| # taz.de -- Kampf gegen die Klimakrise: Das Problem mit der Klima-Null | |
| > Staaten und Konzerne rufen gern die baldige Klimaneutralität aus. | |
| > Dahinter können sich Schlupflöcher verstecken. Die wichtigsten Fragen und | |
| > Antworten. | |
| Bild: Von manchen Zielen der Klimaneutralität bleibt nicht viel | |
| ## Worum geht es? | |
| Der Kanzler tut es, der Vizekanzler tut es, im Grunde genommen tut es jeder | |
| in der Bundesregierung – gebetsmühlenartig wiederholen Olaf Scholz (SPD), | |
| Robert Habeck (Bündnisgrüne) und Co. den Satz: „Deutschland wird im Jahr | |
| 2045 klimaneutral sein.“ Auch auf zahlreichen Produkten prangt die Werbung | |
| mit [1][Klimaneutralität]. | |
| Es klingt also, als würde kaum noch jemand zum Klimawandel beitragen | |
| wollen. Das wäre natürlich auch nötig: Regierungen in aller Welt haben sich | |
| dazu gegenüber den Vereinten Nationen im Pariser Weltklimaabkommen | |
| völkerrechtlich verbindlich verpflichtet. | |
| ## Heißt das, dass Deutschland ab 2045 überhaupt keine klimaschädlichen | |
| Emissionen mehr verursacht? | |
| Das wiedervereinigte Deutschland war 1990 für 1.248 Millionen Tonnen | |
| Treibhausgase verantwortlich, im vergangenen Jahr wurden noch rund 746 | |
| Millionen Tonnen freigesetzt. Nach 32 Jahren Klimaschutz ist die | |
| Treibhausfracht „Made in Germany“ also lediglich um gut 40 Prozent | |
| gesunken. Theoretisch müsste Deutschland in den kommenden 22 Jahren also | |
| noch die restlichen 60 Prozent Emissionsreduktion schaffen. | |
| Das allerdings ist unmöglich: Wir wollen ja auch 2045 noch etwas essen. Bei | |
| der Produktion von Lebensmitteln fallen aber sehr viele Emissionen an, | |
| aktuell sind es um die 60 Millionen Tonnen pro Jahr. Düngen, Tierhaltung, | |
| Bodenbearbeitung – in der Landwirtschaft entstehen Treibhausgase, die teils | |
| unvermeidbar sind. Um wirklich klimaneutral zu werden, müssen diese | |
| Emissionen an anderer Stelle wieder aus der Atmosphäre gezogen werden. | |
| ## Wie soll das gehen? | |
| Dafür gibt es zwei Wege: einen natürlichen und einen technischen. Der | |
| natürliche bedeutet in erster Linie Aufforstung. Bäume wandeln durch die | |
| Photosynthese das Treibhausgas Kohlendioxid in Holz um und speichern es so. | |
| Allerdings ist es riskant, sich nur darauf zu verlassen. Die sommerlichen | |
| Dürren begünstigen Waldbrände: Diese setzen jenes Kohlendioxid wieder frei, | |
| das die Bäume zuvor weggespart hatten. | |
| Wissenschaftler des Atmosphärenüberwachungsdienstes Copernicus bilanzierten | |
| die Auswirkungen der Waldbrandsaison des Jahres 2021 auf der Nordhalbkugel: | |
| Zusätzlich gelangten damals 6,45 Milliarden Tonnen Kohlendioxid in die | |
| Atmosphäre. Das ist fast doppelt so viel, wie die Staaten der EU in einem | |
| Jahr insgesamt ausstoßen. | |
| Aufforsten ist also keine sicherere Methode. Bleibt der technische Weg: Es | |
| gibt auch Technologien, die der Atmosphäre Treibhausgase wieder entziehen. | |
| Beispielsweise das Verfahren Carbon Capture and Storage, abgekürzt CCS und | |
| zu Deutsch Kohlenstoffabscheidung und -speicherung. Mittels chemischer | |
| Absorber wird Kohlendioxid direkt aus der Luft gefiltert, verflüssigt und | |
| dann in poröse Gesteinsschichten im Erduntergrund verpresst. | |
| „Allerdings braucht diese Technologie sehr viel Energie, und sie ist sehr | |
| teuer“, sagt Klimaforscher Mojib Latif, der schon seit den 1980er-Jahren | |
| über den Klimawandel aufklärt. Zuletzt wurden pro Tonne Kohlendioxid 550 | |
| Euro kalkuliert, die Verpressung noch nicht eingerechnet. Das würde uns bei | |
| aktuell 60 Millionen Tonnen aus dem Nahrungsbereich 33 Milliarden Euro | |
| kosten – jedes Jahr. Zum Vergleich: Das ist mehr als die Bundesregierung | |
| nach der Ahrtal-Katastrophe in den Wiederaufbau der zerstörten Region | |
| gesteckt hat. | |
| ## Welche andere Option bleibt? | |
| Das Wichtigste: So viele Treibhausgase wie möglich einzusparen, um den | |
| Restsockel, der „kompensiert“ werden muss, so klein wie möglich zu halten. | |
| Also keine fossile Energie mehr zu nutzen, aber auch Treibhausgase aus | |
| chemischen Prozessen einzusparen. „Beispielsweise müssen wir aufhören, mit | |
| Beton zu arbeiten oder das bei der Herstellung entstehende Kohlendioxid | |
| wird Teil einer Kreislaufwirtschaft“, sagt Latif. | |
| Mehr als 25 Millionen Tonnen Kohlendioxid verursacht die deutsche | |
| Zementherstellung jährlich. Nicht mehr mit Zement zu bauen bedeutet eine | |
| Revolution im Bausektor: Hochhäuser, Brücken, Windradtürme werden schon aus | |
| Holz gebaut, schwieriger wird es bei Tunneln, Eisenbahnschwellen oder | |
| Straßen. | |
| Und noch etwas spielt eine große Rolle: „Wir müssen die Moore | |
| wiedervernässen“, sagt Annie Wojatschke, Moormanagerin der Stadt | |
| Greifswald. Die Torfschichten der Moore enthalten gigantische Mengen an | |
| Kohlenstoff, werden sie trockengelegt, werden Treibhausgase freigesetzt. | |
| „Ungefähr 30 Prozent aller Treibhausgase kommen in Mecklenburg-Vorpommern | |
| aus den Mooren“, so Wojatschke. Damit ist nicht die Industrie, der | |
| Energiesektor oder der Verkehr der schlimmste Klimasünder im deutschen | |
| Nordosten, sondern die trockengelegten Moore. | |
| Auch in Niedersachsen, Brandenburg, Bayern und Schleswig- Holstein schlagen | |
| trocken gelegte Moore als Treibhausgas-Quelle zu Buche: Sie sind für mehr | |
| als 48 Millionen Tonnen Kohlendioxidäquivalent verantwortlich. | |
| Keine fossile Energie mehr nutzen, Moore wiedervernässen, auf Beton | |
| verzichten und die restlichen Emissionen mit Technologien wie dem CCS | |
| kompensieren – damit wird Deutschland dann klimaneutral? | |
| Leider nein. „Der Begriff ‚klimaneutral‘ wird in der Regel falsch | |
| verwendet“, kritisiert Jochen Luhmann, Experte am Wuppertal-Institut für | |
| Klima, Umwelt, Energie. „Eigentlich ist ‚treibhausgasneutral‘ gemeint“, | |
| sagt Luhmann. Das ist ein bisschen schwächer als klimaneutral, denn „bei | |
| der Treibhausneutralität werden andere Klimaeffekte ausgeblendet.“ | |
| Beispielsweise der Albedo-Effekt, also das Rückstrahlvermögen heller | |
| Oberflächen. Deutschlands größter Gletscher – der „Schneeferner“ – b… | |
| Mitte des 19. Jahrhunderts mit einer Ausdehnung von 300 Hektar noch das | |
| gesamte Zugspitzplatt, heute messen seine Reste nicht einmal mehr 20 | |
| Hektar, bis 2050 wird er wohl gänzlich geschmolzen sein. Wollte Deutschland | |
| klimaneutral werden, müsste zum Beispiel auch diese verschwundene | |
| Fähigkeit, die Sonnenenergie zurück ins All zu strahlen, an anderer Stelle | |
| ersetzt werden. | |
| Guckt man genau hin, will Deutschland auch gar nicht klimaneutral werden – | |
| obwohl es der Kanzler das immer wieder so sagt. Paragraph 3 des | |
| [2][Bundesklimaschutzgesetzes] definiert, dass [3][bis zum Jahr 2045 | |
| „Netto-Treibhausgasneutralität“ hergestellt wird]. | |
| ## ‚Klimaneutral‘, ‚treibhausneutral‘ – jetzt wird es unübersichtlic… | |
| es denn keine international verbindliche Regelung? | |
| Leider nein. „Die UNO hat es versäumt, Treibhausgasneutralität zu | |
| definieren“, sagt Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik. | |
| Er schätzt, dass es mittlerweile 30 verschiedene Interpretationen und | |
| Varianten gibt. | |
| China zum Beispiel habe sich zum Ziel gesetzt, bis 2060 kohlendioxidneutral | |
| zu werden. Das ist also noch mal schwächer als das Versprechen der | |
| Treibhausneutralität. „Die anderen Treibhausgase sind ja nicht adressiert“, | |
| sagt Geden. Frankreich oder Finnland hätten sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 | |
| kohlendioxidneutral zu werden. „Beide Länder meinen aber, dass sie | |
| treibhausgasneutral werden wollen“, so Geden. | |
| Neuseeland wiederum hat in seinem Ziel formuliert, bis 2050 bestimmte | |
| Treibhausgase auf null zurückfahren zu wollen. „Nicht aber Methan, ein | |
| 28-mal so intensives Treibhausgas verglichen mit Kohlendioxid“, sagt Geden. | |
| In Neuseeland ist Schafzucht ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und im | |
| Verdauungstrakt der Tiere bildet sich Methan. Wenn jemand Klimaneutralität | |
| oder Ähnliches verspricht, muss man also genau hingucken. | |
| „Regierungen jedenfalls finden diese Mehrdeutigkeit gut“, meint Geden. | |
| Einfach, weil Mehrdeutigkeit Schlupflöcher biete. „Klimaneutral: Der | |
| Fachbegriff ist vom Wissenschaftshimmel gestürzt und als Buzzword im | |
| fossilen Marketingsumpf gelandet“, urteilt Claudia Kemfert, Professorin vom | |
| Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. | |
| Jedes Buch, jeder Kongress, jede Kreuzfahrt, sogar manche Wurst bei Rewe | |
| sei heute angeblich klimaneutral. „Mit dem Etikett werden Mogelpackungen | |
| verkauft, die uns von einer klimagerechten Welt mehr denn je entfernen. | |
| Wenn wir das Wort irgendwo hören, sollten wir sofort innehalten und das | |
| Kleingedruckte lesen.“ | |
| ## Zurück zu Deutschland: Werden wir denn bis zum Jahr 2045 | |
| Netto-Treibhausgasneutralität erreichen? | |
| „Nicht mit der aktuellen Politik von Olaf Scholz und seinem Kabinett“, | |
| urteilt Mojib Latif. Beispielsweise sei das [4][Heizungsgesetz zuletzt | |
| derartig verwässert worden], dass es für den Klimaschutz kaum noch was | |
| bringt. Latif vermutet, dass die Politik noch nicht begriffen hat, welche | |
| Kraftanstrengungen notwendig sind, um treibhausgasneutral zu werden. „Wer | |
| immer nur behauptet, bis 2045 klimaneutral zu werden, aber nichts | |
| Wesentliches dafür unternimmt, der boykottiert das Klimaziel.“ | |
| 13 Nov 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Klimaneutralitaet/!t5575293 | |
| [2] https://www.gesetze-im-internet.de/ksg/BJNR251310019.html | |
| [3] /Neues-Klimaschutzgesetz-im-Kabinett/!5770969 | |
| [4] /Bundestag-beschliesst-Heizungsgesetz/!5958943 | |
| ## AUTOREN | |
| Nick Reimer | |
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