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# taz.de -- Die Wahrheit: Eschnapur ist überall
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (182): Der Tiger treibt
> so manche Menschen und ihre philosophischen Gedanken vor sich her.
Bild: Selbst junge Tiger bieten viel Platz für Metaphern etwa über Bettvorleg…
Der Wissenssoziologe Bruno Latour postulierte 2008: „Wir sind nie modern
gewesen.“ Weil wir Objekt und Subjekt, Kultur und Natur, Fakt und Fetisch
nie sauber trennen konnten. Der Tiger steht dafür gerade.
Der Katzenforscher Paul Leyhausen zählte die Tiger zu den „Kleinkatzen“,
weil sie gestreift sind und miauen, statt wie die „Großkatzen“ zu brüllen,
sodass es uns kalt den Rücken runterläuft. Das hat die Kulturschaffenden
jedoch nicht davon abgehalten, in dieser größten Raubkatze eine geeignete
Metapher für die den Menschen gefährliche, aber auch verführerische „Natur…
zu sehen.
Der Dadaist Walter Serner behandelte 1921 dieses vormoderne
„Spannungsverhältnis“ in seinem Roman über eine Verführerin, die er schon
im Titel „Die Tigerin“ nannte. In dem Liebesfilm „Der Tiger von Eschnapur…
(1959) von Fritz Lang fällt ein Tiger eine Tempeltänzerin an, die von einem
deutschen Ingenieur gerettet wird, der den Tiger tötet.
Über die lebenden Tiger äußerten einige Frauen gegenüber dem
Zirkushistoriker Werner Philipp: „Tiger riechen angenehm, ihr Geruch sei
erotisierend.“ Das fand auch die amerikanische Dompteurin Mabel Stark, die
zeitweilig mit 20 Tigern arbeitete. „Tiger mögen nur Menschen, die einen
stärkeren Willen als sie haben“, meinte sie in einem Interview, den Willen
traute sie eher Frauen als Männern zu.
## Tiger im Ehebett
Mit dem von ihr großgezogenen Tiger „Rajah“ lebte sie in ihrem Wohnwagen
zusammen, er schlief auch in ihrem Bett, ebenso wie ihr dritter Ehemann. In
der Manege bestand ihre berühmteste Nummer darin, dass sie den Tigern den
Rücken zukehrte und Rajah sie plötzlich von hinten ansprang, zu Boden warf
und mit ihr rang. Mit der Zeit entwickelte sich daraus bei dem Tiger ein
Paarungsakt. Weil sein Samen auf ihrem schwarzen Lederkostüm unschön
aussah, wechselte sie in ein weißes Kostüm, das sie bis zum Ende ihrer
Karriere 1968 trug.
Der laut seiner ersten Ehefrau „notorische Fremdgeher“ Robin Williams
spielte 2010 am Broadway in dem Stück „Der Bengaltiger im Zoo von Bagdad“
einen „philosophischen Tiger“, der in der irakischen Hauptstadt zwei
US-Marineinfanteristen und einen irakischen Gärtner trifft. 2003 war
bereits ein „philosophischer Roman“ des Kanadiers Yann Martel erschienen:
„Schiffbruch mit Tiger“. Wie auf dem als Gemälde berühmt gewordenen „Fl…
der Medusa“ ging es dabei um einen Schiffbruch, den nur einige Tiere eines
Zoos, darunter ein Tiger, und der junge Icherzähler überleben. Der Tiger
frisst nach und nach alle Tiere auf. Der Junge kann sich auf einem Floß,
das er an das havarierte Schiff bindet, retten. Er fängt Fische und teilt
den Fang mit dem Tiger. Der Tiger versteht, zwar kann er gut schwimmen,
aber nicht angeln. Und so überleben sie beide. An Land wollen Journalisten
dem Icherzähler diese Geschichte aber nicht glauben. Ab da wird es
„philosophisch“.
Mao Tse-tung hat die USA mit ihren Atombomben als „Papiertiger“ bezeichnet,
und Noam Chomsky kürzlich Russland – allerdings mit Fragezeichen. Für beide
war der Tiger eine Metapher. Während der Philosoph Theodor W. Adorno als
regelmäßiger Besucher des Zoos über die dortigen Tiger nachdachte (in:
„Minima Moralia“, 1951): „Der Tiger, der endlos in seinem Käfig auf und …
schreitet, spiegelt negativ durch sein Irresein etwas von Humanität zurück,
nicht aber der hinter dem unüberspringbaren Graben sich tummelnde.“
Solche „Freianlagen“ stellen laut Adorno einen humanitären Fortschritt dar.
Weniger fortschrittlich ist dagegen, dass allein in den nordamerikanischen
„Freianlagen“ mehr Tiger als in wirklicher Freiheit leben. „Verderblich i…
des Tigers Zahn, / Jedoch der schrecklichste der Schrecken, / Das ist der
Mensch in seinem Wahn“, hieß es 1799 in Friedrich Schillers „Lied von der
Glocke“, im Jahr, als Napoleon die Revolution für beendet erklärte.
Die Russische Revolution nahm einen neuen Anlauf. Leo Trotzki schrieb 1924
in „Literatur und Revolution“: „Der sozialistische Mensch will und wird d…
Natur mittels der Maschine beherrschen. Natürlich bedeutet das nicht, dass
der ganze Erdball liniert und eingeteilt sein wird. Es werden bleiben
Dickicht und Waldungen und Auerhähne und Tiger, aber dort, wo der Mensch
ihnen den Platz angewiesen haben wird. Und er wird dies so geschickt
anstellen, dass sogar der Tiger den Hebekran nicht merken und sich nicht
langweilen und so leben wird, wie er in Urzeiten gelebt hat. Die Maschine
ist kein Gegensatz zur Erde. Das Bestreben, die Not, den Hunger, den Mangel
zu besiegen wird eine Reihe von Jahren die herrschende Tendenz sein. Später
wird der Gegensatz von Technik und Natur in einer höheren Synthese seine
Lösung finden.“
Und damit wird man dann den Tigern posthum Gerechtigkeit widerfahren
lassen? Angesichts der aktuellen „Krisen“ kann man mit Walter Benjamin von
einem „Tigersprung in die Geschichte“ sprechen. Insofern als nicht das
Nächstliegendste (Klimawandel, Artenschwund, Armut …) „angesprungen“,
sondern sich erneut in Nationalismus und Rassismus verbissen wird. Im Kern
des „Tigersprungs“ ging es Benjamin 1940 um eine Fortschrittskritik.
## Tiger als Würger
Der Menschenfreund ging dabei tigermäßig nicht so weit wie der Tierfreund
Arthur Schopenhauer, der 1851 in „Parerga und Paralipomena II“ schrieb:
„Der Mensch ist das einzige Tier, welches Andern Schmerz verursacht, ohne
weiteren Zweck, als eben diesen. Die andern Tiere tun es nie anders, als um
ihren Hunger zu befriedigen, oder im Zorn des Kampfes. Wenn dem Tiger
nachgesagt wird, er töte mehr, als er auffresse: so würgt er alles doch nur
in der Absicht, es zu fressen.“
Es gibt eine alte chinesische Redewendung: „Fasse einen Tiger nicht am
Hintern an.“ Die heutige chinesische Regierung „reitet“ gar „auf dem Ti…
(bei ihrer Tibet- und Taiwan-Politik), wie der Philosoph Cajo Kutzbach
meint. Während der Philosoph Peter Reiter eine „neue globale Ökonomie“
visioniert, die er „Den Tiger reiten“ nennt, und der Philosoph Julius Evola
mit seinem Buch „Den Tiger reiten“ eine „Revolte gegen die moderne Welt“
anzetteln will.
Die Metapher stammt in allen Fällen von Friedrich Nietzsche, der im Jahr
1873 in „Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ schrieb: „Verschw…
die Natur dem Menschen nicht das allermeiste, selbst über seinen Körper!“
Aber wer hinter das „Bewusstseinszimmer“ blickt, der ahnt, „dass auf dem
Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der
Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf
dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. Woher, in aller Welt, bei
dieser Konstellation der Trieb zur Wahrheit!“
Dazu heißt es auf der Plattform „uni-stuttgart.de“: „Spätestens seit dem
Einzug des Internets ist klar, dass wir alle auf einem Tiger reiten“.
Meinen die Studenten damit das Apple-Betriebssystem „Mac OS X Tiger“?
20 Nov 2023
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Tiger
Biologie
Philosophie
Katzen
Tiere
Meeresbiologie
Die Wahrheit
Zoologie
Vögel
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