggrund als | |
Mordmerkmal anzuzweifeln sei, wenn ein Mann eine Frau wegen einer Trennung | |
tötet. Wenn die „Trennung vom Tatopfer ausgeht“, so der BGH, beraube sich | |
der Angeklagte durch die Tat dessen, „was er eigentlich nicht verlieren | |
will“. Anders als gegenüber „Ehrenmördern“ zeigt die Justiz gegenüber | |
Deutschen, die ihre Frauen töten, also Verständnis. Besser tot als frei. | |
Dass die deutsche Gesellschaft das gern verdrängt, zeigt sich auch daran, | |
dass sie einen Begriff nicht nutzt, der in einigen anderen Ländern durchaus | |
eingeführt ist: Femizid. Femizide sind Morde an Mädchen und Frauen, die vor | |
dem Hintergrund männlicher Dominanz umgebracht werden. Ein Vorteil des | |
Begriffs „Femizid“: Er macht Frauenmorde als Phänomen sichtbar, das | |
jenseits kultureller Kontexte existiert. Und er legt das patriarchale | |
Muster hinter den Taten offen. Hexenverbrennungen waren Femizide. | |
Ehrenmorde sind Femizide. Mitgiftmorde sind Femizide. Die Tötungen von | |
Sexarbeiterinnen sind Femizide. Die Morde in Ciudad Juárez sind Femizide. | |
Trennungstötungen sind Femizide. | |
In der feministischen Debatte ist der Begriff längst angekommen. Und auch | |
im medialen Mainstream ändert sich hierzulande langsam etwas: Im November | |
etwa gab die Nachrichtenagentur dpa bekannt, fortan nicht mehr | |
verharmlosend über „Beziehungsdramen“ berichten zu wollen. Die Linkspartei | |
und der Deutsche Juristinnenbund fordern, die deutsche Justiz müsse | |
Trennungstötungen „gemäß ihrem Unrechtsgehalt“ bestrafen – also ohne | |
Eifersucht und Eigentumsansprüche des Täters gegenüber „seiner“ Frau als | |
strafmildernden Grund anzunehmen. | |
Auch wenn es diesen Forderungen bislang nicht nachkommt, ist Deutschland | |
dazu sogar verpflichtet: 2018 trat die Istanbul-Konvention in Kraft, das | |
Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen | |
Frauen. Die schreibt die Anwendung des deutschen Strafrechts vor, ohne dass | |
die Beziehung von Täter und Opfer strafmildernd eine Rolle spielt. Im | |
Gegenteil: Als erschwerend könne berücksichtigt werden, so die Konvention, | |
wenn die Tat durch den aktuellen oder ehemaligen Partner begangen wurde. | |
Es tut sich etwas – und doch ist zu befürchten, dass es noch lange dauern | |
wird, bis mediale, gesellschaftliche und juristische Ungleichbehandlungen | |
aufgelöst und Femizide als das benannt und beurteilt werden, was sie sind: | |
Morde an Frauen, weil sie Frauen sind. Erst damit aber wird klar, dass es | |
nicht nur um die anderen geht, sondern um uns. Egal, woher sie kommen oder | |
woher ihre Familien stammen: Bei Femiziden sterben immer Frauen. | |
7 Feb 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Istanbuler-Prozess-um-Familienehre/!5417088 | |
[2] https://www.stadtanzeiger-ortenau.de/bad-peterstal-griesbach/c-polizei/heim… | |
[3] https://www.swp.de/suedwesten/staedte/ulm/mord-in-laichingen-suppingen-mutt… | |
[4] https://bnn.de/nachrichten/suedwestecho/lebenslange-haft-fuer-mord-in-muehl… | |
## AUTOREN | |
Patricia Hecht | |
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