# taz.de -- Kommentar Sürücü-Urteil: Schaler Nachgeschmack | |
> Nun sind Hatun Sürücüs ältere Brüder in Istanbul aus Mangel an Beweisen | |
> freigesprochen worden. Das ist irritierend. | |
Bild: Gedenken an Hatun Sürücü 2013 in Berlin | |
Freispruch. Für die beiden Männer, die wegen Beihilfe zum Mord an ihrer | |
Schwester Hatun Sürücü angeklagt worden waren. Das Gericht für schwere | |
Straftaten in Instanbul [1][kam vor wenigen Tagen] zu dem Ergebnis, dass | |
für den Vorwurf „nicht genügend eindeutige und glaubhafte, klare Beweise | |
gefunden werden“ konnten. Die Staatsanwaltschaft in der türkischen | |
Metropole hatte für Mutlu und Alpaslan Sürücü, die im Februar 2005, als der | |
jüngste Bruder Ayhan der Schwester auf offener Straße drei Mal in den Kopf | |
geschossen hatte, lebenslange Haft gefordert. | |
Man liest diese Meldung und denkt: Wie kann das sein? Wie kann ein Gericht | |
so blind sein? So frauenverachtend? Hatun Sürücü, deren Fall 2005 für | |
heftige Schlagzeilen gesorgt hatte und bis heute als Symbol für sogenannte | |
„Ehrenmorde“ gilt, wurde getötet, weil ihr „westlicher Lebensstil“ der | |
Familie nicht gefiel. Mit dem Mord an der Schwester sollte der damals | |
19-jährige Bruder Ayhan die Familienehre wieder herstellen. | |
Der zweite Gedanke: In einem Land, dessen Präsident die Todesstrafe wieder | |
einführen will, und das grundlos JournalistInnen, JuristInnen, LehrerInnen | |
verhaften lässt und mundtot machen will, wundert das nicht. Was zählt in | |
einem solchen Land schon Freiheit? Wie viel wichtiger dagegen scheinen dort | |
Werte wie Tradition, Unterwerfung, Unterdrückung zu sein? Mit Folgen, die | |
Menschen zerstören, ohne dass man diese einsperren und foltern muss: Angst, | |
Verunsicherung, Anpassung, Schweigen, Wegsehen. | |
## Leben, wie sie wollte | |
Hatun Sürücü wollte nichts anderes, als so zu leben, wie sie leben wollte. | |
Ohne einen gewalttätigen Ehemann, ein Cousin, mit dem sie zwangsverheiratet | |
wurde. Sie wollte lernen und einen Abschluss machen, nachdem ihr Vater sie | |
in der 8. Klasse vom Gymnasium abgemeldet hatte. Sie wollte ihren kleinen | |
Sohn allein groß ziehen, zunächst in einem Wohnheim für minderjährige | |
Mütter. Sie wollte kein Kopftuch mehr tragen. Wünsche, die in ihrer aus | |
Ostanatolien stammenden Familie auf massiven Widerstand trafen. Deshalb | |
musste Hatun Sürücü sterben. | |
Morde, die angeblich die Ehre der Familie wieder herstellen sollen, sind | |
eine besonders perfide und krasse Form von häuslicher Gewalt – und | |
Straftaten. Dafür dürfe hier niemand „mit Verständnis rechnen“, sagt | |
Kriminologin Julia Kasselt. Zwischen 1996 und 2005 wurden in Deutschland | |
Täter sogenannter Ehrenmorde in 38 Prozent der Fälle mit lebenslanger Haft | |
bestraft. | |
Und nun sind Hatun Sürücüs ältere Brüder freigesprochen worden. | |
Irritierend. Um das Istanbuler Urteil wenigstens annähernd zu verstehen, | |
muss man sich noch einmal über den Fall Sürücü beugen. | |
Alle drei Männer – Ayhan, Mutlu und Alpaslan- standen 2006 in Berlin vor | |
Gericht. Aber während Ayhan, dem jüngsten Bruder, die Tat zweifelsfrei | |
nachgewiesen werden konnte, musste das Berliner Landgericht die älteren | |
Brüder Mutlu und Alpaslan vom Vorwurf der Mittäterschaft freisprechen – aus | |
Mangel an Beweisen. Sie hatten unter anderem behauptet, erst nach der | |
Tötung der Schwester von der Tat erfahren zu haben. | |
Ayhan aber beschied das Landgericht eine „Tötungsabsicht“, weil er aus | |
nächster Nähe auf seine Schwester schoss. Dafür bekam eine Jugendstraße von | |
9 Jahren und 3 Monaten, die er inzwischen verbüßt hat. | |
Später hatte der Bundesgerichtshof (BGH) die Freisprüche der älteren Brüder | |
jedoch aufgehoben. Die Richter beanstandeten, dass das Berliner Landgericht | |
Aussagen der Freundin des verurteilten Täters nicht ausreichend beachtet | |
hatte. Sie bescheinigten dem Gericht mangelndes „Bemühen um Gründlichkeit“ | |
bei einer „heiklen“ und „besonders komplizierten“ Beweislage. | |
## In die Türkei abgesetzt | |
Da die Brüder sich mittlerweile in die Türkei abgesetzt hatten und die | |
türkischen Behörden sich weigerten, die beiden Männer auszuliefern, musste | |
der Fall 2008 in Berlin eingestellt werden. | |
Aber dann wurde er noch einmal aufgerollt, diesmal in der Türkei. | |
Vielleicht hatten manche – sowohl in Deutschland als auch in der Türkei – | |
gehofft, dass diesmal gründlicher ermittelt würde, dass ZeugInnen noch | |
einmal intensiv befragt würden. Dass der Aufsehen erregende Fall ein | |
angemessenes Ende findet. | |
Vielleicht haben die türkischen Behörden alles getan, was möglich ist: | |
gründlich geprüft, Akten von vorn nach hinten gelesen, die beiden | |
mittlerweile 36 und 38 Jahre alten Brüder in die Mangel genommen und auch | |
noch einmal Ayhan, den jüngsten Bruder und Täter. | |
Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass die damalige Zeugin, Ayhans | |
einstige Freundin, die seinerzeit von einer SMS sprach, die Ayhan kurz vor | |
der Tat einem seiner Brüder geschickt haben soll und die Brüder | |
möglicherweise belasten könnte, nicht mehr auffindbar sein soll. Ihre | |
Aussage hätte heute möglicherweise für mehr Aufklärung sorgen können. | |
Es bleibt also beim Mangel an Beweisen – und damit beim Freispruch. So ist | |
das ist in einem Rechtsstaat. Und so ist das auch in der Türkei. Das ist – | |
rein sachlich betrachtet – vollkommen richtig. Niemand darf für eine Tat, | |
die er nicht nachweislich begangen hat, verurteilt werden. Und doch bleibt | |
in diesem Fall ein schaler Nachgeschmack. Ein sehr schaler. | |
2 Jun 2017 | |
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## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
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