# taz.de -- Musikerin Mia Morgan: Keine Aktivismusmucke | |
> Mia Morgan singt über 80er-Synthie-Pop düstere Texte übers Frausein. Neid | |
> und Begierde gehören da auch zu – mal schrill und laut, mal schaurig und | |
> brutal. | |
Bild: Kein Großstadtmensch: Mia Morgan | |
BERLIN taz | Eine unscheinbare Metalltür führt hinein in den schummrigen | |
Proberaum. Schlagzeug, Gitarren, Mikrofonständer. Auf dem Boden gemusterte | |
Teppiche, ein Räucherstäbchen brennt. Auf einem kleinen Drehhocker sitzt | |
Singer-Songwriterin Mia Morgan. Die erdbeerblond-gefärbten Haare hat sie | |
mit einer Schleife im Nacken zusammengebunden, die Wangen sind pink vom | |
Rouge, die Nasenspitze ebenfalls. Sie trägt ein schwarzes Kleid über weißem | |
Langarmshirt, dazu schwere Boots und Kreuz-Ohrringe, die ihr bis fast auf | |
die Schultern reichen. Die Tattoos unter ihrer transparenten Strumpfhose | |
zieren wie Stempel die blasse Haut. | |
Sie ist gut gelaunt, spricht mit heller Stimme und frei heraus, ohne lange | |
darüber nachzudenken. Ihre runden blauen Augen blicken aufs Handydisplay, | |
kurz vor eins. In wenigen Minuten will die Künstlerin ihre neue Single | |
„Mitten in den Massen“ auf Instagram ankündigen. | |
Mia Morgan heißt eigentlich Lisa Marie Grosse. Ihren Namen konnte sie als | |
Kind nicht aussprechen, aus Lisa Marie wurde Mia. 2018 landete sie mit der | |
Demoversion ihres Indie-Popsongs „Waveboy“ einen Underground-Hit, der in | |
der Szene für Aufmerksamkeit sorgte. Trällerte sie bis dahin mit | |
Akustikgitarre bei Open-Mike-Shows und Unipartys, stand sie kurze Zeit | |
später auf großen Bühnen. „Natürlich hatte ich Angst, dass es genau einen | |
Tag lang losgeht und dann wieder aufhört.“ Die Angst habe sie bis heute. | |
Aber sie nutzte sie, die Chance auf den Durchbruch. Mit Produzent [1][Max | |
Rieger] veröffentlicht sie 2019 die EP „Gruftpop“, drei Jahre später ihr | |
Debütalbum „Fleisch“. Ihr Sound vereint 80er-Jahre Synthie-Pop mit düster… | |
und derben Songtexten über toxische Beziehungen, übers Frausein, über Neid | |
und Begierde. Das klingt mal rotzig und girly, mal schrill und laut, mal | |
schaurig und brutal. | |
Mia Morgans Musik gilt als feministisch. „Segen“ ist bei Fans zur Hymne | |
geworden, die Zeile „Gott ist eine Frau und sie ist viele“ wird auf | |
Liveshows lautstark mitgesungen. Für einen Auftritt auf dem „Frauenkonzert“ | |
der Hiphop-Gruppe KIZ 2020 aber erntete sie für andere Songs Kritik: Wie | |
könne sie am Weltfrauentag darüber singen, dass sie darauf steht, | |
geschlagen zu werden oder wenn man ihr in den Mund spuckt? | |
„Das sind meine persönlichen Songs“, entgegnet die Musikerin, „ich glaube | |
doch nicht weniger daran, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sein | |
sollen, nur weil ich meine Sexualität auslebe.“ Ihre Musik sei keine | |
„Aktivismusmucke“, Feministin zu sein nichts, was für sie mit Geldverdienen | |
zu tun hat. Das alles ändere nichts daran, sagt sie, dass „jetzt und jetzt | |
und jetzt“ – sie schnippst laut in die Finger – Femizide passieren. | |
## Schroffer, weirder | |
13 Uhr, der Wecker klingelt. Mia Morgan versinkt in ihrem iPhone. „Mitten | |
in den Massen“, teilt sie ihren 23.000 Instagram-Follower:innen mit, soll | |
den Beginn eines neuen Kapitels markieren. An der Seite ihres Gitarristen | |
und aktuellen Produzenten Lukas Korn will sie musikalisch experimenteller | |
werden. Neue Projekte sollen schroffer, „weirder“ klingen. So kommt auch | |
„Mitten in den Massen“ brachialer daher. Der Song erzählt von dem Gefühl | |
des Alleinseins im Berliner Großstadtleben und von der Sehnsucht nach | |
Zweisamkeit. | |
Immer wenn es Nacht wird / Holt es mich ein / Mitten in den Massen bin ich | |
allein / Tausende Gesichter / Nirgendwo deins / Ich hab kein Zuhaus / Wenn | |
du nicht bleibst. | |
Vor zwei Jahren zog Mia Morgan nach Berlin: „Ich habe mich mein Leben lang | |
für den Hauptcharakter gehalten. Aber in Berlin wohnen nur | |
Hauptcharaktere.“ Sie fühlt sich überfordert, findet keine bezahlbare | |
Wohnung, berichtet von finanziellen Sorgen, oberflächlichen Beziehungen. | |
Heute wohnt Mia Morgan wieder in ihrer Heimatstadt Kassel. Die Fantasie des | |
verlorenen jungen Künstlermädchens, das sich in der Welt durchboxt, habe | |
sie inzwischen abgelegt. | |
Rockstar, Schauspielerin, Bestsellerautorin – Mia Morgan wollte am liebsten | |
alles gleichzeitig werden. Sie sei das „klassische Einzelkind“ gewesen, | |
drängte sich in den Mittelpunkt. Sie sang im Chor, später in Bands, spielte | |
Instrumente und Theater, schrieb Prosatexte. Ihre ersten Demos, damals noch | |
auf Englisch und mit Hilfe von Tupperware als Drums eingespielt, postete | |
sie auf Tumblr. Sie wollte sein wie die Frauen auf den Postern in ihrem | |
Zimmer. „Scheiße, dass das kein Ding mehr ist.“ Mia Morgan als Poster, | |
„saugeil“ wäre das, lacht sie. | |
Mia Morgan inszeniert sich selbstbewusst in ausgefallenen Korsetts, in Lack | |
und Leder, in Rüschenblüschen. In der Vergangenheit aber haderte sie mit | |
ihrem Selbstbild, Essstörungen und psychische Probleme überschatteten ihre | |
Jugend. An dem Gefühl, nicht schön genug zu sein, beiße sie sich bis heute | |
die Zähne aus. „Wir lügen uns selbst in die Tasche, wenn wir behaupten, | |
nicht aufs Äußere zu achten.“ Mit kosmetischen Eingriffen geht sie offen | |
um, wünscht sich aber ein diverseres Verständnis von Schönheit, weg von | |
eurozentristischen Standards. | |
25 Festivals haben Mia Morgan und ihre Band in diesem Sommer gespielt. Ihr | |
Publikum: Mal „middle-aged people“ auf baden-württembergischen | |
Kleinstadtfesten, mal 17.000 Menschen in der Wuhlheide, wo sie mit | |
Kraftklub den gemeinsamen Song „Kein Gott, kein Staat, nur Du“, performte. | |
Im November ging sie auf ihre bisher größte Tour. | |
Hat sich Mia Morgans Kindheitstraum mit 29 erfüllt? Nein, sagt sie, sie | |
will weitermachen. Für alles andere würde ihr die sechs Jahre alte | |
Vergangenheits-Mia auch „gegen's Schienbein treten“. | |
30 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Neues-Album-von-Rockband-Die-Nerven/!5887697 | |
## AUTOREN | |
Lea Fiehler | |
## TAGS | |
Musik | |
Feminismus | |
Gleichberechtigung | |
Experimentelle Musik | |
taz Plan | |
taz Plan | |
taz Plan | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neue Musik aus Berlin: Leben im Fahrstuhl | |
Das Berliner Quartett Sex Beat liefert mit seinem Debüt „Call Me“ ein | |
zeitgemäßes Post-Hardcore-Album ab. Am Werk sind dabei alte Bekannte. | |
Neue Musik aus Berlin: Introspektiv am Schlagzeug | |
Indie-Schlagzeuger Robert Kretzschmar legt sein Debüt „Homecoming“ vor. | |
Statt großem Spektakel wählt er bedachte Texte und folkig fordernde Töne. | |
Neue Musik aus Berlin: Luftig und dialektisch | |
Vor 15 Jahren spielte sie in einer Swingband. Heute ist die | |
Multiinstrumentalistin Kiki Bohemia subtil noiseaffin unterwegs. |