# taz.de -- Tiervideos in Social Media: Grausame Mood-Booster | |
> Kaum etwas kommt im Netz so gut an, wie Tiervideos. Ab wann wird aus | |
> süßen Inszenierungen Tierquälerei? | |
Bild: Immer wieder werden Makaken für Likes missbraucht | |
Zwei Äffchen gehen Hand in Hand auf ihren Hinterbeinen, sie tragen eine | |
Schuluniform, einen Ranzen auf dem Rücken, bunte Sneaker an den Füßen. „My | |
kids going to school together“, steht darunter. [1][Ein leises Empfinden | |
von Niedlichkeit macht sich breit], doch gleichzeitig ein gewisses | |
Unbehagen: Muss das wirklich sein? | |
Selten offenbart sich ein moralisches Paradox so deutlich wie bei | |
Tier-Content auf Social Media. Der Mensch ist entzückt von süßen Tierbabys, | |
von kuscheligen Kätzchen, die Purzelbäume schlagen, oder vom stolzen | |
Goldie, der seine neuesten Tricks vorführt. Doch dabei verschwimmen die | |
Grenzen zwischen Unterhaltung und Grausamkeit. | |
In den vergangenen Wochen rückten die Makaken, eine Primatengattung eng | |
verwandter Affenarten, die vorwiegend in Asien leben, in die mediale | |
Aufmerksamkeit. Anstoß dafür war der Bericht „Das Leiden von Makaken für | |
Social-Media-Content“ der Social Media Animal Cruelty Coalition (SMACC), | |
einem Verbund, dem 20 Tierschutzorganisationen weltweit angehören und der | |
gegen Online-Tierquälerei vorgehen will. Untersucht wurden 1.266 Videos auf | |
Facebook, Instagram, Youtube und Tiktok. Sie zeigen Äffchen, die wie Puppen | |
in Kleider gesteckt, mit Wasser und Seife gebadet oder wie Menschenbabys | |
mit der Flasche gefüttert werden. Aber auch sexueller Missbrauch, | |
scheinbare Betäubungen und andere brutale Praktiken bis zur Tötung sind zu | |
sehen. Manche Affen machen den Anschein, als stünden sie unter Drogen. | |
Trotzdem werden die Inhalte millionenfach angesehen, geteilt und gelikt. | |
## Wie viel Spaß haben die Tiere? | |
Dass der Mensch von Tierbildern fasziniert ist, ist nichts Neues. Ganz im | |
Gegenteil, sagt Mieke Roscher. Die Dozentin für Human-Animal-Studies an der | |
Uni Kassel forscht zu interspezifischen Praktiken und deren historischem | |
Wandel. Tier-Inhalte auf Social Media seien lediglich eine Erweiterung | |
dessen, was es schon immer gab, nämlich „dass wir über die Bildnisse von | |
Tieren das Menschliche ausdrücken wollen“. Das könne man bis in die | |
Steinzeit zurückverfolgen: „Das erste Bild, das die Höhlenmalerei | |
darstellt, ist ein Tier. Auch aus dem Mittelalter kennen wir vermehrt | |
Tierdarstellungen“, sagt die Forscherin. Doch im Unterschied zu damals | |
müssen für den heutigen Tier-Content reale Lebewesen vor die Kamera treten. | |
Wobei oft unklar ist, ob das Tier genauso viel Spaß an der Sache hat wie | |
der filmende oder schauende Mensch. | |
„Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder | |
Schäden zufügen“, so der erste Artikel des Tierschutzgesetzes. Kritisch | |
wird das vor allem dann, wenn Tiere für irgendwelche Challenges missbraucht | |
werden – wenn auch hier das Leid oft subtil und nicht sofort erkennbar ist. | |
Sind Likes auf Tiktok ein vernünftiger Grund, um Kühe mit lauten | |
„Kulikitaka“-Rufen, angelehnt an das Lied des karibischen Musikers Toño | |
Rosario, zu erschrecken? Oder um eine Katze am Hals zu packen, in die Luft | |
zu heben und im Kreis herumzuwirbeln, während im Hintergrund die | |
herzzerreißenden Klänge [2][von Taylor Swifts Song „August“ laufen?] | |
Rechtfertigen Likes die #barkatyourdog-Challenge, bei der | |
Hundebesitzer:innen ihre Vierbeiner anbellen, sie durch schnelle, | |
unkontrollierte, plötzliche Bewegungen erschrecken und offensichtlich in | |
Angstzustände versetzen? | |
Die Liste an Beispielen für Trends und Challenges ist lang, der Widerspruch | |
bleibt der gleiche: Manche Menschen lassen ihre vermeintlich besten | |
Freund:innen für mehr Reichweite in den sozialen Netzwerken leiden. Und | |
andere Menschen schauen ihnen dabei gerne zu. Wiebke Plasse von der | |
Welttierschutzgesellschaft, die als einzige deutsche Organisation der SMACC | |
angehört, sieht darin nicht unbedingt eine Boshaftigkeit von Seiten der | |
Halter:innen, sondern viel mehr eine „Ignoranz und eine blanke Unwissenheit | |
über die Bedürfnisse und Empfindungen der Tiere und vor allem ihr | |
Kommunikations- und Ausdrucksverhalten“. | |
## Mitgefühl für wen? | |
Besonders fragt sich die Tierschützerin, wann und wo das menschliche | |
Mitgefühl für Tierleid verloren gegangen sei. „Kinder lernen in | |
farbenfrohen Bauernhof-Welten oder über Streichelzoo-Besuche Tiere lieben. | |
Gleichwohl entfremden sie sich mit jedem Tag von den Tieren – wir | |
streicheln Hund, Katze, Pferd und schlachten Rind, Schwein und Co. Warum | |
verteilt sich unser Mitgefühl hier unterschiedlich?“ | |
Der britische Kunsttheoretiker John Berger beschrieb bereits 1981 in seinem | |
Essay „Warum sehen wir Tiere an?“ diesen ihm zufolge immer schon | |
dagewesenen [3][Dualismus im Umgang mit Tieren:] „Sie wurden unterworfen | |
und verehrt, gezüchtet und geopfert.“ So habe ein Bauer etwa sein Schwein | |
gern und freue sich doch, dessen Fleisch einzupökeln. | |
Die Zahl an Vegetarier:innen steigt: 8,12 Millionen sind es derzeit in | |
Deutschland, 220.000 mehr als im vorigen Jahr. Etwa eineinhalb Millionen | |
Menschen verzichten sogar auf jegliche Produkte tierischer Herkunft. Die | |
Menschen behüten ihre Haustiere mit allen Mitteln, lassen sie im | |
Krankheitsfall operieren und betrauern ihren Tod wie den eines engen | |
Verwandten. Und trotzdem: 12.054.378.907 – so oft wurden die von der SMACC | |
untersuchten Makaken-Videos aufgerufen. Faszination und Mitleid liegen | |
manchmal nah beieinander. | |
Laut Plasse müsse in der gesamten Thematik deutlich unterschieden werden | |
zwischen Inhalten, die zur Reichweiten-Gewinnung und Unterhaltung erstellt | |
werden und jenen, die informativen und dokumentarischen Zwecken dienen. | |
Manche Videos geben hilfreiche Tipps zur artgerechten Haltung von Tieren | |
oder erläutern Tierschutzproblematiken. Auch finden sich viele Tierfotos | |
und -videos, für die kein Lebewesen leiden musste, die tatsächlich einfach | |
nur niedlich sind – nicht mehr und nicht weniger. | |
## Respektloser Umgang | |
Forschende der University of Leeds erkannten in solchen Inhalten sogar | |
einen gesundheitlichen Nutzen: Das Anschauen von süßen Tieren, egal ob auf | |
Fotos oder in Videos, soll das Stressniveau um bis zu 50 Prozent absenken. | |
Der Blutdruck der für die Studie untersuchten Personen fiel genauso wie | |
deren Angstzustände, die allgemeine Stimmung stieg hingegen an. In | |
krisengebeutelten Zeiten wie der heutigen sind solche Inhalte leicht | |
zugängliche, kostenfreie und gesundheitlich unbedenkliche Mood-Booster. | |
Die Professorin Roscher erkennt noch weiteres Potenzial: „Auf Instagram | |
oder Twitter hat die Scheu, Hass gegenüber anderen zu verbreiten, enorm | |
abgenommen. Doch bei Bildern von Tieren begibt man sich in eine Art | |
hassfreien Raum, denn unter dem Bild eines süßen kleinen Häschens stehen | |
keine Hasskommentare“, sagt sie. Diesen Raum zurückzugewinnen, der so | |
dominiert ist von Hass und Hetze, das gelinge am ehesten über Tierbilder. | |
Doch bei Videos, die einen respektlosen Umgang mit Tieren abbilden, | |
appelliert die Tierschützerin Plasse für einen Hinweis in Form eines | |
„Disclaimers“. Ist das Tierleid eindeutig erkennbar, etwa in Form von | |
Gewalt oder Missbrauch, oder ist der hinreichende Verdacht auf Tierleid | |
gegeben, geht sie noch einen Schritt weiter: „Die Moderationsteams müssen | |
diese Inhalte löschen und die entsprechenden Erstellenden sperren sowie bei | |
der Strafverfolgung unterstützen, indem sie relevante Informationen mit den | |
Behörden teilen.“ | |
Doch in erster Linie müssten Tiere „als fühlende Wesen mit Bedürfnissen und | |
Schmerzempfinden wahrgenommen und respektvoll behandelt werden“. Erst dann | |
könne Tierleid nachhaltig verhindert werden. | |
15 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Kuschelnde-Tiere-im-Internet/!5858364 | |
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[3] /Quaelerei-in-Schweinebetrieb/!5735235 | |
## AUTOREN | |
Franziska Mayr | |
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