# taz.de -- Die Wahrheit: Perlen aus Wackelpudding | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (181): Die | |
> durchsichtigen Salpen schicken sich an, die neuen Klimaretter zu werden. | |
Bild: Salpen, nicht in den Alpen, sondern im Meer | |
Die Salpen (Salpidae) sind „transparent und völlig harmlos“, schreibt der | |
Ibiza-Kurier. Sie gleiten glashell und durchsichtig in Ketten oder als | |
Einzeltiere durch die Meere und haben ein tonnenförmiges Aussehen. [1][Auf | |
tierlexikon.de heißt es]: Sie sind von „feenhafter Schönheit“, ihr Körper | |
„besteht zum größten Teil aus dem Kiemendarm, durch den hinten schräg die | |
Kiemenspalten verlaufen. Einige Arten werden über 8 cm lang“. | |
Man unterscheidet 70 Arten, die Genetiker werden mit ihren | |
Sequenzierapparaten aber wohl bald noch mehr entdecken. Salpen sind Teil | |
des in den Strömungen der Meere treibenden Planktons und ernähren sich von | |
diesem, manche Arten fressen auch kleine Fische. Vor allem die beiden Arten | |
S. fusiformis und S. democratica treten in tropischen und subtropischen | |
Gewässern mitunter in so großen Mengen auf, dass sie laut Wikipedia „andere | |
planktische Organismen ausschließen“. | |
1975 bedeckte ein Schwarm „daumengroßer Salpinae eine 100.000 | |
Quadratkilometer große Fläche vor New England“, schreibt die | |
US-Wissenschaftsjournalistin Sabrina Imbler in ihrem Buch „So weit das | |
Licht reicht“ (2023). „Wenn man tief genug taucht, trifft man sogar auf | |
welche, die leuchten. An der Küste sehen sie aus wie Perlen aus | |
durchsichtigem Wackelpudding. Aber im Wasser leben sie in pulsierenden | |
Ketten, die sich wie Schlangen bewegen. Diese Ketten bestehen aus hunderten | |
identischer Salpinae, die Hüfte an Hüfte miteinander verbunden sind.“ | |
## Mich gibt es schon | |
Jeder Klon ist ein Individuum, „doch insgesamt bildet die Klonkolonie ein | |
einziges Tier, das sich als Einheit bewegt […]. Für sie steht der Begriff | |
des Selbst im Plural“. Solange sie leben, haben sie bei genügend Nahrung | |
„[2][die schnellsten Wachstumsraten aller Metazoa] [Vielzeller]“, schreibt | |
spektrum.de. „So kann der Körper innerhalb einer Stunde um 10 Prozent | |
länger werden, das Gewicht kann sich innerhalb von 24 Stunden verdoppeln. | |
Bei günstigen Ernährungsverhältnissen können die Salpen Schwärme von über | |
100 km Länge bilden“, bestehend aus einzelnen Ketten, die eine Art | |
Unterwasser-Polonaise veranstalten. Sie werden nicht nur von der Strömung | |
getrieben, durch Kontraktion ihrer Muskelbänder drücken sie das Wasser, | |
„das durch die Mundöffnung in den Kiemendarm hereinströmt, durch das | |
hintere Ende des Körpers aus, so dass sich das Tier mit einer Art | |
Düsenantrieb vorwärts bewegt“. Doch nicht koordiniert, sondern jedes wie es | |
will, trotzdem kommt die Kette voran. | |
Imbler entdeckte sie am Ufer des Jacob Riis Beach von New York an einem | |
Abschnitt, der seit den Dreißigerjahren mehrheitlich von Schwulen und | |
Lesben benutzt wird, worüber sie, die selbst lesbisch ist, ebenfalls | |
ausführlich berichtet. So spricht ihr Buch die Meerestier- und | |
Homosexualitätsinteressierten gleichermaßen an. Über die Salpidae dort | |
schreibt sie: „Ich konnte die Kügelchen fühlen, wenn ich durchs Wasser | |
watete […]. Hinter mir zogen sich die Klümpchen sofort wieder zu einem | |
wässrigen Schwarm zusammen“. | |
Salpen bestehen zu 95 Prozent aus Wasser. Sie ähneln einer hohlen Röhre, | |
„die nur durch das goldene Pfefferkorn ihres Darms sichtbar wird“. Ihre | |
Vermehrung wurde vom Berliner Botaniker Adelbert von Chamisso während | |
seiner Weltumseglung von 1815 bis 1818 mit dem russischen Expeditionsschiff | |
„Rurik“ entdeckt. Die Salpen vermehren sich quasi pflanzlich und tierisch. | |
Der Evolutionsbiologe am Berliner Naturkundemuseum, Matthias Glaubrecht, | |
kommt darauf in seinem Buch „Dichter, Naturkundler, Welterforscher: | |
Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage“ (2023) zu | |
sprechen. Er war 2009 auf Chamissos Dissertation über die Salpidae in der | |
Bibliothek seines Museums gestoßen. Glaubrecht schreibt, dass Chamisso bei | |
den Salpen „als Erster das Abwechseln zweier anatomisch verschieden | |
aussehender Generationen beobachtet“ habe. | |
## Asexuell, besexuell | |
Sie vermehren sich abwechselnd asexuell durch Knospung und sexuell in der | |
darauf folgenden zweigeschlechtlichen Generation. Während die einzelne | |
Salpe laut Imbler wächst, „wächst auch der Klon in ihrem Inneren, bis er | |
groß genug ist, um sich von ihr zu lösen“ – und ein Leben als Einzelwesen | |
beginnt. Daraufhin wachsen dem Klon Eier und Hoden, „die Spermien | |
ausstoßen, die sich im Wasser verteilen und die Eier anderer Klone | |
befruchten“. Dergestalt produziert jede Kette, die bis zu sechs Meter lang | |
werden kann, „hunderte von weiteren Ketten, und so erobern sie weite Teile | |
des Ozeans in einer Weise, die das Ökosystem umkrempelt […] Da Salpidae | |
ständig zwischen Lebensstadien hin- und herwechseln, die einander kaum | |
ähneln, haben sie sich dem Verständnis der WissenschaftlerInnen lange Zeit | |
entzogen.“ | |
Die meisten halten sie noch heute für eine Plage, weil sie in der Masse | |
Fischernetze ruinieren, Schiffe aufhalten können und Wassereinlasssysteme | |
(z. B. von AKWs) verstopfen. Aber sie haben auch Feinde, Imbler erwähnt | |
einen winzigen Flohkrebs. Er umklammert die Salpe und höhlt sie aus, sodass | |
sie ihm einen „Schutzraum“ für seine Eier und die daraus schlüpfenden | |
Jungen bietet, wobei die übrig gebliebenen Zellen der Salpe weiterleben. | |
Für die Autorin ist das, „wie wenn man mit einem Geist zusammenlebt“. | |
## Neues aus der Salpenforschung | |
Glaubrecht entdeckte im Naturkundemuseum sechs der von Chamisso einst | |
„gesammelten Salpen“ in einem Glas mit Konservierungsmittel. Daraufhin | |
suchte er nach weiteren Spuren des Naturforschers, der einen | |
Paradigmenwechsel in der Biologie herbeigeführt hatte, indem er die | |
Artenbestimmung der westlichen Wissenschaft als falsch verwarf und | |
stattdessen die von Indigenen – ins Lateinische übersetzt – den Vorzug gab. | |
Das war, als er sich auf den Aleuten mit den dort lebenden Waljägern | |
verständigte. Sie schnitzten für ihn aus Treibholz sechs Wale in | |
Handschmeichlergröße, um deren unterschiedliches Aussehen zu verdeutlichen. | |
Ein paar dieser Walplastiken befinden sich ebenfalls im Naturkundemuseum. | |
Unterdes hat die Salpenforschung an Aktualität gewonnen. Das Wissensmagazin | |
scinexx’ titelte zur „Klimadebatte“: „Salpen transportieren 4.000 Tonnen | |
Kohlenstoff pro Tag in die Tiefe“ – indem sie nichts anderes tun als | |
fressen und kacken. „Sie nehmen dabei kleine Päckchen Kohlenstoff [ihre | |
Beute] auf und machen daraus große Päckchen [Kacke], die schnell sinken.“ | |
Diese Kotpellets können bis zu 1.000 Meter am Tag sinken. Wobei „die | |
meisten Salpen diese nicht von der Oberfläche aus, sondern von vornherein | |
in tieferen Wasserschichten abgeben“. Tagsüber halten sie sich in | |
Wassertiefen zwischen 600 und 800 Metern auf, nachts steigen sie an die | |
Oberfläche, um Plankton zu fressen. Und so leben sie fort, neuerdings als | |
Klimaschützer. | |
6 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.das-tierlexikon.de/salpen/ | |
[2] https://www.spektrum.de/lexikon/biologie-kompakt/salpida/10160 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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