| # taz.de -- Die Wahrheit: Caramel Crunch mit Pils | |
| > Im Café Gum, das „Central Perk“ der Wahrheit, ist mal wieder der Teufel | |
| > los. Oder es geht mit dem zu, wenn man kein ordentliches Bier mehr | |
| > bekommt. | |
| Marvin nickte mechanisch, während Raimund ihm Denkwürdigkeiten aus der | |
| Geschichte des Café Gum erzählte. Er zeigte ihm den Tisch, an dem Ernesto | |
| Cardenal 1987 um ein Haar ein autonomes Seminar gehalten hätte, und trat | |
| ehrfürchtig an den Sessel neben dem Klavier, in dem Harry Rowohlt | |
| tatsächlich einmal am Morgen nach einer Lesung gesessen, literweise Tee | |
| getrunken und geschätzt 400 Witze erzählt hatte. Marvin nickte wieder, | |
| hielt sein Smartphone hoch und machte Fotos. | |
| „Darf das Bürschlein um diese Zeit überhaupt noch in einer Kneipe sein?“, | |
| knurrte Theo. Rudi, der Blödmann, guckte pikiert, denn Marvin war sein | |
| Neffe. „Das ‚Bürschlein‘“, sagte er, „ist 22 und macht demnächst se… | |
| Abschluss in Designkommunikation!“ – „Designkommunikation oder | |
| Kommunikationsdesign?“, fragte Luis. Rudi zuckte mit den Schultern. | |
| „Irgendwas mit Computern halt.“ – „Auf jeden Fall hätte er weniger vorm | |
| Computer sitzen und mehr draußen rumrennen sollen“, motzte Theo: „Ein | |
| richtiger Junge muss Fußball spielen, auf Bäume klettern und sich beim | |
| Runterfallen auch mal den Arm brechen, sonst wird er ewig wie ein | |
| Zehnjähriger aussehen.“ | |
| Rudi hatte Petris, Wirt des Café Gum, davon überzeugt, dass es so nicht | |
| weitergehen konnte. Meist saßen abends nur wir und einige andere einsame | |
| Seelen in seinem Laden, und die paar Kröten, die er damit verdiente, | |
| reichten kaum für die Miete. „Irgendwann wirst du das Gum für immer hinter | |
| dir zuschließen, und dann geht hier Starbucks rein und Ende!“, hatte Rudi | |
| gesagt. | |
| Marvin sollte die Rettung sein. „Der Junge“, strahlte Rudi, „wird den Lad… | |
| in den sozialen Medien groß rausbringen!“ – „Soziale Medien, pah“, fau… | |
| Theo verächtlich: „Das hier ist ein soziales Medium!“ Er schlug mit der | |
| flachen Hand auf die Theke. „Eine wahre Theke, wo wirkliche Menschen | |
| wichtige Dinge erörtern!“ – „Zum Beispiel die widerrechtliche Räumung d… | |
| besetzten Hauses in der Agnesstraße anno 83“, sagte Luis mit gespieltem | |
| Gähnen, denn es handelte sich um Theos Lieblingsthema, das wir bestimmt | |
| schon 555-mal durchgekaut hatten. „Jungs, das wird super!“, sagte Raimund, | |
| als er mit Marvin an die Theke zurückkam. | |
| Zum Abschluss machte Rudis Neffe ein Foto mit Petris und uns, auf dem wir | |
| so kantig und schwarzweiß wirkten wie Alexis Sorbas und seine Kumpane, und | |
| daher war es schade, dass das Foto nicht in der Bilderstrecke enthalten | |
| war, die ein paar Tage später online ging – dass überhaupt das Gum nicht | |
| wiederzuerkennen war, da Marvin die Aufnahmen so stark bearbeitet hatte, | |
| dass Petris’ Kneipe aussah wie ein glattgebügeltes Serienprodukt, in dem | |
| die Getränke mit Haselnuss- oder Vanillesirup aufgegossen und mit | |
| Extra-Caramel-Crunch versehen wurden und man nur mit viel Glück etwas | |
| kriegen konnte wie ein Pils. Und nur unter der Tarnbezeichnung „Gr Cld Brw | |
| Lght Foam“. | |
| 1 Nov 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Joachim Schulz | |
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