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# taz.de -- Hohe Kosten für Haustiere: Unsere teuren Begleiter
> Wenn das geliebte Haustier zum Arzt muss, kann es schnell teuer werden.
> Und die Kosten steigen immer weiter. Wie viel ist uns ein Tierleben wert?
Bild: Kao Drozd mit seinem Hund
Sunny war auch schon mal besser drauf. Seit einer Weile frisst sie nicht
mehr gut und hat deutlich abgenommen. Ihre hellgrünen Augen sind so wach
wie immer, auch das getigerte Fell glänzt, aber ihr Wesen hat sich
verändert. Sunny zieht sich nun öfter mal zurück. Außerdem spart sie sich
immer häufiger ihre „Zoomies“, diese fünf Minuten, in denen sie wie
angestochen durch die Wohnung jagt.
Bald zehn Jahre schon wohnt Sunny mit Jennifer David zusammen. Und
natürlich weiß David, wenn mit ihrer Katze etwas nicht stimmt. Also kommt
Sandra Gütschow zum Hausbesuch nahe des Leopoldplatzes in Berlin-Wedding
vorbei. Gütschow arbeitet für einen mobilen Tierarzt-Dienst in der
Hauptstadt. Wollen sich Tierhaltende den Stress für sich [1][und ihr
Haustier] in den Wartezimmern der Praxen sparen, rufen sie Gütschow und
KollegInnen. Die fahren dann für Untersuchungen, Behandlungen, Impfungen
und sogar für kleinere Operationen wie Kastrationen von Haus zu Haus.
Sandra Gütschow untersucht Sunny auf Jennifer Davids Wohnzimmertisch und
ertastet bei der Katze etwas im Bauch, das ihr nicht gefällt. „Könnte auch
nur ein Haarknäuel sein“, sagt die Tierärztin, „aber das sollten wir auf
jeden Fall abklären lassen.“ Erstmal Blut abnehmen, dann in einer Klinik
einen Ultraschall machen, rät sie. Jennifer David stimmt sofort zu. „Na
klar. Aber wie viel wird das kosten?“ Festlegen will sich Gütschow nicht,
aber ein paar hundert Euro werden es sicher.
Da muss Jennifer David schlucken. 600 Euro übernimmt ihre
Haustierversicherung noch für dieses Jahr. Alles darüber hinaus wird die
Einzelhandelskauffrau aus eigener Tasche bezahlen müssen.
Tierarztrechnungen betreffen hierzulande fast jeden zweiten Haushalt. Nach
dem letzten, durch Corona ausgelösten Haustierboom leben wir mit mehr als
34 Millionen Hunden, Katzen, Meerschweinchen, Reptilien, Fischen zusammen.
Und die sind nicht gerade billig. Aktuellen Studien zufolge geben ihre
BesitzerInnen [2][rund 6,5 Milliarden Euro pro Jahr] für sie aus.
Was das auf die Lebensdauer eines einzelnen Haustiers gerechnet bedeutet,
hat [3][kürzlich ein Verbraucherportal ermittelt]. Schildkröten kamen mit
ihrer hohen Lebenserwartung auf fast 30.000 Euro, gefolgt von Hunden mit
knapp 17.000 Euro und Katzen mit etwa 10.000 Euro. Die wenigsten
HalterInnen haben sich das ausgerechnet, bevor ihr Tier ins Haus kam.
Und nun sind auch noch die Kosten für den Tierarzt deutlich gestiegen.
[4][Verantwortlich dafür ist eine neue Gebührenordnung,] die Ende
vergangenen Jahres in Kraft getreten ist. Sie legt verbindlich fest, wie
viel eine tiermedizinische Behandlung kosten darf, nach Art der
Untersuchung, Zeitaufwand, Schwierigkeit des Eingriffs und Spezialisierung
der Praxen und Kliniken.
Zum ersten Mal seit über 20 Jahren wurden die Kosten neu ermittelt. In
dieser Zeit hat sich die Veterinärmedizin den Standards der Humanmedizin
angenähert. Es gibt bessere Medikamente, bessere Geräte, Chemotherapien für
krebskranke Katzen und minimalinvasive Bandscheiben-OPs für Zwergdackel.
Selbst Kaninchen werden ins MRT geschickt oder digital geröntgt. Natürlich
sind die Behandlungskosten dabei gestiegen, teilweise um den doppelten und
dreifachen Satz. Aber eine Hunde-OP für 2.500 Euro muss man sich erst mal
leisten können, und wenn ein Tier lange in Behandlung bleiben muss, kann es
noch teurer werden.
Was ist uns so ein Tierleben eigentlich wert, wenn uns das Tier ans Herz
gewachsen ist? Und warum hegen und pflegen wir manche Tiere wie unsere
nächsten Angehörigen, während wir andere nur als ein Produkt betrachten?
Katze Sunny ist von Tierärztin Sandra Gütschow inzwischen in einen
neongrünen Katzensack gepackt worden. Ein Katzengesicht mit weißer Nase und
weißem Latz schaut aus dem einen Ende der Zwangsjacke, aus dem anderen Ende
der getigerte Schwanz. So sitzt Sunny als kratz-, beiß- und
fluchteingeschränktes Katzenpaket auf dem Wohnzimmertisch. Nur ein leises
Knurren und ein halbes Fauchen bleiben ihr, man kann es Sunny nicht
verübeln.
Jennifer David streichelt Sunnys Kopf, versucht ihre Katze und sich selbst
zu beruhigen. Die Tierärztin rasiert an Sunnys linkem Vorderbein eine Vene
frei. Die Nadel sitzt. Ein paar dicke Tropfen Katzenblut rinnen in ein
Fläschchen. Dann öffnet Sandra Gütschow die Klettverschlüsse, Sunny flieht
nörgelnd vom Tisch und schüttelt ihr Bein aus. Fürs Erste hat sie es
überstanden, Jennifer David ist erleichtert.
In ihrem Auto tippt Tierärztin Gütschow einen Bericht in ihr Smartphone und
schickt über die App des mobilen Tierarztdienstes die Rechnung an Jennifer
David raus. Dann checkt sie ihre nächsten Termine. „Der Hund, der im
Wartezimmer zu viel Angst hat, oder die Katze, die in der Box rebelliert,
das sind unsere typischen Patienten“, sagt Gütschow. Als nächstes steht die
Grundimmunisierung zweier Katzenwelpen an. Einer der angenehmen
Hausbesuche. „Einmal Impfen und Geschlechter bestimmen, dann kann sich das
Frauchen schon mal passende Namen aussuchen“, sagt sie, gibt die Adresse
ins Navi ein und startet den Motor.
Sandra Gütschow liebt ihren Job, die Nähe zu den Tieren, den Kontakt mit
den Menschen. Vor dem mobilen Dienst in Berlin hatte sie schon ein paar
Jahre in einer Praxis in Sachsen-Anhalt gearbeitet. Der Praxisalltag war
stressiger, vor allem dann, wenn das Wartezimmer voll war, aber zu wenig
Personal im Dienst. „Im mobilen Dienst ist das etwas entspannter“, sagt
sie. „Die Patienten wissen, wann sie dran sind. Außerdem kommen keine
absoluten Notfälle dazwischen.“ Eine Operation an einem verletzten Tier,
bei dem jede Sekunde zählt, ist nach wie vor ein Fall für die Klinik.
## Nicht nur ein Traumjob
Die Klein- und Heimtierklinik der Freien Universität Berlin ist in einem
grün-weißen Flachbauklotz untergebracht. Die FU bildet hier Studierende der
Veterinärmedizin aus und forscht. Und natürlich werden auch Hunde und
Katzen behandelt, außerdem Kleinsäuger wie Hamster und Ratten, Vögel,
Reptilien und Wildtiere. „Den wenigsten Leuten ist klar, was die
Behandlungen mit Arbeitszeit, Geräten, Material und Medikamenten kosten“,
sagt Barbara Kohn, selber Tierärztin und geschäftsführende Direktorin der
Klein- und Heimtierklinik.
Wenn wir selbst zum Arzt gehen, sehen wir die Kosten in der Regel nicht.
Wir geben unsere Gesundheitskarte ab, den Rest regeln die gesetzlichen
Krankenkassen und die Kassenärztliche Vereinigung unter sich. Wie viel
kosten eine Impfung, eine Zahnfüllung, ein EKG oder eine Operation? Auf der
Tierarztrechnung wird so etwas sofort klar: Allgemeiner Check 50 Euro,
Blutbild 70 Euro, Ultraschall bis zu 170 Euro, Kastration Kater 200 Euro,
Sterilisation Hündin 1.000 Euro. Kreuzbandriss-OP inklusive
Inhalationsnarkose, Material und Medikamente: 1.500 bis 4.000 Euro. Da kann
es schnell passieren, dass Herrchen oder Frauchen an ihre finanziellen
Grenzen kommen.
„Für die Kolleginnen und Kollegen in den Praxen war die neue
Gebührenordnung überlebenswichtig“, sagt Barbara Kohn. Schließlich müsse …
TiermedizinerInnen in privaten Praxen gelingen, dass es nicht nur den
Tieren gut geht, sondern auch den Unternehmen. Viele ÄrztInnen hätten das
bei den alten Gebühren nicht mehr länger stemmen können.
Insbesondere in ländlichen Regionen hängt eine Praxis oft an einer
einzelnen Person. Die Einnahmen reichen nicht für zusätzliches Personal,
was einen 24-Stunden-Dienst unmöglich macht. Dann überarbeiten sich manche
private TierärztInnen, um ihren Betrieb zu erhalten. Oder sie machen ihre
Praxis dicht oder [5][verkaufen sie an eine Tierarztkette, die mehr
Finanzkraft hat].
Der Beruf des Tierarztes ist nicht nur ein Traumjob, er ist auch ziemlich
hart. Wer ihn machen will, braucht ein hervorragendes Abitur oder viele
Wartesemester. Nach mindestens elf Semestern an der Uni geht es dann in die
Praxis. Das Bruttoeinstiegsgehalt ist mit 3.500 Euro überschaubar,
alternativ bleibt gleich der riskante Gang in die Selbstständigkeit.
In beiden Fällen hinzu kommen Überstunden und die nicht zu unterschätzende
emotionale Belastung, für Tier und Mensch verantwortlich zu sein. „Hinter
jedem Tier steht ein Mensch“, sagt Klinikdirektorin Barbara Kohn. „Sie
hängen an ihren Tieren, machen sich Sorgen, müssen beruhigt werden,
brauchen Rat oder auch Beistand.“
Tiermedizin ist gleichzeitig Seelsorge. Manchmal müssen MedizinerInnen und
Tierhaltende gemeinsam abwägen, welche Behandlungen überhaupt Sinn machen.
Manchmal sind Tiere, die sich über die Jahre in nahezu gleichwertige
Familienmitglieder verwandelt haben, [6][nicht mehr zu retten].
Internationale Studien kommen zu dem Ergebnis, dass VeterinärmedizinerInnen
[7][ein doppelt so hohes Suizidrisiko wie ÄrztInnen haben und ein viermal
so hohes wie die Allgemeinbevölkerung].
In einer großen Klinik hingegen gibt es auch ruhigere Tage. Die Technik und
die Medikamente stehen bereit, ebenso deutlich mehr Fachkräfte. So können
Dr. Kohn und ihre KollegInnen auch mehr Zeit in die Vorsorge investieren,
wenn sich das die Tierhaltenden wünschen.
Kao Drozd kommt mit seinen drei Berner-Sennenhund-Retriever-Mischlingen
regelmäßig zum Routinecheck. Der Mann wartet im Behandlungszimmer auf einem
Stuhl am Fenster. Hündin Moria hat sich schon brav auf den Tisch gelegt,
sie kennt den Ablauf. Ihre Kinder Schaschlik und Blitzie, auch schon längst
erwachsen, spazieren neugierig durch den Raum. Dieses Mal ist Drozd mit
ihnen hier, weil ihm aufgefallen ist, dass sie sich seit dem Toskanaurlaub
häufiger an den Ohren kratzen als sonst.
Barbara Kohn tastet Morias Ohrmuscheln ab und sammelt mit einem Stäbchen
ein bisschen Ohrenschmalz. Eine Kollegin verschwindet mit den Abstrichen
ins Labor. Dort fixiert sie die Proben auf einem Träger, färbt sie ein und
untersucht sie unter dem Mikroskop. „Nichts Ernstes“, sagt sie, „aber in
den Ohren reichlich Malassezia.“ Hefepilze. Die können sich gut bei Wärme
und Feuchtigkeit ausbreiten, wie bei einem Urlaub am Mittelmeer.
Die Tierärztin checkt die Impfpässe und klärt Drozd über die zuletzt
angestiegenen [8][Babesiose-Fälle] im Raum Berlin auf. Die auch als
Hundemalaria bekannte Krankheit wird durch die Bunt- und Wiesenzecke
übertragen. Nach jedem Ausflug ins Grüne müssen die Drei unbedingt auf
Zecken untersucht und mit Medikamenten zum Einnehmen oder Auftragen
geschützt werden, klärt sie ihr Herrchen auf. Dann geht es zum Ultraschall.
Schaschliks kleine Zyste sieht weiterhin unbedenklich aus. Der Rüde
winselt, der Arztbesuch mit dem ständigen Stillhalten wird ihm langsam zu
viel.
Kao Drozd vergräbt sein Gesicht in Schaschliks Fell, Mensch und Hund
schließen die Augen und atmen tief durch.
Nach einer knappen Dreiviertelstunde ist die Rundumversorgung
abgeschlossen. Die Tierärztin [9][belohnt die Hunde mit ein] paar
Leckerlis, schon ist die Stimmung wieder bestens. „Ist das nicht ein toller
Beruf?“, fragt sie schmunzelnd in den Raum.
## Manchmal fehlt das Geld doch
Zwei-, dreimal im Jahr kommt Kao Drozd mit seinen Hunden in der Tierklinik
der FU vorbei. „Für Tierarztbesuche zahle ich über 1.000 Euro im Jahr“,
sagt er. „Aber das ist es wert, Frau Kohn und ihr Team kümmern sich um
alles.“ Sowieso sind ihm die drei Hunde viel wert: Sie bekommen
hypoallergenes Diätfutter, weil sie rotes Fleisch nicht gut vertragen.
Natürlich geht das ins Geld. Dazu die Steuern, der Tierarzt, ab und zu
Spielsachen. „Man muss finanziell gut aufgestellt sein, wenn man drei große
Hunde hat“, sagt Kao. „Aber die drei sind wie unsere Kinder, wir tun alles
für sie.“
In Kürze ziehen er und sein Partner sogar für sie um. Genauer gesagt für
Moria, die Hundemama, weil die mit ihren zwölf Jahren zunehmend schwerer in
den fünften Stock der gemeinsamen Altbauwohnung in Berlin-Kreuzberg kommt.
Also haben ihre beiden Herrchen entschlossen, ein Haus in Bestensee zu
kaufen, wo es viel mehr Platz und weniger Stufen gibt.
„Geld spielt keine Rolle, wenn es um meine Katzen geht“, sagt auch Jennifer
David aus dem Wedding. Sunny ist ganz auf ihr Frauchen fixiert. Sie war
eine Problemkatze, zu früh von der Mutter weg, das Immunsystem vom
Katzenschnupfen angegriffen. Jennifer David hat sich um Sunny gekümmert –
und Sunny wusste das immer zu schätzen. Ist Frauchen zu Hause, weicht ihr
die Katze nicht von der Seite. Nicht einmal in der Küche beim Zwiebeln
schneiden, wenn Sunny ihre Zuneigung mit zusammengekniffenen Augen zeigen
muss.
In anderen Fällen fehlt das Geld aber eben doch. Sandra Gütschow und ihre
KollegInnen müssen häufiger mit den TierhalterInnen besprechen, welche der
vielen zur Verfügung stehenden Behandlungen sich diese überhaupt leisten
können. Einmal Krallen kürzen, eine Beratung oder eine Impfung, das geht
noch nicht so sehr ins Geld. Bluttests sind durch die gestiegenen
Laborkosten schon problematischer. Und was, wenn ein Tier operiert werden
oder viele Tage in Intensivpflege gehen muss?
Eine OP sei deshalb so teuer, weil das Tier nicht wie früher einfach
festgeschnallt und betäubt, sondern von einer zusätzlichen Fachkraft
intubiert und per EKG überwacht wird. In einer Klinik operieren auch mal
zwei ChirurgInnen zeitgleich am selben Tier. Sie verwenden Instrumente,
verbrauchen Medikamente – ganz zu schweigen von der Materialschlacht an
sterilen Einwegartikeln: Kittel, Handschuhe, Maske. Die Rechnung für alles
ist am Ende schnell vierstellig.
Der Bund angestellter Tierärzte – und mit ihm die gesamte Heimtierindustrie
– rät zu Haustierversicherungen. Deren Kosten hängen oft von Alter, Rasse
und der Haltung des Tieres ab. Freigängerkatzen werden teurer versichert
als Stubentiger. Qualzuchten wie Mops und Bulldogge oder Reinrassen wie
Labrador kosten mehr, weil sie im Durchschnitt häufiger zum Tierarzt
müssen. Es gibt teure Versicherungen mit Krankenvollschutz, die
Operationen, Diagnostiken und Nachbehandlungen mit einschließen. Eine
jüngere Katze kann dann um die 130 Euro Versicherung im Jahr kosten, ein
alter Hund über 1.000 Euro. Günstiger sind Versicherungen, die nur
medizinisch notwendige Eingriffe abdecken. Oft müssen dann Impfungen,
Chippen oder die Kastration selbst bezahlt oder eine OP anteilig übernommen
werden.
In Deutschland sind dennoch nicht viel mehr als 10 Prozent der Haustiere
versichert. Der Rest kommt privat für die Kosten auf. Die einen geben bald
mehr Geld für ihr Tier aus als für sich selbst: gesündere Nahrung,
Bekleidung und Decken ohne Giftstoffe, Besuche beim Fellstylisten,
regelmäßige Sportangebote, ein größerer Käfig, eine bessere Beleuchtung f�…
das Meerwasseraquarium, neue Kratzmöbel für das Katzenkletterzimmer,
Psychotherapie für traumatisierte Hunde. Nach Feierabend noch einmal kurz
in den Heimtierladen, ein kleines Geschenk mitbringen. Wie ein Spielzeug
für das Kind. Nicht jeder kann sich das leisten und gibt trotzdem alles für
die Tierliebe, in krassen Fällen manchmal buchstäblich sein letztes Hemd.
Die besondere Beziehung zwischen dem Menschen und seinem Haustier wird
schon lange von WissenschaftlerInnen untersucht. Einen Ansatz zu ihrem
Ursprung lieferte der Soziobiologe Edward O. Wilson Mitte der 1980er-Jahre.
In seiner Biophilie-Hypothese geht er davon aus, dass Menschen ein
angeborenes Interesse an der Natur haben und eine grundlegende
Verbundenheit zu allem spüren, das lebt. Der Mensch beobachtet die Natur –
und achtet das Leben, zunächst.
Durch diese Verbindung sind Mensch und Wolf einst auf der Suche nach
Nahrung eine Partnerschaft eingegangen, in der der Mensch die schärferen
Sinne des Wolfs nutzte und der Wolf die Jagdtaktiken und den Schutz des
Menschen.
Auch in der Verhaltenspsychologie wird viel darüber spekuliert, wie die
unterschiedlichen Spezies über die Jahrtausende aneinander gewachsen sind.
Fest steht: Die Nachfahren des Wolfes haben nicht ohne Grund Gesten, Mimik
und Dutzende Wörter der Menschen zu verstehen gelernt – und wie sie uns per
Hundeblick dahinschmelzen lassen. Bald hat der Hund zuverlässig das Vieh
gehütet und vor Gefahren gewarnt. Mensch und Tier: eine
Überlebensgemeinschaft.
Wahrscheinlich war es auch der Hund, der es dem Menschen überhaupt erst
möglich gemacht hat, Siedlungen zu bauen sowie zunächst Tierzucht und
später Ackerbau zu betreiben. Durch ihn konnte der Mensch dazu übergehen,
Tiere nicht mehr zu jagen, sondern zu pflegen, zu züchten – und vor
Raubtieren zu beschützen. Und wahrscheinlich war es auch der Umgang mit
Tieren, durch den der Mensch seine sozialen Fähigkeiten geschult und
verbessert hat.
So kommt die nächste Zusammenarbeit zwischen Mensch und Tier ins Spiel. Die
Geschichte der Hauskatze wird eher ein Fall der Selbstdomestizierung
gewesen sein, vermutet die Wissenschaft. Das unabhängige Wesen der Katzen
und unsere Akzeptanz ihrer genügsamen bis ignoranten Eigenart spricht
Bände. Seit wann die Katze den Menschen als Haustier begleitet, ist noch
nicht genau eingegrenzt. Doch in der Archäologie ist bekannt, dass die
Tiere bereits bei der Besiedlung Zyperns vor 15.000 Jahren eine Rolle
gespielt haben. Die Falbkatze war dort nicht heimisch. Und ohne die Boote
der ersten Siedler wären Katzen nicht auf die Insel gelangt.
Die Katzen jagten die Schädlinge, die die Ernte in den Siedlungen
ruinierten – und schlichen sich in die Herzen unserer Vorfahren. Ältere
Katzen, die nicht mehr auf die Jagd gingen, wurden offenbar mit den
Essensresten der Menschen gefüttert. Uralte Katzenknochen geben Hinweise
darauf, dass sich die Tiere neben den Ratten und Mäusen offenbar auch viel
von Hirse ernährten.
Mit der Industrialisierung kommt uns schließlich die von Wilson postulierte
Verbundenheit zur Natur nach und nach abhanden. Nutztiere werden zu
Produkten. Die Liebe zum Haustier aber bleibt. So gelangen Tierarten in die
Wohnungen, die auch auf kleinerem Raum gehalten werden können. Hunde,
Katzen – und noch ein paar, die hinter Gitter und Glas passen und hübsch
anzuschauen sind. Die beobachtet, füttert und pflegt der Mensch, bis dieser
eine persönliche Beziehung zu ihnen entwickelt und das niedere Wesen zum
Individuum aufsteigt.
Trotzdem denkt der Mensch lange, er sei mehr wert. Schon im Diskurs der
frühzeitlichen Philosophie erläutern die alten Denker, wie uns erst die
Abgrenzung vom Tier zum Menschen macht: Aristoteles beginnt den
Differentialismus, indem er Tieren die Vernunft abspricht. Später
beschreibt Descartes Tiere als komplexe Automaten ohne Bewusstsein und
Seele. Kant sagt, nur vernunftbegabte Wesen können auf moralisch relevante
Weise geschädigt werden. Sein berühmter Imperativ, nach dem wir stets nur
so handeln sollen, wie wir es auch als allgemeines Gesetz vertreten würden,
ist letztlich eine versöhnende Beschwichtigung: Folglich dürfen wir Tiere
deshalb nicht schlecht behandeln, weil wir selbst dadurch verrohen und
Gefahr laufen, auch unsere Mitmenschen schlecht zu behandeln.
Doch dann gerät der Mensch als Maß aller Dinge auf den Prüfstand. Durch den
Schaden, den er anrichtet, fällt er in seiner Moral als unmenschlicher
Zerstörer der Welt ab. Währenddessen werden Tiere besser erforscht und ihre
kognitiven Fähigkeiten erkannt. Tiere nutzen Werkzeuge, kommunizieren,
verfügen über soziale Kompetenzen, haben Mitleid, trauern umeinander.
Der arrogante Differentialismus weicht dem Assimilationismus: Eigentlich
gibt es gar keinen eindeutigen Unterschied zwischen Mensch und Tier.
Philosophen des 20. und 21. Jahrhunderts wie der US-Amerikaner Tom Regan
oder der Australier Peter Singer, beides Koryphäen für aufgeklärte
VeganerInnen, schreiben Tieren Bedürfnisse und Rechte zu. Ein Tier, das
Freude und Glück empfindet, müsse auch ein Interesse daran haben, nicht zu
leiden. Damit erhält das Tier moralische Rechte, die verletzt werden,
sobald der Mensch es nutzt. Für triviale Zwecke dürfe der Mensch fortan
keinem Tier Leid zufügen.
Um diesem moralischen Dilemma zu entgehen, ziehen die meisten von uns eine
willkürliche Grenze. Die moralischen Rechte gelten vor allem für jene
Tiere, die uns nahestehen.
Indem wir zwischen Haustieren und Nutztieren unterscheiden, ist es uns
möglich, das eine Tier zu essen, während wir das andere Tier streicheln.
Das ist durchaus eigennützig, das Streicheln tut uns gut. Wir streicheln
das Tier – und gleichzeitig unsere Seele. Durch die Berührung schütten wir
Oxytocin aus. Das Kuschelhormon hält eigentlich Paare zusammen und bindet
Eltern an ihr Kind. Es wirkt aber auch artübergreifend.
Flauschen wir ein warmes Fell, sinken Stress und Blutdruck. Tiere, die sich
in unserer Nähe wohl fühlen, beruhigen uns. Öffnen wir daraufhin unser Herz
und geben dem Tier einen Namen, gehen wir eine Beziehung aus gegenseitiger
Vertrautheit, Zuneigung und Fürsorge ein. Somit könnte man auch das
Haustier als Nutztier betrachten, da wir es zu Gunsten unseres
Wohlbefindens halten. In Befragungen antworten Herrchen und Frauchen, ihre
Tiere würden sie aktiver und geselliger machen.
Gesundheitsdaten belegen, dass die Aufenthaltszeiten in Krankenhäusern von
Tierhaltenden kürzer sind. Ob ein Haustier dem Menschen aber generell gut
tut, ist schwierig wissenschaftlich zu erfassen. Die Untersuchungen sind
Momentaufnahmen. Schließlich steht den Glücksmomenten mit dem Tier
einerseits die Mühe gegenüber, dem Schützling mit seinen Bedürfnissen
gerecht zu werden. Und andererseits der aufreibende Leidensweg, wenn
[10][das geliebte Haustier ernsthaft krank wird].
Ein paar Tage später ist Sunny wieder beim Tierarzt. Die Laborwerte sehen
nicht gut aus, ebenso die Bilder aus dem Ultraschall. Die Tierärzte sagen,
für eine genaue Diagnose müssten sie eine Gewebeprobe entnehmen. Aber alles
deutet auf ein gastrointestinales malignes Lymphom hin, Lymphdrüsenkrebs,
typisch bei älteren Katzen. Dann könnte man wahlweise mit Cortison
behandeln oder eine Chemotherapie beginnen. Das eine verlängert das
Katzenleben vielleicht um ein paar Wochen oder Monate, das andere
vielleicht um ein Jahr oder mehr. Aber die 15, 16 Jahre, die eine gesunde
Hauskatze im Durchschnitt alt werden kann, würde Sunny nicht erreichen.
Jennifer David und die Fachkräfte wägen ab. Beide Parteien sprechen mal in
reiner Vernunft, mal aus dem Herzen heraus. Ein Menschenleben würde man so
lange wie möglich am Leben halten, ob der Mensch nun will oder nicht. Aber
was ist mit dem Tier, das sachliches Eigentum und Lebenspartner
gleichermaßen ist? Was ist das Beste für Sunny?
Jennifer David schaut ihrer tierischen Begleiterin in die Augen und fasst
einen Entschluss. „Ich möchte das nicht. Ich kenne sie.“
Wenn Sunny nach der Operation wieder ganz die Alte gewesen wäre, hätte sie
weiteren Behandlungen zugestimmt. Doch so entscheidet sie sich gegen den
Eingriff und weitere Therapien.
Eine Woche nach der Diagnose wird Sunny eingeschläfert. „Vielleicht hätten
wir ihr Leben ein wenig verlängert, vielleicht aber auch nur ihre
Schmerzen“, sagt Jennifer David. Natürlich bricht es ihr das Herz, dass sie
Sunny verloren hat. „Aber Tierliebe bedeutet auch, dein Tier nicht leiden
zu lassen.“
14 Nov 2023
## LINKS
[1] /Haustiere/!t5022883
[2] https://www.ivh-online.de/der-verband/daten-fakten/der-deutsche-heimtiermar…
[3] https://www.heimwerker.de/hundefutter-test/#Haustier_Boom_in_Corona_Zeiten_…
[4] https://www.bundestieraerztekammer.de/tieraerzte/beruf/got/
[5] https://www.gesundheitsmarkt.de/liste-groessten-betreiber-tierarztpraxen/
[6] /Der-Hausbesuch/!5935455
[7] https://www.wsava.org/wp-content/uploads/2020/12/Veterinary-Record_Veterina…
[8] https://biermann-medizin.de/die-babesiose-des-hundes-vorbeugen-ist-besser-a…
[9] /Polemischer-Blick-auf-den-Hund/!5950481
[10] /Wie-Tiere-unter-Hitze-leiden/!5947461
## AUTOREN
Philipp Brandstädter
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