Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Lang und zermürbend
> Die Gegenoffensive der Ukrainer hat nicht den erhofften Erfolg gebracht.
> Dennoch lehnt eine Mehrheit der Bevölkerung Verhandlungen und Kompromisse
> mit Russland ab.
Bild: Alltag an der Front: zwei Soldaten während einer Pause in der Region Sum…
Berlin taz | Es wird höchstwahrscheinlich keinen tiefen und schönen
Durchbruch geben“, sagte der Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee,
Walerij Saluschnyj, Anfang November in einem Interview mit dem britischen
The Economist. Dies war ein Eingeständnis, dass die ukrainische
Gegenoffensive nicht der Erfolg war, den sich sowohl die Ukrainer als auch
ihre Verbündeten erhofft hatten.
Einerseits kritisiert Kyjiw seine Partner zu Recht dafür, dass sie die
versprochenen Waffenlieferungen verzögert haben. Andererseits gibt
[1][Saluschnyj] zu, sich verkalkuliert zu haben: dass Russland nach enormen
Verlusten an Truppen und Ausrüstung mit dem Rückzug beginnen würde.
Unter enormen Anstrengungen konnte die ukrainische Armee nur ein paar
Dutzend Kilometer vorrücken. Seit der Befreiung des rechten Ufers der
Region Cherson im vergangenen November ist die rund 1.500 Kilometer lange
Frontlinie praktisch eingefroren. In dieser Zeit hat Russland nicht nur
seine Verteidigungslinien in den eroberten Gebieten erheblich verstärkt,
sondern auch die militärische Produktion erhöht.
So konnte Russland im Frühherbst wieder an mehreren Frontabschnitten
gleichzeitig Offensiven durchführen. Während im vergangenen Jahr viele
Politiker*innen und Expert*innen ein Ende des Krieges mit einem
ukrainischen Sieg bis Ende 2023 prognostizierten, gehen die meisten heute
von einem zermürbenden Abnutzungskrieg aus.
## Zerstörte Logistikketten
Dennoch hat die Ukraine seit Beginn der Gegenoffensive einige Erfolge auf
dem Schlachtfeld erzielt. Dies betrifft Angriffe auf russische Militärlager
und -standorte in den besetzten Gebieten, die Zerstörung von Logistikketten
und die Zurückdrängung russischer Kriegsschiffe im Schwarzen Meer.
Nicht nur die Wiederaufnahme des „Getreidekorridors“ wurde möglich, sondern
die Russen waren auch gezwungen, die Nutzung der Buchten von Sewastopol
aufzugeben. Bis November 2023 hat die Ukraine nach Angaben des ukrainischen
Verteidigungsministeriums neun Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte
zerstört und 16 beschädigt.
Darüber hinaus ist es der ukrainischen Marine gelungen, den Dnipro zu
überqueren und Vorposten auf der besetzten linken Seite des Flusses in der
Region Cherson zu sichern. Die ukrainischen Soldaten schafften es, nicht
nur Personal, sondern auch Waffen, Munition und Nachschub über den Fluss zu
bringen. Russische Militärblogger berichten, dass in dem Gebiet seit Wochen
heftig gekämpft werde, die Besatzer aber die ukrainische Armee nicht hätten
zurückdrängen können.
Die militärische und politische Führung der Ukraine hat jedoch aufgehört,
Prognosen über die Dauer des Krieges abzugeben. Jetzt heißt es immer öfter,
dass sich die Ukrainer auf einen langen Kampf einstellen müssten. „Die
Menschen behandeln den Krieg wie einen Film und erwarten jeden Tag
Überraschungen. Aber für uns, für unsere Soldaten, ist das kein Film. Es
ist unser Leben. Es ist harte Arbeit, jeden Tag. Und es wird nicht so
schnell enden, aber wir haben nicht das Recht aufzugeben und werden das
auch nicht tun“, sagte Präsident Wolodimir Selenski gegenüber Fox News und
The Sun.
## Keine Kompromisse
Dies bestätigt einmal mehr, dass die Ziele der Ukraine unverändert sind –
die Wiederherstellung der territorialen Integrität des Landes. Trotz der
moralischen Erschöpfung, der Angst vor dem Winter und der Ungewissheit über
eine weitere Unterstützung teilt die ukrainische Zivilgesellschaft diese
Ziele. Die Mehrheit lehnt Verhandlungen mit Russland oder territoriale
Kompromisse ab.
„Wir alle wissen, dass man sich auf Vereinbarungen mit Russland nicht
verlassen kann. Das haben wir oft gesehen – beim Waffenstillstand im
Donbas, dem Minsker Abkommen, dem Getreide-Deal. Russland braucht die
gesamte Ukraine“, sagt die Rentnerin Hanna aus Kyjiw, deren Sohn und Enkel
in der Armee sind.
Das Szenario, das die Ukraine anstrebt, ist, die russischen Streitkräfte
militärisch aus dem Land zu drängen und sich dann mit Russland an den
Verhandlungstisch zu setzen. In der Ukraine mehren sich jedoch die Stimmen,
die bezweifeln, dass dieser militärische Plan derzeit umsetzbar ist.
Dennoch bleibt die Position der Ukrainer hart.
David Arahamija, Chef der Parlamentsfraktion Diener des Volkes, sagte
kürzlich in einem Interview: „Wir können uns jetzt nicht an den
Verhandlungstisch setzen. Wir sind in einer sehr schlechten
Verhandlungsposition.“ Er fügte hinzu, dass jeder Versuch der Werchowna
Rada, Abkommen mit Russland zu ratifizieren, zu Streit im Parlament führen
und dessen Arbeit lähmen könne.
## Ausreichende Ressourcen
Auch der Chef des ukrainischen Auslandsgeheimdienstes, Oleksandr
Lytwynenko, glaubt, dass der Kreml weiter auf eine Destabilisierung der
inneren Lage in der Ukraine setzen wird. Moskau verfüge über genug
Ressourcen, um Militäroperationen gegen die Ukraine auf dem derzeitigen
Niveau über einen längeren Zeitraum durchzuführen.
Zu den zusätzlichen Strategien zählt Lytwynenko Druck entlang der gesamten
Frontlinie und die Eroberung neuer Siedlungen. Eine könnte Awdijiwka sein,
das die ukrainischen Armee seit 2014 verteidigt. Eine Einnahme könnte Kyjiw
einen schweren Schlag versetzen.
Als weiteres Ziel, um die Moral der Ukrainer zu schwächen, nennt der
Geheimdienstchef [2][einen neuen Versuch, die kritische Infrastruktur der
Ukraine zu zerstören] – Angriffe auf Kraft- und Heizwerke,
Verkehrsknotenpunkte und Ölraffinerien. Es gehe darum, so Lytwynenko, die
Einheit der Bevölkerung zu schwächen, indem innere Konflikte provoziert
würden – zwischen der militärischen und der politischen Führung, zwischen
politischen Kräften und gesellschaftlichen Gruppen.
Ein Hauptproblem der ukrainischen Armee ist derzeit die Mobilisierung.
„Nach dem Wechsel der Militärkommissare haben wir damit jetzt noch größere
Schwierigkeiten als mit der Munition“, sagte der Sekretär des Ausschusses
für nationale Sicherheit und Verteidigung der Werchowna Rada in einem
Kommentar für Radio NV.
## Hohe Verluste
Unfaire und unklare Verfahren, nicht immer vollständige Ausrüstung und
Ausbildung der Mobilisierten verschärfen die Situation. Angesichts der
hohen Verluste und der Mobilisierungsprobleme räumt die ukrainische Armee
ein, dass es ihr an Personal mangele. „Die Männer gehen uns noch nicht aus,
aber ein Mangel ist deutlich spürbar. Auch die Ausbildung und die Moral der
Mobilisierten sind anders als im vergangenen Jahr“, stellt Oleh Sentsow
fest. Der Filmregisseur und ehemalige politische Gefangener des Kremls hat
sich freiwillig zur Armee gemeldet und verteidigt nun Awdijiwka.
Anton, ein 35-jähriger Soldat, der seit 2014 als Freiwilliger an der Front
ist, spricht ebenfalls über die Probleme bei der Mobilisierung und die
Notwendigkeit, einen Mechanismus für die Rotation derjenigen zu entwickeln,
die schon lange im Kampfgebiet sind. Aber er sieht keine andere
Möglichkeit, als weiterzukämpfen.
„Unsere Generation muss die russische Bedrohung stoppen, auch wenn das
Leben kostet. Sonst gibt es keine Ukraine mehr. Wir sind für die Zukunft
unserer Kinder hier und verteidigen vor allem unsere Familien, unser
Zuhause und unser Land, nicht die Ambitionen von Politikern“, versichert
Anton, dessen jüngere Schwester von einem russischen Granatsplitter getötet
wurde.
Die größte Angst der Ukrainer ist eine Reduzierung oder sogar ein völliger
Entzug der militärischen Unterstützung durch die USA, Deutschland und
andere Verbündete. Ebenso beunruhigend sind die immer häufiger diskutierten
möglichen Versuche der westlichen Partner, die Ukraine zu Verhandlungen mit
Russland zu bewegen.
„Das wäre eine Katastrophe. Nach all den Verbrechen, die Russland uns
angetan hat, können wir nicht kapitulieren. Das würde noch mehr Elend für
alle bedeuten. Auch für Europa“, sagt Marina, eine 48-jährige Zahnärztin
aus Kyjiw.
29 Nov 2023
## LINKS
[1] /Krieg-in-der-Ukraine/!5969304
[2] /Krieg-in-der-Ukraine/!5972813
## AUTOREN
Anastasia Magasowa
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Cherson
Russland
GNS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
USA
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Militär
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
## ARTIKEL ZUM THEMA
Selenskyj und mögliche Verhandlungen: Begrenzt offen
Wolodymyr Selenskyj signalisiert Bereitschaft, Gebiete abzutreten, wenn die
Bevölkerung das will. Es wäre ein Freibrief für Putin zum Weitermachen.
Krieg in der Ukraine: Armeechef Saluschnyj gefeuert
Präsident Selenskyj entlässt den Oberkommandierenden der Streitkräfte
Waleryj Saluschnyj. Der Schritt kommt nicht überraschend.
Hilfe läuft aus: USA enttäuschen Ukraine
Die Republikaner im US-Kongress blockieren finanzielle und militärische
Hilfen für die Ukraine. Derzeit lebt die US-Regierung von
Überbrückungshaushalten.
OSZE-Treffen in Nordmazedonien: Schwierigkeiten statt Sicherheit
Die OSZE befindet sich in einer Dauerblockade, wie das aktuelle Treffen
erneut zeigt. Russland ist dabei, die Ukraine und andere Länder dafür
nicht.
Wintereinbruch in der Ukraine: Angst vor dem Schnee
Experten warnen vor russischen Angriffen auf die ukrainische
Energieinfrastruktur im Winter. In Odessa bereitet man sich auf den Notfall
vor.
Militärhilfen für die Ukraine: Solidaritätsbekundungen in Brüssel
Beim ersten Treffen des Nato-Ukraine-Rats sichern die Außenminister dem
Land weitere Hilfe zu. Die hat sie dringend nötig.
Krieg in der Ukraine: Russische Drohnengrüße zum Winter
Die ukrainische Hauptstadt Kyjiw erlebt einen der größten Angriffe seit
Kriegsbeginn. Ist das der Auftakt einer Winteroffensive Russlands?
Protokolle aus der Ukraine: Glaube an ein Ende des Grauens
Cherson wurde vor einem Jahr von russischer Besatzung befreit. Zwei
Einheimische berichten von ihren Erlebnissen und Hoffnungen.
Krieg in der Ukraine: Kein Konflikt, aber Spannungen
Wie ist die Lage der Ukraine an der Front? Präsident Wolodimir Selenski und
der Oberbefehlshaber der Armee sind sich nicht einig.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.