# taz.de -- „Hartz IV-Rebellin“ zurück in der Linken: „Klassenfrage muss… | |
> Inge Hannemann wurde als Hartz IV-Kritikerin bekannt und verließ die | |
> Linke, weil die Partei die soziale Frage vernachlässigte. Jetzt ist sie | |
> zurück. | |
Bild: Inge Hannemann, hier auf einer Podiumsdiskussion über das Grundeinkommen… | |
taz: Frau Hannemann, jetzt in die Linke einzutreten, ist, wie ein sinkendes | |
Schiff zu betreten. Warum tun Sie es dennoch? | |
Inge Hannemann: Ich habe mir das gut überlegt, ich bin nicht die Person für | |
einen Schnellschuss. Ich habe in den letzten drei Jahren im Hintergrund mit | |
der Linken zusammengearbeitet, auch mit der Bundestagsfraktion. Jetzt habe | |
ich mich entschieden, die Linke mit meiner Person in der Öffentlichkeit zu | |
unterstützen. Gerade in Zeiten einer starken Rechten brauchen wir eine | |
starke Linke. | |
Das klingt, als könnten Sie sich vorstellen, wieder ein Amt zu übernehmen | |
oder als Abgeordnete zu kandidieren. | |
Das lassen wir alles mal offen. Erst mal bin ich wieder da. Ich werde | |
sehen, welche Aufgaben die Linke, auch der Kreisverband, für mich | |
bereithält. | |
Sie sind 2020 ausgetreten, weil die Linke die Klassenfrage über die | |
Identitätspolitik vernachlässigt habe. Warum sind Sie nicht ins [1][Bündnis | |
Sahra Wagenknecht] eingetreten? | |
Wagenknecht geht ihren Weg, ich meinen. Linke Politik kann nicht agieren, | |
ohne die Klassenfrage zu stellen. Aber die Frage ist: Wie stelle ich die | |
Klassenfrage. Mit der sozialen Frage zusammen? Das sehe ich bei der Linken, | |
nicht bei Sahra Wagenknecht. | |
Haben Sie ein Beispiel? | |
Etwa bei der Klimafrage. Wir müssen Ökologie immer mit dem Sozialen | |
verbinden. Wenn Wohnungen energetisch saniert werden, muss geklärt sein, | |
dass die Kosten nicht auf die Mieter umgewälzt werden. Das bedeutet, die | |
soziale Frage zu stellen. Wenn ich aber nur gegen Wärmepumpen oder | |
energetische Sanierungen wettere, tue ich das nicht. | |
Haben sich die Gründe für Ihren Austritt im Jahr 2020 denn mittlerweile | |
erledigt? | |
Nein, ich trete ja auch nicht hoch jubelnd wieder ein, jedoch mit der | |
Überzeugung, für eine starke Linke zu kämpfen. Die Linke ist die einzige | |
Partei, [2][die die soziale Frage in den Mittelpunkt stellt.] Sie könnte | |
das gern noch entschiedener tun. | |
Legt die Linke Ihrer Ansicht nach den Fokus noch zu stark auf das Gendern | |
oder diskriminierte Minderheiten? | |
Grundsätzlich ist Identitätspolitik schon wichtig. Wir müssen auch darüber | |
sprechen, die Frage ist nur, wie. Führen wir eine offene Debatte und hören | |
einander zu, ohne uns gegenseitig abzuwerten? Das hat die Linke inzwischen | |
gut verstanden und richtet sich an die, die sich von der Politik nicht | |
gehört fühlen. | |
Also auf die Personengruppen, derer Anliegen Sie besonders vertreten: | |
Erwerbslose und Geringverdiener*innen? | |
Ich würde den Fokus nicht nur auf Erwerbslose und Geringverdiener | |
setzen. Unzufriedenheit und Armutsängste gehen bis in die Mittelschicht. | |
Was deutet für Sie darauf hin, dass die Linke es schafft, diesen Ängsten | |
ein gutes Angebot entgegenzusetzen? | |
Die Bundestagsfraktion hat viele Anträge und Anfragen zu sozialen Themen | |
gestellt. Dass die in den Medien selten thematisiert werden, ist nicht ihre | |
Schuld, sondern liegt an der Personalie Wagenknecht. Die Partei hat sich | |
aber stark bei Bewegungen engagiert, zum Beispiel bei | |
[3][#Ichbinarmutsbetroffen] und [4][„Genug ist genug“]. Sie hat inzwischen | |
begriffen, dass warme Worte nicht reichen, und setzt das um. | |
Was muss die Linke tun, um damit wieder mehr durchzudringen? | |
Auf jeden Fall immer die Klassenfrage in den Fokus stellen – da bleibe ich | |
stur, sonst wäre ich nicht Inge Hannemann. Man muss immer fragen: Wen | |
wollen wir erreichen? Früher, mit der Agenda 2010, waren das die | |
Erwerbslosen. Das hat sich gewandelt, weil die Gesellschaft sich gewandelt | |
hat. Das Alleinstellungsmerkmal der Linken ist, dass wir als einzige die | |
soziale Gerechtigkeit in den Fokus stellen. Wir müssen alle Menschen ins | |
Boot holen, damit niemand in Armut leben muss – weder in der Rente noch im | |
Sozialleistungsbezug oder im Niedriglohnjob. | |
Sie wurden ja als Hartz IV-Rebellin bekannt. Jetzt gibt es Hartz IV nicht | |
mehr, sondern Bürgergeld. Hat sich die Lage entspannt? | |
Nicht wirklich. Die versprochene Entbürokratisierung ist nicht eingetreten. | |
Die Mär, dass Menschen ihre Jobs kündigen, um von Sozialleistungen zu | |
leben, hält sich außerdem hartnäckig. Vor allem die CDU scheint das zu | |
glauben, sie kritisiert die geplante Erhöhung um zwölf Prozent auf 563 Euro | |
für Alleinstehende. Dabei ist das natürlich Quatsch. Selbst wer für | |
Mindestlohn arbeitet, hat mehr Geld zur Verfügung als im Bürgergeldbezug, | |
weil er dann noch Anspruch auf Wohngeld und gegebenenfalls Kinderzuschlag | |
hat. Beim Bürgergeld schließt sich das aus. | |
Es sind schwierige Zeiten für eine Friedenspartei. Muss die Linke immer | |
gegen Waffenlieferungen sein, oder kann sie situativ anders entscheiden? | |
Ich bin gegen Waffenlieferungen. Aber die Weltlage ist sehr schwierig. Man | |
muss auch sehen, dass wir mit Putin einen Gegner haben, mit dem man nicht | |
reden kann. Aber die Linke hat in diesem Punkt eine klare Position: Wir | |
fordern Waffenstillstand und ernsthafte Friedensverhandlungen, statt immer | |
mehr Waffen in die Ukraine zu liefern. | |
Wie kann die Linke es schaffen, dem Höhenflug der AfD etwas entgegensetzen? | |
Gegen die AfD hilft, sich ganz klar zu positionieren. Also zu sagen, was | |
sie ist, nämlich rechtsextrem. Wir brauchen auch mehr Aufklärung. Wer das | |
AfD-Programm liest, sieht, dass es sich gegen jede soziale Maßnahme richtet | |
und soziale Rechte total einschränkt. | |
Glauben Sie, die Menschen wählen aus Unwissenheit die AfD? | |
Ich denke, dass sie das Wahlprogramm nicht lesen. Ich glaube nicht, dass | |
die Menschen nur aus Protest rechts wählen, aber sie fallen auf den | |
billigen Populismus herein. Die AfD kommt mit Halbwahrheiten daher und | |
stellt steile Thesen auf und wiederholt diese wie in der Werbung. Wenn man | |
es oft hört, kauft man das Produkt irgendwann. | |
Hat es nicht auch damit zu tun, dass viele einfach wirklich gegen | |
Flüchtlinge sind? | |
Das Flüchtlingsthema spielt eine große Rolle, auch weil es die berechtigte | |
Angst gibt, dass noch mehr Menschen um die wenigen bezahlbaren Wohnungen | |
konkurrieren. Das ist natürlich nicht den Geflüchteten geschuldet, sondern | |
dem Problem, dass wir zu wenig bezahlbaren Wohnraum haben. Auch nehmen | |
Geflüchtete niemandem den Arbeitsplatz weg, weil sie ja erst mal gar nicht | |
arbeiten dürfen, sondern dazu verdonnert sind, von Asylbewerberleistungen | |
zu leben. Aber die AfD schürt diese Ängste. Da muss ebenso mehr Aufklärung | |
her. | |
1 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Sahra-Wagenknecht/!5966594 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Schipkowski | |
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