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# taz.de -- Protokolle aus der Ukraine: Glaube an ein Ende des Grauens
> Cherson wurde vor einem Jahr von russischer Besatzung befreit. Zwei
> Einheimische berichten von ihren Erlebnissen und Hoffnungen.
Bild: Neun Monate durch Russland besetzt: Passantin in einer Straße in Cherson
Die südukrainische Stadt Cherson hatte bis zum Beginn von Russlands
Angriffskrieg knapp 290.000 Einwohner. Anfang März 2022 wurde Cherson von
russischen Truppen besetzt und in der Folge das gesamte gleichnamige
Gebiet. Die Besatzung der Stadt Cherson dauerte neun Monate.
Während dieser Zeit nahmen Bewohner wiederholt an friedlichen
pro-ukrainischen Kundgebungen teil und es kam zu Festnahmen von Aktivisten
durch die russischen Besatzungsbehörden. Im Oktober 2022 gab es erste
Medienberichte über die Befreiung von Dörfern am rechten Dnipro-Ufer der
Region Cherson.
Am 11. November 2022 befreiten ukrainischen Streitkräfte Cherson. Seitdem
ist die Stadt (heute schätzungsweise 140.000 Einwohner) ständigen
Artillerie-Angriffen der russischen Truppen ausgesetzt. Diese befinden sich
auf der linken Seite des Dnipro, rund 10 Kilometer von der Stadt Cherson
entfernt. Die taz sprach mit zwei Bewohner*innen über ihre Erfahrungen.
## Wie in einer großen Familie
## Wiktor Tozki, 37 Jahre, Cherson
Wiktor Tozki leitet seit sechs Jahren den Verband der Eigentümer von
Mehrfamilienhäusern im Stadtbezirk Korabel. Er lebte zwei Monate lang unter
russischer Besatzung in Cherson. Dann war er gezwungen, das Land zu
verlassen. Das russische Militär bedrohte und verfolgte ihn. Derzeit wohnt
Wiktor zwar wieder in Cherson und reist aber durch die Ukraine, um Hilfe
für die Bewohner seiner Stadt zu organisieren.
„Auf den ersten Blick ist das Leben in Cherson wieder wie vor dem Krieg:
Autos fahren, auch öffentliche Verkehrsmittel. Es gibt viel Polizei und
Militär. Allerdings leben wir gleichzeitig [1][unter täglichem Beschuss]
und es gibt Opfer. Nach Angaben der örtlichen Behörden sind von den
Bewohnern in den mehrgeschossigen Häusern nur bis zu 20 Prozent übrig
geblieben. Aber während wir weniger wurden, wuchsen wir wie zu einer großen
Familie zusammen. In jedem Haus kennt jeder jeden.
Viele Leute sind gegangen … und das ist gut so. Vielen rate ich sogar,
wegzugehen. Zum Beispiel nach Mykolajiw (67 Kilometer von Cherson
entfernt). Dort ist es nicht mehr so gefährlich wie in Cherson und die
Miete für eine Wohnung ist nicht mehr so hoch. Das heißt, ich rate den
Menschen, zunächst an sich zu denken, und zwar zumindest bis März-April,
die Zeit der Heizperiode. Sie sollen Cherson verlassen, um wieder zu
spüren, wie es sich in einer sicheren Stadt lebt.
Was die Heizperiode angeht – nun wir glauben nicht, dass in der ganzen
Stadt geheizt werden kann, vor allem nicht im Mikrobezirk Korabel. Dort gab
es im vergangenen Jahr überhaupt keine Heizung. Den Menschen wurden
elektrische Heizgeräte zur Verfügung gestellt, obwohl es bis etwa Januar
keinen Strom gab. Alle schlugen sich durch, so gut sie konnten. Sie
erhitzten Wasser mit Gas, das es gab und gibt.
Die Menschen hoffen jetzt auf Elektrizität. Die Heizung ist in einem
schrecklichen Zustand, Leitungen und Kesselhäuser wurden zerstört. Aber
unsere Behörden haben gesagt, dass angeblich 95 Prozent der Heizungsanlagen
in Cherson wieder instand gesetzt worden seien.
Laut Experten sei es jedoch nicht ratsam, in praktisch leeren Häusern die
Heizung einzuschalten. Am Jahrestag [2][der Befreiung Chersons von der
russischen Besatzung] (11. November) war ich in Festtagsstimmung. Wir
werden diesen Tag auf jeden Fall feiern, und ich bin mir sicher, dass wir
das dank der Streitkräfte der Ukraine gemeinsam mit den Bewohnern des
linken Dnipro-Ufers tun werden, die jetzt sehr unter der Besatzung leiden.
Derzeit sind keine Feiern oder Versammlungen gestattet. Wir hatten kürzlich
den Fall, dass die Bewohner und ich in der Nähe des Hauses auf die Ankunft
freiwilliger Helfer warteten. Sie waren spät dran und mehr als 20 Menschen
hatten sich bereits versammelt. Da begann der Artilleriebeschuss, wir
liefen schnell zu den Eingängen unseres Hauses. Wie durch ein Wunder wurden
keiner der Freiwilligen und Bewohner verletzt, aber es war ziemlich
beängstigend.
Ich denke, dass die russischen Besatzer mit Drohnen oder entsprechenden
technischen Mitteln Menschenmengen aufzeichnen und sich nicht darum
kümmern, dass es sich um Zivilisten handelt. Sie fangen einfach an zu
schießen.
Jeden Tag hören und sehen wir, dass unsere Streitkräfte auf jeden
russischen Beschuss mit Angriffen reagieren, und diese Geräusche sind
angenehm zu hören. Wir hoffen jedes Mal, wenn wir ukrainische Artillerie
hören, dass die Befreiung des linken Ufers irgendwie näher rückt. Aber wir
spüren, dass das langsam geschieht. Wir hoffen wirklich, dass Cherson nicht
mehr unter dem Beschuss leiden muss leiden, dass es so wird, wie jetzt in
Mykolajiw. Möge dieses Grauen so schnell wie möglich ein Ende haben. Wir
haben den Glauben daran nicht verloren.“
## Einschlag in der benachbarten Straße
## Aljona Mowtschan, 26 Jahre, Cherson
Aljona Mowtschan arbeitet in der Literaturabteilung des Chersoner Theaters.
Bis zum Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine organisierte
sie öffentliche Lesungen in Cherson. Sie hat eine Sammlung ihrer Gedichte
veröffentlicht. Acht Monate verbrachte sie unter russischer Besatzung in
Cherson. Sie ist verheiratet, ihr Mann arbeitet bei der Feuerwehr. Beide
haben einen Sohn im Alter von einem Jahr und neun Monaten.
„Vor der Befreiung Chersons lebte ich mit einer gewissen Erwartungshaltung.
Als Cherson befreit wurde, machte sich bei mir Zuversicht breit. Jetzt
warte ich immer noch auf die Befreiung der gesamten Region Cherson. Ich
arbeite in Cherson, lebe aber teilweise in Mykolajiw, weil ich ein kleines
Kind habe. Und eine Zeit lang hat mein Sohn alles ganz normal ertragen: all
die lauten Geräusche, Explosionen. Doch als im März ein Trolleybus
angegriffen wurde, reagierte er zum ersten Mal, da wir zu diesem Zeitpunkt
in der Nähe unterwegs waren. Für mich war das schon ein Signal.
Cherson kommt nicht zur Ruhe. Morgens wachst du auf und musst sehr
vorsichtig mit dem Bus zur Arbeit fahren. Wenn du zu Fuß gehst – es ist
natürlich besser, nicht zu Fuß zu gehen –, sollte dies ein sicherer Bereich
sein. Ich bin zum Beispiel neulich auf dem Weg zur Arbeit die Straße, in
der sich das Theater befindet, entlang gelaufen, da schlug eine Rakete in
der benachbarten Straße ein. Im wahrsten Sinne des Wortes sind das nur ein
paar Meter. Das heißt, die Menschen in Cherson leben in ständiger Bedrohung
ihres Lebens. Danach riefen meine Freunde an und fragten, ob ich noch lebe.
Wenn wir über das gesellschaftliche Leben in der Stadt sprechen, dann gab
es früher zum Beispiel anlässlich eines Stadtfestes viele Veranstaltungen –
ein Schriftstellerforum, ein Konzert im Theater, die Eröffnung neuer
Veranstaltungsorte. Es gab so viel, dass wir morgens in der Stadt ankamen
und es kaum schafften, uns bis zum Abend alles anzugucken.
Im Zentrum von Cherson ist es gefährlich. Obwohl es Menschen gibt, die dort
leben. Beispielsweise ist eine Journalistin aus San Francisco zu dem
Schluss gekommen, dass sie sich dort wohlfühle. Einige meiner Freunde
wohnen auch direkt am Wasser, neben der Zentralbibliothek. Die Menschen
machen weiter, weil dies ihr Leben ist. Sie haben das Gefühl, dass sie dort
sein sollten.
Aber Raketen können jederzeit und an jedem Ort einschlagen. Kürzlich fand
zum Beispiel eine Konferenz im Theater statt, ich war da gerade in Kyjiw.
Der Regisseur ruft mich an und sagt, dass in der Nähe des Theaters ein
Angriff stattgefunden habe und alle Fenster zerbrochen seien. Am nächsten
Tag komme ich an und sehe, wie Menschen auf allen Etagen diese kaputten
Fenster vernageln. Das ist einfach unglaublich. Die Menschen zeigen ihre
Furchtlosigkeit. Das heißt, die Menschen gewöhnen sich an die Umstände,
unter denen sie leben.
Wir sind acht Monate in der besetzten Stadt geblieben. Wir alle haben
Cherson dann verlassen, weil es notwendig war, das Kind wie geplant zu
impfen, und ich wusste, dass ihm die erste Impfung Probleme bereiten würde.
Wenn ein Kind leidet, habe ich als Mutter kein Recht, es leiden zu lassen –
obwohl ich bis zum letzten Moment in der Nähe meines Mannes geblieben bin.
Er arbeitete als Feuerwehrmann.
Die Feuerwehr war bis zum 1. September 2022 unter ukrainischer Flagge
tätig. Dann wurde sie von den Russen übernommen. Den ukrainischen
Feuerwehrleuten wurde der Befehl erteilt, in das von der Ukraine
kontrollierte Gebiet zu gehen und ihre Arbeit dort fortzusetzen. Manche
blieben, manche gingen. Es war die persönliche Entscheidung eines jeden
Einzelnen.
Ein weiterer Grund, warum wir weggegangen sind, waren die überhöhten
Preise. Denn die russischen Besatzungsbehörden setzten den Rubel mit der
Hriwna gleich. Beispielsweise kostete eine Packung Windeln 2.000 Hriwna
(umgerechnet rund 50 Euro).
Wir alle warten auf die Befreiung des linken Dnipro-Ufers. Wir leben in
Vorfreude. Mir scheint, wenn alle besetzten Gebiete befreit sein werden,
können wir wieder atmen und versuchen, zu leben. Auch wenn es jetzt in
Cherson schwierig ist, sind alle vereint und warten auf den Sieg.“
Aus dem Russischen Barbara Oertel
18 Nov 2023
## LINKS
[1] /Krieg-in-der-Ukraine/!5965463
[2] /Abzug-russischer-Truppen/!5894410
## AUTOREN
Yuliia Shchetyna
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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