Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ex-Präsident von Georgien über sein Land: „Niedergang staatlich…
> Giorgi Margwelaschwili kritisiert, dass die heutige Regierung sich an
> Russland orientiert. Deutschland sehe das nicht, und ein EU-Beitritt sei
> so noch in weiter Ferne.
Bild: Gegen Russland: Graffiti in Tbilissi zeigen Ukraine-Solidarität und den …
wochentaz: Wie möchten Sie angesprochen werden?
Giorgi Margwelaschwili: Herr Präsident, Herr Margwelaschwili, Herr
Professor – suchen Sie sich aus, was Ihnen am besten gefällt.
Alles klar. Herr Margwelaschwili, die Regierungspartei [1][Georgischer
Traum] driftet mehr und mehr in Richtung Russland ab. Wie ist das zu
erklären?
Zunächst möchte ich an eines erinnern: Als 2013 ein demokratischer
Machtwechsel stattfand, waren diejenigen, die sich in der Opposition um den
Georgischen Traum zusammengefunden hatten, prowestlich orientiert. Unser
Problem war damals nicht der geopolitische Kurs, sondern die
Menschenrechtslage unter dem damaligen Präsidenten Michail Saakaschwili.
Mit den Jahren hat sich das komplett geändert. [2][Bidzina Iwanischwili]
(Gründer des Georgischen Traums, gilt als heimlicher Strippenzieher, Anm.
d. Red.) hat Leute in die Partei gebracht, die das Land stramm in Richtung
Russland führen. Das ist einmal mehr nach dem Beginn von Russlands Krieg
gegen die Ukraine deutlich geworden. Warum das passiert ist, ist schwer zu
sagen.
Sie wurden 2013 zum Präsidenten gewählt, unterstützt vom Georgischen Traum.
Erfreulich war die Zusammenarbeit dann nicht. Wieso?
Iwanischwili meinte mir diktieren zu können, wie ich zu agieren habe. Da
war ich anderer Meinung. Nach zwei Monaten war unsere Kommunikation
beendet.
Wie würden Sie die heutige Situation in Georgien beschreiben?
Ein Niedergang der staatlichen Institutionen. Probleme mit den
Menschenrechten, den Medien. Dazu kommt Korruption. Das ist das russische
Modell politischer Führung, das Wladimir Putin seit dem Jahr 2000
entwickelt hat. Dieses Modell läuft dem historischen Willen des georgischen
Volkes zuwider.
Ein riesiger Rückschritt also?
Eine Katastrophe.
Sie haben Michail Saakaschwili bereits erwähnt. Er sitzt seit 2021 in Haft.
Wie blicken Sie auf den Fall?
Seit dem ersten Tag war ich immer in Opposition zu Saakaschwili. Aber ich
habe ihn in der Haft besucht und sammle Unterschriften, damit er auf freien
Fuß kommt, [3][aus gesundheitlichen Gründen]. Irgendwie ist das eine
Tragödie. Aber blicken wir noch einmal zurück: Wir haben unseren ersten
Präsidenten Swiad Gamsachurdia getötet. Sein Nachfolger, Eduard
Schewardnadse, war Ziel mehrerer Anschläge. Den dritten Präsidenten bringen
wir langsam um, auch durch Folter. Und das wird dann auch noch auf Video
aufgenommen. An all diesen Szenarien war Russland beteiligt. Der Fall
Saakaschwili, wie der Gamsachurdias, hat die Nation gespalten. Auch das ist
katastrophal.
Sie zeichnen ein düsteres Bild. Aber es gibt auch Positives. Proteste haben
dieses Jahr verhindert, dass ein geplantes Gesetz über „ausländische
Agenten“ in Kraft trat.
Sicher, das ist ein kleiner Sieg. Aber angesichts des russischen Kurses der
Regierung bedeutet er nicht viel.
Dennoch gibt es Zivilgesellschaft und Opposition. Wie sollten die vorgehen?
Totale Gegenwehr, und das auf jede erdenkliche Art und Weise.
Protestkundgebungen, Auszug der Parteien aus dem Parlament und keinerlei
Zusammenarbeit mit der Regierung. Da, wo es um eine Konfrontation mit einem
autoritären Regime geht, müssen auch die Formen des Kampfes angemessen
sein. Wer allen Ernstes meint, mit ein paar Änderungen am Wahlgesetz und
einem schönen Programm für Gesundheitsversorgung und Landwirtschaft hier
Wahlen gewinnen zu können, hängt einer Illusion an und hat die Zeichen der
Zeit nicht verstanden. Er hat bereits verloren, weil er Teil des Spiels,
Teil des Systems ist.
Bis Jahresende will sich Brüssel dazu äußern, ob Georgien den
EU-Kandidatenstatus erhält. Wie wird die Entscheidung ausfallen?
Ehrlich gesagt, ich verstehe die Kriterien der EU nicht. Wir sollen ein
12-Punkte-Programm umsetzen, aber das ist meilenweit von der Realität der
georgischen Politik entfernt. Wie bitte soll die Konfrontation entschärft
werden, wenn es politische Gefangene gibt, Medien geschlossen und Politiker
auf der Straße geschlagen werden? Das alles hat etwas Surreales. Was den
Kandidatenstatus angeht, so weiß ich nicht, was kommt. Doch selbst, wenn
man ihn hat, können 15, 16 Jahre vergehen und nichts passiert. Das heißt,
es ändert sich de facto nichts.
[4][Deutschland will Georgien zu einem sicheren Herkunftsland erklären].
Was halten Sie davon?
Für Touristen ist Georgien sicher, nicht aber für diejenigen, die sich an
politischen Prozessen beteiligen wollen. Aber es ist eben leichter, die
Augen vor den Realitäten zu verschließen, so wie der Westen das in den
vergangenen 20 Jahren erfolgreich im Falle Wladimir Putins getan hat. Ich
fürchte, dass deutsche Diplomaten zu häufig Bidzina-Versteher sind.
Seit dem Beginn des Kriegs gegen die Ukraine sind viele Russ*innen nach
Georgien gekommen. Das stößt einem Großteil der Bevölkerung auf. Eine
Gefahr?
Das alles ist eine Farce. Als ob junge Leute, beispielsweise IT-Experten,
ein Problem für uns wären. Wir müssen sie aufnehmen. Diese Menschen
versuchen, nicht zum Mörder zu werden. Jeder von ihnen hier ist einer
weniger an der Front in der Ukraine. Wenn wir die Möglichkeit haben, sind
wir moralisch verpflichtet, ihnen Zuflucht zu gewähren. Wer Georgien vor
Russland schützen will, sollte lieber direkt zum Regierungsgebäude gehen.
Alles andere ist Heuchelei.
Wie wirkt sich der Krieg auf Georgien aus?
Spätestens seit Kriegsbeginn kann die georgische Regierung nicht mehr ihr
Gesicht wahren. Gleichzeitig ist die Position der georgischen Gesellschaft
eindeutig pro-ukrainisch. Hinzu kommt, dass die Ukraine den Krieg gewinnen
wird und Russland schon jetzt beginnt, seine Satelliten zu verlieren. Das
wird Georgien Probleme bereiten. Ein Blick nach Armenien genügt. Wir beide
haben keine qualifizierten Partner.
Sind Sie wirklich sicher, dass die Ukraine den Krieg gewinnt?
Sie hat ihn bereits gewonnen, das russische System hat nicht funktioniert.
Das könnte sich auf Russland genauso auswirken, wie seinerzeit Afghanistan
auf die Sowjetunion. Wie lange das alles jedoch noch dauert und wie viele
Opfer zu beklagen sein werden, steht auf einem anderen Blatt.
Es gibt eine gewisse Kriegsmüdigkeit. Fürchten Sie, dass die Unterstützung
des Westens abnehmen könne?
Natürlich besteht diese Möglichkeit. Aber jede Regierung, die die Ukraine
unterstützt, wird dafür verantwortlich sein, dass der Krieg mit einem Sieg
für die Ukraine endet. Die Beteiligten werden aus der Nummer nicht
herauskommen. Es gibt keine Exit-Strategie.
Haben westlichen Politiker*innen Fehler gemacht?
In den vergangenen 30 Jahren wurden kolossale Fehler gemacht, vor allem in
der Beziehung zu Moskau. Nun ja, es gab lukrative Gasangebote, den Start
von Nord Stream, europäische Politiker, die Renten von Gazprom beziehen.
Aber wo war deren Verantwortlichkeit, als in Moskau Politiker und
Journalisten getötet wurden, sie aber Putin die Hand schüttelten und ihn
weiter unterstützten? Diejenigen, die nach 2008 [5][(Jahr des
Kaukasuskriegs Anm. d. R.)] in Georgien sagten, es sei noch unklar, wer den
Krieg begonnen habe. Diejenigen, die nach der Besetzung der Krim und des
Donbass immer noch mit Putin redeten. Und was ist das Ergebnis? Ein
Atomstaat, der versucht, nukleare Spannungen zu erzeugen und einen Teil
Europas zu besetzen. Wenn wir diese geopolitischen Realitäten anerkennen
und ihnen keinen Einhalt gebieten, wird das so weiter gehen.
In Deutschland bekommen Ex-Präsidenten einen Ehrensold. Kommen Sie über die
Runden?
Gamsachurdia, aber auch Schewardnadze haben seinerzeit eine Residenz
bekommen. Ich hingegen bekomme vom Staat keine Pension oder sonstigen
Leistungen, kurz gesagt: Null.
Wie das?
Bidzina Iwanischwili hat ein entsprechendes Gesetz extra so ändern lassen,
dass ich leer ausgehe.
Wovon leben Sie und Ihre Familie?
Ich habe hier ein kleines Ferienhaus gebaut, das ich an Touristen vermiete.
Ich habe 60 Buchungen im Jahr. Ich habe hier Pferdetourismus entwickelt und
zudem eine Professur an der Universität in Tbilissi. Das erlaubt mir, nicht
zu verhungern. Auch frieren müssen meine Familie und ich nicht.
Sie haben einen Sohn mit Behinderung und sind damit immer ganz offen
umgegangen. Für ein post-sowjetisches Land keine Selbstverständlichkeit.
Für mich war das eine ganz natürliche Entscheidung. Und die Leute haben
sehr positiv darauf reagiert, da kam viel Liebe und Wärme rüber. Mein Sohn
Teimur ist jetzt acht und seit Kurzem in der ersten Klasse. Das ist eine
öffentliche, wunderbare neue Schule, frisch renoviert. Dort gibt es
ausgezeichnete Lehrkräfte und er hat einen zusätzlichen Lehrer, der ihm und
anderen Kindern hilft, die Probleme mit der Eingewöhnung haben. Obwohl wir
in einer kleinen Stadt leben, würde ich sagen: absolut europäischer
Standard.
Denken Sie über eine Rückkehr in die Politik nach?
Ich habe das lange versucht und mit allen Oppositionsparteien gesprochen.
Dabei ging es um eine Vereinigung, die Schaffung einer Art dritten Zentrums
und die Radikalisierung des Prozesses. Aber ich konnte sie nicht
überzeugen. Deshalb beteilige ich mich nicht am politischen Prozess, denn
er ist eine Farce. Ich möchte in Iwanischwilis Theaterstück keine Rolle
spielen.
4 Nov 2023
## LINKS
[1] /Georgien-vor-den-Kommunalwahlen/!5807457
[2] /Oligarchie-in-Georgien/!5640382
[3] /Menschenrechte-in-Georgien/!5904446
[4] /Weitere-Verschaerfung-der-Asylpolitik/!5955883
[5] /Konflikt-zwischen-Russland-und-Georgien/!5082630
## AUTOREN
Barbara Oertel
## TAGS
Georgien
Russland
Zivilgesellschaft
Ukraine
GNS
Georgien
Georgien
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt LGBTQIA
## ARTIKEL ZUM THEMA
Georgien bekämpft NGOs und „Propaganda“: Ausländische Agenten 2.0
Die Regierungspartei Georgischer Traum will erneut ein Gesetz gegen
Nichtregierungsorganisationen durchdrücken. Die Opposition droht mit
Protesten.
Politiker-Comeback in Georgien: Oligarch meldet sich zurück
Bidzina Iwanischwili ist Gründer der Regierungspartei, Strippenzieher und
reichster Mann des Landes. Nun will er wieder offiziell in der Politik
mitmischen.
Konflikte in Ex-Sowjetrepubliken: Bald Moldau und Georgien?
Russlands Angriff auf die Ukraine wirft ein Schlaglicht auf weitere
Konflikte in der Ex-Sowjetunion. Der Westen sollte sie endlich ernst
nehmen.
Bürgermeisterkandidat in Tiflis: In Georgien verliebt
Arinze Richard Ogbunuju will ins Rathaus von Georgiens Hauptstadt ziehen.
Er ist der erste schwarze Kandidat in der Geschichte des Landes.
Homophobe Gewalt: Georgien im Schockzustand
Nach einem Angriff homophober Demonstranten auf Journalisten ist ein
Kameramann gestorben. Tausende demonstrierten am Sonntag in Tiflis.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.